Was geschah mit dem Parlament während des Nationalsozialismus?
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Was macht ein antidemokratisches System mit einem Gebäude, das als Symbol für Demokratie und Parlamentarismus steht? Was geschah während des Nationalsozialismus mit dem Hohen Haus am Ring? Was passierte mit den ehemaligen Abgeordneten? Und wie ging es nach dem Krieg weiter?
Darüber sprechen unsere Hosts Stefanie Schermann und Tobias Leschka in der aktuellen Folge unseres Podcasts „Parlament erklärt“ mit der Historikerin Verena Pawlowsky. Die neue Folge ist Teil unserer Reihe zur Geschichte des Parlamentarismus in Österreich.
© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Transkription
Verena PAWLOWSKY: Das ist ja eine sehr spannende Frage: Was macht ein antidemokratisches System mit einem Gebäude, das absolut als Symbol für Demokratie und Parlamentarismus steht?
Stefanie SCHERMANN: Willkommen zurück zu einer neuen Folge "Parlament erklärt" – dem Podcast des österreichischen Parlaments. Heute sprechen wir über das Parlament im Nationalsozialismus. "Aber halt!", werden Sie jetzt vermutlich denken: Gab es denn überhaupt Parlamentarismus in der Zeit der Nazi-Diktatur? Diese Frage und einige mehr beantwortet uns die Historikerin Verena Pawlowsky. Mein Name ist Stefanie Schermann ...
Tobias LESCHKA: ...und ich bin Tobias Leschka. In unserer heutigen Folge sprechen wir mit Frau Pawlowsky. Sie wird uns unter anderem erklären, was mit dem Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße passierte, als Adolf Hitlers Truppen in Österreich einmarschierten, wofür es während des Krieges genutzt wurde und wieso es in der Nachkriegszeit in den Nationalratssitzungssaal hineinregnete.
***** JINGLE *****
SCHERMANN: Liebe Frau Pawlowsky, stellen Sie sich doch bitte kurz vor!
PAWLOWSKY: Ja, mein Name ist Verena Pawlowsky, ich bin Historikerin und freiberuflich in Wien tätig und habe in den letzten Jahren sehr viel geforscht und publiziert zu Fragen der Restitution der Arisierung, des Vermögensentzugs von verschiedenen Einrichtungen. Und in diesem Zusammenhang habe ich 2015 mit zwei Kollegen, mit Ina Markova und Bertrand Perz, den Auftrag vom Parlament bekommen, die Geschichte des Parlaments/des Parlamentsgebäudes in der NS-Zeit zu untersuchen.
LESCHKA: In unserer letzten Folge haben wir gehört, dass das Parlament war schon während der Ersten Republik nur mehr ein Schatten seiner selbst. Es gab ein sogenanntes Scheinparlament, das keine politische Entscheidungskraft hatte. Ab 1938 war allerdings auch das Geschichte. Das Parlamentsgebäude stand also quasi leer, als die Nazis die Macht übernahmen. Was konnten Sie und Ihre Kollegen da denn noch erforschen?
PAWLOWSKY: Ja, also ein Buch zu schreiben oder eine Studie zu machen über ein Gebäude, das als Parlament genützt wird in einer Zeit, in der es das Parlament nicht gab, ist natürlich einerseits eine Herausforderung und andererseits ist es anders, als wenn man sonst bei Betrieben oder Institutionen die Geschichte der NS-Zeit aufarbeitet, weil hier gibt es sozusagen keine Geschichte des Parlamentarismus in der NS-Zeit. Das heißt, wir haben uns vor allem angeschaut, wie die neuen Machthaber dieses Gebäude benützt haben. Und die Hauptfrage war eigentlich, wie sie es integrieren konnten in ihre Ideologie, in ihr Konzept und in ihren Antiparlamentarismus. Das ist ja eine sehr spannende Frage: Was macht ein antidemokratisches System mit einem Gebäude, das absolut als Symbol für Demokratie und Parlamentarismus steht?
SCHERMANN: Zweifellos eine gute Frage! Was passierte also im Parlament? Abgeordnete tagten ja nach dem sogenannten "Anschluss" nun nicht mal mehr zum Schein darin.
PAWLOWSKY: Ja also es wurde, um das kurz zusammenzufassen, im ersten Monat nach dem "Anschluss" von Josef Bürckel, der damals als Beauftragter des Führers für die Volksabstimmung in Österreich eingesetzt war, benutzt. Dann war diese Volksabstimmung am 10. April 1938 und danach wurde Bürckel als Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich eingesetzt und er hat dieses Haus weiterbenutzt. Das heißt, er war dort als Reichskommissar tätig. Das war er bis 1940 und das Reichskommissariat ist dann abgeschafft worden und er wurde dann in seiner Funktion als Gauleiter und als Reichsstatthalter von Schirach, Baldur von Schirach, abgelöst und Baldur von Schirach hat das Parlamentsgebäude im Sommer 1940 zum Gauhaus erklärt. Also Gauhaus heißt Sitz der Wiener NSDAP.
