Das österreichische Parlament und der Nationalfonds
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In der neuen Folge von "Parlament erklärt" beschäftigen sich unsere Hosts Stefanie Schermann und Tobias Leschka mit dem Nationalfonds. Was ist der Nationalfonds eigentlich? Was hat dieser mit dem Parlament zu tun? Und welche Rolle spielt dabei das Jahr 1995? Auf diese und weitere Fragen, auch zur Bedeutung von Erinnerungsarbeit, suchen sie Antworten.
Dazu sprechen die beiden mit der Generalsekretärin des Nationalfonds, Hannah M. Lessing.
© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Hannah M. LESSING: Und dann hat mein Vater folgenden Satz mir gesagt, und der war natürlich sehr hart. Er hat mir gesagt: Kannst du mir meine Kindheit zurückgeben? Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückbringen?
Stefanie SCHERMANN: Willkommen zurück zu einer neuen Folge von "Parlament erklärt". Heute sprechen wir mit Hannah Lessing. Sie ist die Generalsekretärin des Österreichischen Nationalfonds. Der Fonds wurde 1995 vom Parlament ins Leben gerufen, um Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus zu übernehmen. Mein Name ist Stefanie Schermann ...
Tobias LESCHKA: ... und ich bin Tobias Leschka. Frau Lessing hat den Nationalfonds von Beginn an aufgebaut. In 27 Jahren ist viel passiert: Neue Opfergruppen wie die Kinder vom Spiegelgrund wurden anerkannt, Zahlungen geleistet und Mahnmale erbaut. Frau Lessing hatte dabei immer einen sehr persönlichen Zugang zu ihrer Tätigkeit.
***** JINGLE *****
SCHERMANN: Liebe Frau Lessing, möchten Sie sich vielleicht kurz vorstellen?
LESSING: Mein Name ist Hannah Lessing, ich bin Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. Ich habe in Österreich die französische Schule besucht, in Wien. Später habe ich ein Studium der Wirtschaftsuniversität im Fach Handelswissenschaften absolviert und habe, bevor ich die wunderschöne Lebensaufgabe des Nationalfonds übernehmen konnte, in einer Bank gearbeitet, im internationalen Bereich.
LESCHKA: Beginnen wir vielleicht mit dem Grundlegenden: Was ist denn nun eigentlich der Nationalfonds? Und warum wurde er gegründet?
LESSING: Ich muss da bei dieser Frage ein bisschen ausholen. Österreich hat nach dem Krieg, während der zehn Jahre bis zur Unabhängigkeit durch den Staatsvertrag, eine Position eingenommen, die als Opfertheorie beschrieben werden könnte. Diese Opfertheorie stammte daher, dass 1943 die alliierten Truppen Österreich als erstes Opfer der Hitler-Aggressionspolitik bezeichnet haben und das wurde in der Moskauer Deklaration 1943 festgehalten. Die ersten Regierungen Österreichs nach 1945, nach Kriegsende waren Großteils aus Personen gebildet, die selbst im Konzentrationslager waren und daher sich auch als Opfer gesehen haben, und Österreich existierte ja völkerrechtlich damals nicht. Und diese Opfertheorie hat sich einfach eingebürgert, weil es war leichter, nicht nach rückwärts schauen zu wollen und zu sagen, okay, wir schauen in die Zukunft. Und die Zukunft hat geheißen, eine bestmögliche Basis für ein neu geschaffenes Österreich zu erwirken bei den alliierten Truppen, was dann eben auch gelungen ist, wie sie aus Österreich weggegangen sind und 1955 eben der Staatsvertrag gemacht wurde. Nun waren während den ersten Jahren nach dem Krieg einige Restitutionsmaßnahmen, einige Entschädigungsmaßnahmen, aber sie waren nie so umfangreich, wie sie hätten sein sollen. Und ich bin oft gefragt worden: Warum ist diese Maßnahme so spät gekommen? Ich bin ein 63er-Jahrgang, das heißt ich bin aufgewachsen in einer Zeit, wo man im Schulunterricht sehr wohl noch wirklich gesagt hat, Österreich war das erste Opfer. Ich habe 1981 maturiert, war dann einige Zeit lang im Ausland und in der Zeit, wie Kurt Waldheim, der damalige Generalsekretär der UNO sich als Präsidentschaftskandidat in Österreich aufstellen hat lassen, ist wirklich etwas aufgebrochen in Österreich.
