Neue Vielfalt, Polarisierung und Europa: Das Parlament in den 90ern
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Der EU-Beitritt, die erste Dritte Nationalratspräsidentin, eine neue Fraktion im Hohen Haus – was prägte das Parlament in den 1990er-Jahren? Und wie veränderte sich die politische Kultur in diesem Jahrzehnt? Darüber sprechen unsere Hosts Stefanie Schermann und Tobias Leschka in der aktuellen Folge unseres Podcasts "Parlament erklärt" mit der früheren FPÖ-Politikerin und späteren Mitbegründerin des Liberalen Forums, Heide Schmidt. Die neue Folge ist Teil unserer Reihe zur Geschichte des Parlamentarismus in Österreich.
© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Heide SCHMIDT: Es war eine Belebung des Parlamentarismus. Das ist meine sichere Überzeugung. Ungeachtet dessen, dass ich natürlich als unmittelbar Betroffene befangen bin. Aber das haben mir viele der Kolleginnen und Kollegen nicht nur damals bestätigt, sondern bestätigen es mir bis heute.
Tobias LESCHKA: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Parlament erklärt". In unserer heutigen Episode zur Geschichte des Parlaments sprechen wir über die Zeit der 1990er-Jahre. Mein Name ist Tobias Leschka ...
Stefanie SCHERMANN: ... und ich bin Stefanie Schermann. Auf unserer Reise durch die Geschichte des österreichischen Parlaments sprechen wir heute mit der ehemaligen Parteigründerin und ersten Dritten Nationalratspräsidentin, Heide Schmidt.
***** JINGLE *****
LESCHKA: Lieber Frau Schmidt, stellen Sie sich unseren Zuhörerinnen und Zuhörern bitte zunächst einmal kurz vor!
SCHMIDT: Ich bin 1987 als Bundesrätin angelobt worden und 1990 bin ich in den Nationalrat gewechselt und gleich mit Antreten im Nationalrat wurde ich über Vorschlag der Freiheitlichen Partei zur dritten Parlamentspräsidentin gewählt. Ich bin dann bis 1999 als Abgeordnete im Parlament gewesen, dann als liberale Abgeordnete, das wird wohl später Thema sein, und im Oktober 1999 bei der Nationalratswahl ist das Liberale Forum nicht wiedergewählt worden, und seither habe ich es verlassen.
LESCHKA: Es soll hier zwar um die 1990er-Jahre gehen, aber beginnen wir mit Ihrer Tätigkeit im Bundesrat Ende der 80er-Jahre. Wie war das damals in der Länderkammer, wie war das politische Umfeld?
SCHMIDT: Der Bundesrat hat von der Verfassung her einen ganz konkreten Auftrag. In der Praxis führt er ein Schattendasein. Er ist für viele so die erste Gehschule für parlamentarisches Prozedere und wahrscheinlich war es das für mich auch. Und für mich war das insofern eine Besonderheit als ich als freiheitliche Bundesrätin angelobt wurde und ich war die erste freiheitliche Bundesrätin. Der Bundesrat war bis dahin nur von der ÖVP und der SPÖ beschickt und dann kam auf einmal eine Einzelne aus einer anderen Partei dazu. Das hat dort schon einen kleineren Kulturschock ausgelöst. Und ich entsinne mich sehr gut nach meiner ersten Rede. Es gab damals noch die Übung, ich weiß nicht, ob es die heute noch gibt, dass bei der sogenannten "Jungfernrede" – das waren die jeweils ersten Reden, die ein Abgeordneter gehalten hat – nicht nur das gesamte Plenum Applaus gespendet hat, sondern das war ein sehr amikales Verhältnis. Und als freiheitliche Abgeordnete konnte man zwar nicht auf die Freundschaft der anderen zählen, aber nach meiner ersten Rede kam ein ÖVP-Abgeordneter zu mir - ich hatte eine kritische Rede zur EU gehalten (damals EG) und die Kritik richtete sich nicht gegen die EG sondern gegen die Koalitionsparteien und da kam ein ÖVP-Abgeordneter zu mir und hat mir so väterlich auf die Schulter geklopft und hat gesagt: "Weißt, es war in Ordnung, war schon alles gut, aber das sind wir hier nicht so gewöhnt, dass man so kritisch redet." Das wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich sehe sein Gesicht noch vor mir, aber ich gestehe, ich habe seinen Namen vergessen. Es ist nicht nur eine Anekdote, sondern es ist auch ein Zeichen wie sich der Bundesrat selbst auch verstanden hat. Also nicht als eine Kontrollkammer, dir er eben als parlamentarische Kammer auch zu sein hat, sondern als ein Baustein, den es einfach in der Gesetzgebung gibt und den man halt abarbeitet.