LESCHKA: Bei der Volksabstimmung zum "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich stimmten 99,6 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher mit "Ja". Aber nur zum Schein: Der Volksentscheid fand nämlich keinesfalls unter Wahrung der demokratischen Prinzipien statt.
SCHERMANN: Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden etwa von vornherein davon ausgeschlossen. Die politischen Gegner des Nationalsozialismus ebenfalls. Für beide Gesellschaftsgruppen war kein Platz unter der Nazi-Tyrannei.
LESCHKA: Was mit ehemaligen Abgeordneten passierte, die dem neuen Regime ein Dorn im Auge waren, ist ganz unterschiedlich. Viele Abgeordnete konnten schon im autoritären Ständestaat ihr Amt nicht mehr ausüben, viele davon flohen bereits damals ins Ausland. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß hatte schon ab 1933 autoritär regiert und die Sozialdemokratische Partei 1934, aber eigentlich auch alle anderen Parteien verboten. Einzig die Vaterländische Front blieb als Einheitspartei bestehen.
SCHERMANN: Die ehemaligen Abgeordneten, die auch während der Machtübernahme Hitlers noch in Österreich weilten, hatten ganz unterschiedliche Schicksale. Viele von ihnen waren der Verfolgung durch das Regime ausgesetzt und endeten in Konzentrationslagern.
LESCHKA: Andere lebten zwar unter Beobachtung der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei. Ansonsten blieben sie aber relativ unbehelligt von den Nazis. Unter ihnen etwa Karl Renner, der nach dem Krieg zunächst Staatskanzler und dann Bundespräsident von Österreich war.
SCHERMANN: Aber nun zurück zum Parlamentsgebäude an der Ringstraße, dass nun Sitz der NSDAP war, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Wie nutzten die NS-Funktionäre das Gebäude?
PAWLOWSKY: Ich denke, das Spannende ist die Frage der Öffentlichkeit in einem Parlament, die ja immer durch die Volksvertretung gegeben ist. Also es kommen ja nicht Menschen von außen einfach so in das Parlament, sondern sie werden dort als Wähler und Wählerinnen vertreten durch die Abgeordneten der Parteien. Und wenn man sich dieses Haus in der NS-Zeit anschaut, dann fällt auf, dass es extrem viel besucht und benutzt wurde. Man konnte zwar auch nicht einfach so hineingehen, es gab Barrieren, es gab die SA und die SS, die die Wache gestellt haben, aber es gab dort enorm viele Veranstaltungen. Also ich konnte einen ganzen Veranstaltungskalender rekonstruieren: Von Appellen, die in den großen Sälen stattgefunden haben, über Schulungen, über kleinere Gruppen, die sich da getroffen haben und sehr viel über Landwirtschaft hat dort stattgefunden. Also es gab sogar zum Beispiel Fechtveranstaltungen, Wettbewerbe in der Säulenhalle, also dort sind sehr viele Personen ein und ausgegangen, zu Parteiveranstaltungen. Und wenn man sich jetzt überlegt, was für ein zum Beispiel männliches Gebilde ein Parlament bis dahin auch war, muss man absurderweise sagen, dass in der NS-Zeit wahrscheinlich die meisten Frauen in diesem Haus ein- und ausgegangen sind, ja, auch als Mitarbeiterinnen und das ist eine Veränderung, die will ich jetzt überhaupt nicht werten oder so, aber man muss es sich vergegenwärtigen und anschauen.
LESCHKA: Wie kam es gegen Kriegsende zur Räumung des Gebäudes? Flohen die Mitglieder der Nazi-Partei, als 1945 klar wurde, dass das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg verlieren würde?
PAWLOWSKY: Also es war weniger die drohende Niederlage des Deutschen Reiches als der Krieg ganz allgemein. Also man hat ja viele Personen aus Wien evakuiert, das heißt die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Gauleitung sind schon zum Teil 1944 abgezogen worden. Es gab Bombengefahr. Das heißt, es mussten im Haus auch – das war ja schon sogar vor dem Krieg – mussten Einrichtungen geschaffen werden, um Menschen gegen den Luftkrieg sicher unterzubringen. Das war im Parlament übrigens so, dass man dort einfach die Lüftungsanlage des Parlaments benutzt hat. Also da gab's zwei große Tunnel, die für die Lüftungsanlage zuständig waren oder im Keller schon vorhanden waren und die hat man umgebaut als Luftschutzkeller. Und die Menschen wurden weniger. Also die Männer sind eingezogen worden, die Abteilungen sind immer kleiner geworden und als dann auch diese Evakuierungen stattgefunden haben, ist eigentlich der ganze Apparat zusammengeschmolzen auf ein kleines Grüppchen. Also von dieser rauschhaften, intensiven Nutzung des Hauses in den Anfangsmonaten des Deutschen Reiches in Österreich ist da überhaupt nichts mehr zu sehen und am Schluss war da ein eher leeres Gebäude übrig und auch Schirach hat sich in den letzten Wochen dann mehr und mehr in seine Privatwohnung, seine Privatvilla, zurückgezogen mit seinem Stab und war selten anwesend in der Innenstadt. Das Parlament ist auch getroffen worden, es ist insgesamt zweimal getroffen worden, also an zwei Tagen insgesamt hat es drei Einschläge gegeben in dem Gebäude. Es gab auch Brände, wobei diese Brände nur zum Teil von den Bomben herrühren und zum Teil auch entstanden sind, weil die letzten Parteigänger dort Material verbrannt haben, in den Gängen.