LESCHKA: Im Anschluss sind Sie also in den Nationalrat gewählt worden. Welche grundlegenden Veränderungen brachte denn diese neue Aufgabe mit sich?
SCHMIDT: Ich bin 1990 in den Nationalrat gewählt worden und die Usance dabei ist ja, dass die drei stärksten im Parlament vertretenen Parteien ein Vorschlagsrecht für den Ersten, Zweiten und Dritten Nationalratspräsidenten haben. Und damals hatte die Freiheitliche Partei ja dazugewonnen, dass sie einen Vorschlag für den Dritten Präsidenten machen konnte – war vorher übrigens auch schon. Aber jedenfalls als ich da war, und obwohl ich noch keinen Tag im Nationalrat verbracht hatte, sondern nur im Bundesrat, wurde ich vorgeschlagen. Ich habe ganz knapp das Quorum erreicht. Im Übrigen habe ich mir nachher gedacht, diese Bescheidenheit, die viele haben und sagen, man kann sich doch nicht selber wählen, die wäre mir damals zum Verhängnis geworden. Weil hätte ich mich nicht selber gewählt, hätte ich wahrscheinlich das Quorum gar nicht erwischt. Aber das ändert nichts daran, dass ich das für eine richtige Gepflogenheit finde. Wobei es schon auch darauf ankommt, wer die vorgeschlagenen Personen sind. Das ist keine Automatik und das war damals auch noch keine Automatik. Später dann hatte es in den 90er-Jahren von den Freiheitlichen den Vorschlag gegeben, jemanden zu wählen, der gerade vorher Positionen vermittelt hat durch ein Treffen am Ulrichsberg in Kärnten, wo sich ja immer auch Alt-Nazis und ähnliche Menschen getroffen haben. Daher war die Mehrheit im Parlament der Meinung, das wäre nicht der geeignete Mensch in einem Nationalratspräsidium und daher gab es auch tatsächlich interne Gespräche, doch jemand anderes vorzuschlagen, was dann auch passiert ist. Und es wurde dann ein Abgeordneter der Freiheitlichen Partei gewählt, aber eben nicht der ursprünglich Vorgesehene. Und das scheint mir eine wichtige Erinnerung zu sein, dass das keine Automatismen sind, sondern dass es jeweils auf die Person ankommt, ob sie dann ein Grundvertrauen einer Mehrheit bekommen kann. Ich hatte dieses Grundvertrauen, wenn auch knapp, und das hat auch dazu geführt, dass mir das so bewusst geworden ist, dass man eben zwar von einer Partei vorgeschlagen ist, aber dass die eigene Verantwortung und auch das eigene Profil letztlich eine wesentliche Rolle spielt. Und das ist auch für die weitere Parlamentsgeschichte für mich von Relevanz und ist im Übrigen auch hoch relevant bis zum heutigen Tag. Nicht nur für das Parlament, sondern für sämtliche Vorschlagsrechte, die Parteien haben oder auch die Bundesregierung oder andere Institutionen haben, dass das keine Automatismen sind, wo es dann ganz egal ist wer vorgeschlagen wird, sondern dass es einen Zusammenhang zwischen der Person und dem Vorschlagsrecht gibt und dass man das auch mit der entsprechenden Verantwortung so übernehmen muss.
SCHERMANN: Kurz zur Erklärung: In der Praxis schlagen die drei größten Fraktionen im Nationalrat die Kandidaten für das Amt der Nationalratspräsidenten und -präsidentinnen vor. Die Vorgeschlagenen brauchen dann aber eine Mehrheit im gesamten Plenum und theoretisch könnte jeder Abgeordnete, ganz unabhängig von den Vorschlägen, gewählt werden. Es geht also um das Vertrauen der Mehrheit.
SCHMIDT: Das war bei mir der Fall und hat auch mein persönliches Verantwortungsgefühl durchaus unterstrichen. Und dieser Zusammenhang Vorschlagsrecht der Partei einerseits aber auch persönliche Verantwortung andererseits, das findet sich ja auch wieder im Spannungsverhältnis, ein freies Mandat als Abgeordnete zu haben, obwohl man auf der Liste einer politischen Partei gewählt ist. Und dieses Verständnis ist glaube ich gar nicht so einfach zu vermitteln, denn die Bürgerinnen und Bürger glauben, wenn das ein SPÖ- oder ÖVP- oder FPÖ-Abgeordneter ist, dann ist er sozusagen ein Teil der Partei, was ja stimmt, aber hat kaum einen persönlichen Spielraum in seinem Denken und Entscheiden – und das ist falsch. Das ist eine Frage wie es gehandhabt wird. Und ich war ja dann später, ich bin ja Anfang 1993 aus der FPÖ ausgetreten und habe eine eigene Fraktion gegründet und eine eigene Partei, das Liberale Forum, und weiß daher durchaus, wovon ich rede, wenn ich sage, es ist immer das Bedürfnis von Klub-Chefs oder auch Partei-Chefs und -Chefinnen, ein einheitliches Bild nach Außen zu vermitteln. Und das hat auch einen Sinn, denn die Bürgerinnen und Bürger wollen ja wissen, wofür steht die Partei, die ich dann wähle. Aber bei all diesen Dingen ist es immer eine Frage des Augenmaßes und der Vereinbarkeit mit der persönlichen Verantwortung. Daher dieser Begriff des Klubzwangs, der für viele Menschen so aufgenommen wird, als wäre das geschriebenes Gesetz. Das ist nichts weiter als eine Usance, eine Usance, die ich als ehemalige Klubchefin verstehe, weil wir auch immer und ich auch immer versucht habe, ein einheitliches Abstimmungsverhalten zu erreichen, aber ich habe immer auch Verständnis dafür gehabt, wenn jemand eine abweichende Meinung auch zum Ausdruck bringen wollte und zwar nicht nur in der Klubsitzung, sondern dann auch im Abstimmungsverhalten. Ich gebe zu, das war sehr selten aber das gab es. Und das gehört auch zum Parlamentarismus dazu, denn wenn ich meine Verantwortung an den Klub-Chef delegiere dann brauche ich nicht einmal mehr dort zu sein, dann erübrigt sich alles. Und das ist deswegen so wichtig bis heute, weil nicht nur das parlamentarische Verhalten jetzt auch eine ganz andere Buntheit uns zeigt als das noch zu meiner Zeit war, sondern auch im Zusammenhang mit der jetzt ins Gerede gekommenen Entsendung von Richtern, Verfassungsrichtern, Aufsichtsräten und ähnlichem, wo das Entsendungsrecht der Partei umdefiniert wird von den Parteien selbst, als hätte man Anspruch darauf, dass jetzt im Sinne der Partei künftig entschieden würde. Und das ist ein grundlegender Fehler. Sowohl Aufsichtsräte als auch erst recht Richterinnen und Richter dürfen gar nicht im Sinne der Partei entscheiden, die sie entsendet hat. Und das muss man erstmal begreifen, sowohl als Entsendete als auch als Bürgerinnen und Bürger. Und deswegen, wenn jetzt so im Gespräch war, dass bestimmte Verfassungsrichter von der Partei A und B entsendet wurde und dann die Partei quasi in Klammer gesetzt wird, das vermittelt so das Gefühl "wir haben Anspruch auf Rechtsprechung in unserem Sinn". So ist es eben nicht. Die Verfassung sieht eine Unabhängigkeit vor und ein Entsendungsrecht ist erschöpft wenn die Person entsendet wird und das war es.
SCHERMANN: Wie waren denn die Fraktionen innerhalb des Nationalrats aufgeteilt und wie stand es um die allgemeine Stimmung?