LESCHKA: Der nationalsozialistische Staat war eine faschistische Diktatur, in der es weder Parteien noch Wahlen oder ein Parlament gab. Es gab keinerlei demokratischen Institutionen und Prozesse, wie etwa die Gewaltenteilung. Das sollte sich 1945 wieder ändern. Was passierte nun mit dem österreichischen Parlament, als klar wurde, dass der Krieg vorbei ist?
PAWLOWSKY: Nachdem das Parlament dann von amerikanischen Bomben getroffen war und zu einem wesentlichen Teil zerstört war, war es doch nach dem Krieg eine Ikone – eine Ikone des Wiederaufbaus und des wieder entstehenden und entstandenen Parlamentarismus. Und das zeigt sich auch daran, dass schon Ende April die Regierung Renner, die sich zuerst im Rathaus getroffen hat, dann in einem auch fotografisch dokumentierten Marsch zum Parlament begeben hat und dort ganz offiziell dieses Haus vom sowjetischen Stadtkommandanten übergeben und übertragen bekommen hat. Und in dem Gebäude, das halb zerstört war, hat diese Regierung Renner ihre erste Sitzung abgehalten und die erste Sitzung des neugewählten Nationalrats im Dezember desselben Jahres hat dann auch im Parlamentsgebäude stattgefunden. Die Wiederherstellung dieses Gebäudes hat dann doch bis 1956 gedauert, eine sehr langwierige, sehr aufwendige Wiederherstellung, wo man darauf geschaut hat, dass außen alles so geblieben ist, wie es war. Das ist ja auch dasselbe, wie man da bei der Oper vorgegangen ist, also außen das alte Gebäude, innen, dort wo es sehr zerstört war, hat man sich für eine neue Herstellung entschieden. Und dieses Nebeneinander von funktionierendem Parlamentarismus im Haus und Renovierung hat ja doch immerhin zehn Jahre gedauert, also man muss sich vorstellen, dass dieser Saal, der kleinere, der heutige Nationalratssitzungssaal, keine Decke hatte. Und er hat nicht einmal eine Notdecke gekriegt, weil das zu groß war, man hat einfach den Boden asphaltiert, und hat dort fast zehn Jahre lang den Regen, den Schnee und alles hineingelassen, und hat auf der anderen Seite Parlamentarismus gelebt.
SCHERMANN: Damit sind wir nun schon fast wieder am Ende unserer heutigen Folge. Falls Sie nun neugierig geworden sind, was zur Zeit des Nationalsozialismus im österreichischen Parlament noch alles passiert ist, haben wir einen Buchtipp für Sie!
LESCHKA: Im 2018 erschienen Buch "Inbesitznahmen. Das Parlamentsgebäude in Wien 1933 bis 1956" geht es nämlich genau darum. Verena Pawlowsky untersuchte gemeinsam mit einem Kollegen und einer Kollegin vom Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien, wie das Parlament zwischengenutzt wurde. Zum Abschluss lassen wir sie noch einmal zu einem unerwarteten Aspekt zu Wort kommen, über den sie bei ihrer Forschung gestolpert ist.
SCHERMANN: Ansonsten hören wir uns in zwei Wochen wieder. Dann geht unsere Serie zum Parlamentarismus in Österreich weiter! Wir sprechen mit Werner Zögernitz über die Nachkriegszeit. Mit dem Ende der Nazi-Diktatur lag es beim Parlament, die österreichische Demokratie wieder aufzubauen.
LESCHKA: Zu guter Letzt, wie immer: Falls Sie Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen haben, schreiben Sie uns einfach unter podcast@parlament.gv.at. Jetzt kommt aber noch einmal Frau Pawlowsky zu Wort! Ansonsten hoffentlich bis in zwei Wochen – wir freuen uns auf Sie! Ciao!
SCHERMANN: Tschüss!
PAWLOWSKY: Was vielleicht ebenfalls interessant ist, ist, dass es ja ein eigener Kosmos war und ja auch heute ist. Also es gab im Parlament viele Einrichtungen, die man – nämlich, jetzt meine ich vor dem Anschluss - die man überhaupt nicht mit dem Parlamentarismus verbinden würde. Es gab Dienstwohnungen im Haus. Also es lebten einige Leute da. Es gab eine Badeanlage. Es gab ein Restaurant, es gab eine Trafik, es gab ein Postamt und es gab eine Friseurin. Das ist auch eine interessante Geschichte, es gab eine Frau, die sich um die Bärte der Abgeordneten gekümmert hat.