SCHMIDT: Ich habe als dritte Nationalratspräsidentin begonnen als wir ein Vier-Parteien-Parlament waren. ÖVP, SPÖ, Grüne und die Freiheitliche Partei. Die SPÖ und ÖVP hatten die meiste Zeit der Zweiten Republik als große Koalition hinter sich und haben ihre Größenordnung auch entsprechend eingesetzt und vermittelt, also die Oppositionsparteien, ob das nun die Freiheitlichen oder die Grünen waren, hatten wirklich nicht allzu viel zu melden. Insofern war es für mich ein sehr demokratisches Erlebnis, zu sehen, wie ich als dritte Nationalratspräsidentin im Präsidium aufgenommen wurde. Der Erste Präsident war Heinz Fischer, der Zweite Präsident war Robert Lichal und die Dritte war ich. Und ich muss wirklich sagen, dass dieses Miteinander von uns dreien ein Miteinander auf Augenhöhe war, und dass man mich nicht hat spüren lassen, dass ich nur von der kleinen Fraktion der Freiheitlichen bin. Das lag aber glaube ich wirklich an uns drei handelnden Personen. Ich habe mich auch mit der Verantwortung einer Dritten Nationalratspräsidentin hoffentlich vermittelt und so wurde ich dann auch von den anderen angenommen. Und dieses Kollegium war ein, wie ich glaube, sehr konstruktives. Im Parlament, im Plenum, war es für mich als Freiheitliche kein Problem, die Sitzungen zu leiten. Das Problem kam dann, als ich aus der Freiheitlichen Partei ausgetreten bin, das Liberale Forum gegründet habe und nun eine fünfte Fraktion im Parlament war und ich noch dazu meine Funktion als dritte Parlamentspräsidentin behalten habe. Das haben die Freiheitlichen als unkorrekt empfunden. Ich bin bis heute überzeugt, dass das demokratiepolitisch richtig war und zwar einfach deshalb, weil eben eine Partei nichts weiter als ein Vorschlagsrecht hat, aber kein Eigentumsrecht für die Person. Und das hat mir das Leben manchmal sehr schwer gemacht als Vorsitzführende, weil die Freiheitlichen durchaus nicht nur Respektlosigkeit, sondern auch das eine oder andere Mal eine kleinere Störaktion gemacht haben, indem sie polemisiert haben, dass da oben jemand sitze, dem das nicht zustehe. Das ist nicht ganz einfach dann zu versuchen, über den Dingen zu stehen. Das war nicht so häufig zugegebenermaßen, aber es ist vorgekommen und ich habe gewusst, es kann jederzeit vorkommen, was nichts daran ändert, dass es im Großen und Ganzen funktioniert hat. Und ich glaube, dass es eine ganz gute Schule war, dass man sich an Weiterentwicklungen gewöhnt, sowohl das Plenum als auch die betroffenen Personen.
LESCHKA: Sie haben also eine neue Fraktion und im weiteren Schritt auch eine neue Partei gegründet – das Liberale Forum. Bestand diese dann ausschließlich aus ehemaligen FPÖ-Abgeordneten?
SCHMIDT: Die Gründung des Liberalen Forums hatte inhaltliche Gründe. Es war die Zeit, als die sogenannte "Ausländerfrage" in Österreich eine sehr große Rolle gespielt hat. Eine fast größere als heute, wiewohl die objektiven Anlässe bei weitem nicht vergleichbar sind mit den heutigen. Aber der Jörg Haider, der Parteichef der Freiheitlichen Partei, hat dieses Thema als Emotionsthema entdeckt und als Instrumentalisierungsthema entdeckt. Und hat daher auch ein Volksbegehren einleiten lassen, wo es darum ging, eine Begrenzung der Einwanderung in Österreich zu erreichen. Und die einzelnen Punkte waren nicht einmal von so großer Relevanz, als die Botschaft. Und die Botschaft war gegen Ausländer gerichtet. Und das hat dazu geführt, dass es innerhalb des Landes und auch innerhalb des Parlaments eine große Polarisierung gegeben hat und diese Polarisierung hat dazu geführt, dass ich mit ein paar Kollegen gesagt habe, das ist nicht mehr unsere Partei. Und nicht nur weil wir halt nicht in allem einer Meinung sind, sondern weil es auch eine demokratiepolitisch gefährlichen Weg geht, den wir nicht nur nicht mitgehen wollen, sondern dem wir was entgegensetzen müssen. Und nachdem die Geschäftsordnung des Parlaments vorsieht, wenn fünf Abgeordnete sich zusammenschließen, dann können sie einen Klub bilden – ein Klub wiederum bedeutet, dass man eine Grundfinanzierung für die Infrastruktur im Parlament hat, das heißt man kann auch tatsächlich arbeiten – und das war dann unsere Überlegung zu sagen, wir gründen einen eigenen Klub, um mit dem Auslöser des Ausländervolksbegehrens – es gab auch andere Gründe – aber einen neuen Weg einzuschlagen. Und dann ging es darum, ob das auch tatsächlich akzeptiert wird, eine neue Fraktion zu gründen. Das war eine Aktion von der wirklich vorher niemand etwas gewusst hat. Wir haben dann einfach eine Pressekonferenz gemacht und das veröffentlicht und am nächsten Tag habe ich als designierte Klubvorsitzende der neuen Fraktion einen Brief an den Nationalratspräsidenten geschrieben, denn das Prozedere ist so, dass man anmeldet, einen Klub gegründet zu haben und das daher dann vom Parlamentspräsidenten akzeptiert werden muss und er die Parlamentsdirektion anweist, entsprechende Gelder für uns zu überweisen. Das ist geschehen, aber nicht so sang und klanglos, denn das hat natürlich bei den anderen Fraktionen Widerspruch hervorgerufen. In erster Linie bei der freiheitlichen Fraktion logischerweise. Anfangs bei den anderen nicht, aber als sie gesehen haben, dass hier eine neue politische Konkurrenz heranwächst, haben auch die anderen Parteien plötzlich Bedenken gehabt, ob das denn möglich sei. Das Ergebnis war, dass die Parlamentspräsidiale und der damalige Präsident Heinz Fischer fünf Rechtsgutachten eingeholt hat, um festzustellen, dass diese Klubgründung zulässig ist. Nachdem von diesen fünf Gutachten vier das Ganze bejaht haben, jenes das die Freiheitliche Partei eigentlich eingebracht hat, nämlich der Rechtswissenschaftler war von ihr nominiert worden und er hat gemeint, das wäre nicht möglich, eben bei dieser Sachlage war es für Heinz Fischer selbstverständlich. Denn es war auch seine rechtliche Überzeugung, dass die Fraktion zulässig ist und er hat daher das akzeptiert. Die Freiheitliche Partei mit Jörg Haider ist daraufhin zum Verfassungsgerichtshof gegangen um das zu beeinspruchen, aber auch der Verfassungsgerichtshof hat Heinz Fischer recht gegeben und ab diesem Zeitpunkt war das Parlament zum ersten Mal ein Fünf-Parteien-Parlament. Ich glaube, dass das dem Parlament gut getan hat, ich glaube, dass es der Gesellschaft gut getan hat und das war auch die Voraussetzung dafür, dass es zum Beispiel heute die NEOS im Parlament gibt.
SCHERMANN: Brachte die neue Aufteilung der Machtverhältnisse im Parlament große Veränderungen mit sich?
SCHMIDT: Ich glaube es hat sich im Parlament selbst insofern etwas verändert, als dass die Debatte eine andere Bandbreite bekommen hat. Denn die fünf Abgeordneten, die von den Freiheitlichen weggegangen sind und den Klub Liberales Forum gegründet haben, haben sich zwar nicht verändert und haben ihre Meinungen auch schon vorher artikuliert, aber die Themenlage war eine solche, dass man jetzt auf einmal viel pointierter und viel klarer manche Positionen vertreten konnte, weil man nicht mehr Kompromisse machen musste mit der alten Partei, die in vielen Dingen andere Meinungen hatte. Das betraf sowohl den Weg zur Europäischen Gemeinschaft, denn auch hier hatte die Freiheitliche Partei einen höchst kritischen Weg relativ plötzlich eingeschlagen. Das deckte sich nicht mit der bisherigen Meinung und vor allem nicht mit der Meinung der Liberalen. Wir konnten daher in diesen Fragen ganz andere kritische Punkte einbringen, die aber trotzdem das Ziel hatten, dass Österreich der Europäischen Gemeinschaft beitritt. Das ist etwas ganz anderes, ob ich kritische Punkte mit einem anderen Ziel einbringe, denn die Kritikpunkte werden anders formuliert und sie werden auch anders ausgewählt. Also ich glaube, dass unsere Position hier eine ganz wichtige für die allgemeine Debatte war, denn die große Koalition hat nicht sehr viel Kritisches eingebracht, denn die hatte sich darauf verständigt, wir treten der EG damals bei. Die Grünen waren damals auf Konterposition und waren dagegen. Und jemand, der dafür war und trotzdem einen kritischen Blick hatte, den gab es außer uns nicht im Parlament. Daher glaube ich, dass wir eine ganz wichtige Facette für die Debatte und für die Bewusstseinsbildung waren. Und was die sogenannte Ausländerdebatte betraf, die ja Auslöser für unseren Austritt war, haben wir auch mit einer ganz anderen Möglichkeit und einer ganz anderen Argumentationspalette die Debatte im Parlament angestoßen. Und ich glaube, dass auch bei den anderen Abgeordneten hier der Grundrespekt für unsere Haltung spürbar war und sie sich daher mit den Dingen inhaltlich anders auseinandergesetzt haben als das vorher noch nach Schema F abgelaufen ist. Es war eine Belebung des Parlamentarismus. Das ist meine sichere Überzeugung ungeachtet dessen, dass ich natürlich als unmittelbar Betroffene befangen bin, aber das haben mir viele der Kolleginnen und Kollegen nicht nur damals bestätigt, sondern bestätigen es mir bis heute.
LESCHKA: Ein Kritikpunkt an größerer Parteienvielfalt im Parlament ist ja der, dass auch die Konsensbildung schwieriger wird. Hatten Sie dieses Gefühl damals auch?
SCHMIDT: Ich glaube durchaus, dass es schwieriger ist, einen Konsens unter fünf Parteien herzustellen oder unter drei Parteien herzustellen, als unter zweien. Das ist ja das ständige Problem auch von Koalitionen und das, was man als ein Experiment oder als ein Risiko empfindet, wenn man eine Dreier-Koalition statt einer Zweier-Koalition macht. Das glaube ich ist unbestreitbar, dass das schwieriger ist, aber es ist meiner Meinung nach höchst förderlich für die Demokratie. Denn der Kompromiss ist kein Ausweg, sondern der Kompromiss ist ein Teil der Demokratie und zwar ein unverzichtbarer Teil. Und Kompromissfähigkeit zu erlernen halte ich für einen ganz wesentliche demokratische Eigenschaft. Und das trifft nicht nur diejenigen, die es machen müssen, sondern das trifft vor allem auch diejenigen, die das beobachten, denn das prägt Haltungen. Und ich glaube daher, dass die Tatsache, dass es nun ein Fünf-Parteien-Parlament gab, und daher mehr Argumente auf einen Nenner gebracht werden mussten, dieser Kompromissfähigkeit gedient haben. Ich erinnere mich, als wir dann das erste Mal auch für den Niederösterreichischen Landtag kandidiert haben, da waren nicht mal die Grünen noch drinnen, also das war ein Zwei-Parteien Landtag, und wir haben kandidiert und ich habe den damaligen Landeshauptmann Erwin Pröll getroffen, der mir sehr feudal aber nicht unfreundschaftlich gesagt hat: "Ihr habt keine Chance weil die Leute wollen keine italienischen Verhältnisse." Und ich war völlig baff und habe mir gedacht, wovon redet der Mann? Also er hat tatsächlich den Umstieg von einem Zwei- in ein Drei- Parteien Parlament als italienische Verhältnisse unter Anführungszeichen empfunden. Und wir wissen, dass die italienischen Verhältnisse natürlich als Drohgebärde der Unregierbarkeit gemeint waren und ich gestehe es war für mich eine tiefe Befriedigung, wie wir es dann geschafft haben. Und dann waren wir auch in Niederösterreich ein Drei-Parteien Parlament und es hat dem Land nicht nur nicht geschadet, sondern ich glaube das hat ihm ein ganz klein wenig auch genützt.
SCHERMANN: Abschließend noch eine Frage: Hat sich das Demokratieverständnis seit den Neunzigern verändert?
SCHMIDT: Ich glaube, dass sich das Gesellschafts- und Staatsverständnis insofern geändert hat, in den letzten 20 bis 30 Jahren, weil die Welt sich geändert hat, weil die Rahmenbedingungen wirklich andere geworden sind. Weil auch dieses Gefühl, "wir sind eine Insel" – das zwar nie der Realität entsprochen hat, aber das war früher anders zu argumentieren, heute ist es gar nicht mehr zu argumentieren – und das sich als Teil eines großen Ganzen zu verstehen, verändert das Denken, hoffentlich, sage ich jetzt mal. Wie wir sehen nicht bei allen und so schaut es dann auch aus. Und dieses sich als Teil eines großen Ganzen zu fühlen ist auch in einem Mehrparteienparlament auf einem anderen Boden als in einem Zwei- oder nur Drei-Parteien-Parlament. Denn es war eigentlich immer ein Zwei-Parteien-Parlament, denn die Freiheitliche Partei war so eine kleine Größenordnung, dass die sich nicht gestört gefühlt haben, die beiden Großen. Das ist anders. Und wenn du einfach um Mehrheiten werben musst in einer ganz anderen Konstellation, dann musst du nicht nur anders argumentieren, dann musst du auch anders denken. Und es öffnet das Denken. Es macht es komplizierter aber es öffnet es und es öffnet es in Richtung Demokratie. Und daher glaube ich, dass sich die Demokratie positiv weiterentwickelt hat und ich spreche jetzt von der Vergangenheit, von der jüngsten Vergangenheit, die hat sich weiterentwickelt. Die hat sich auch im Sinne von Transparenz ein Stück weiterentwickelt, allerdings hat das auch wiederum Gegenläufiges mit sich gebracht. Also es hat sich vieles sozusagen ins Klandestine geflüchtet. Und das ist noch übler, obwohl noch übler kann man gar nicht sagen. Es ist das eine so übel wie das andere. Meinen tu' ich, dass bei allen Weiterentwicklungsschritten natürlich die Beharrungskräfte sich ihren Platz auch suchen und sich nicht einfach anschließen, sondern versuchen, irgendwo ihre Dinge zu retten, die notwendig sind. Aber das ist der Lauf der Welt. Wir müssen nur dranbleiben und wir dürfen uns nicht abfinden mit Dingen, die halt so sind. Und das sage ich gerade in einem Land, wo die Parteibuchwirtschaft immer an erster Stelle gestanden ist, sogar anfangs aus subjektiver Redlichkeit wenn sie so wollen, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und nach der Katastrophe des Bürgerkriegs in diesem Land, also des Austrofaschismus. Nach dieser Zeit hat man offenbar das Gefühl gehabt, wenn zwei demokratische Parteien untereinander alles aufteilen, dann haben wir die Chance, dass so Schreckliches nicht mehr passiert. Also die ursprüngliche Redlichkeit will ich nicht in Abrede stellen, nur die Zeit ist weitergegangen und wir haben erlebt, dass diese ursprüngliche Redlichkeit heute eigentlich nur noch dem Machterhalt dient und das hat mit Demokratie dann nichts mehr zu tun.
SCHERMANN: Liebe Hörerinnen und Hörer, damit sind wir schon wieder am Ende unserer Folge angelangt. Sollten Sie Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen haben, schreiben Sie uns bitte wie immer unter podcast@parlament.gv.at.
LESCHKA: Wir würden uns freuen, wenn wir uns auch in zwei Wochen wieder hören, wenn wir über die aktuelle Situation im Parlament sprechen! Wir bedanken uns herzlich für‘s Zuhören. Ciao und bis bald!
SCHERMANN: Tschüss!