SCHERMANN: Hier müssen wir kurz erklären: Waldheim war Kandidat in der Bundespräsidentschaftswahl 1986, als ihm vorgeworfen wurde, er sei als Wehrmachtsangehöriger im Zweiten Weltkrieg an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen. Eine Historikerkommission konnte eine solche Schuld nicht feststellen. In der Folge wurde die Rolle Österreichs während der Zeit des Nationalsozialismus vermehrt zum Thema. Eine Konsequenz der Diskussion war die spätere Abkehr von der Opferthese. Kurt Waldheim wurde übrigens zum Bundespräsidenten gewählt, verzichtete aber auf eine Kandidatur für eine zweite Amtsperiode. Nun aber zurück zu Hannah Lessing.
LESSING: Davor hatten Historiker wie unser Geschichtslehrer der Nation, Hugo Portisch, der leider schon verstorben ist, und kleine Kreise an Historikern immer wieder dieses Thema aufgefasst und gesagt, okay wir müssen unsere Vergangenheit bearbeiten, wir müssen darauf schauen, dass wir zu unserer Verantwortung stehen. Aber erst durch eben diese Waldheim-Kampagne, wie man das auch damals genannt hat, eben das Antreten von Waldheim für die Präsidentschaftskandidatur, ist klar geworden, wir müssen uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Es hat dann noch einige Zeit lang gedauert, bis Franz Vranitzky 1991 im Parlament von der Mitverantwortung von vielen Österreichern in dieser damaligen Zeit zwischen 1938 und 1945 gesprochen hat. Und dann hat dieser Prozess auch im Parlament angefangen, dass man sich gesagt hat: Was können wir, spät aber doch, machen? Und 1995 wurde dann dieses Gesetz ins Leben gerufen. Es wurde am 1. Juni 1995 im Nationalrat beschlossen. Am 30. Juni wurde es dann im Bundesgesetzblatt kund gemacht. Und am 6. Juli 1995 fand dann die erste Sitzung, die Konstituierung des Kuratoriums statt. Und das Wichtigste, glaube ich, auch für uns heute in unserer Arbeit ist, dass der Nationalfond beim Nationalrat eingerichtet worden ist. Im Parlament, das heißt im Herzen der Republik, weil das heißt, es wird getragen von allen Österreichern und Österreicherinnen. Und was der Nationalfond versucht hat: In den ersten Kuratoriums-Sitzungen hat man immer wieder darüber gesprochen, wie kann man diese schwierige Aufgabe lösen? Also eine unbürokratische Großzügigkeit gegenüber den Opfern mit dem unverzichtbaren Prinzip zu verbinden, mit öffentlichen Geldern sorgsam und sparsam umzugehen. Es war klar, dass man auch nach 50 Jahren nach Ende der NS-Diktatur nicht die Schrecken und das Leid vergessen darf, einerseits. Es war aber auch klar, dass nichts wieder gut gemacht werden kann. Also ich bin immer sehr vorsichtig mit diesem Ausdruck, Wiedergutmachung. Man kann nichts Wiedergutmachen. Und dass man auch den Menschen, die nicht verfolgt worden sind, 1995 klarmachen musste, es geht hier nicht um Schuldzuweisungen, sondern es geht um Verantwortung gegenüber diesen Menschen. Also all diese Sachen hat man versucht, in ein Gesetz zu gießen, gleichzeitig verbunden mit einer materiellen Geste-Zahlung. Und wie ich 1995 eben von diesem Job gehört habe, habe ich mir gedacht: Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, die mich aber sehr, sehr reizen würde.
SCHERMANN: Und so haben Sie diese Aufgabe auch tatsächlich übernommen! Wie sieht der der Weg von einer Bankangestellten zur Generalsekretärin eines Fonds für die Opfer des Nationalsozialismus überhaupt aus? Wie ist das von Statten gegangen?
LESSING: Ich habe 1995 in einer Bank gearbeitet, hatte eine ganz gute Karriere von mir. Meine Eltern hatten auch das Gefühl, dass ich sozusagen auf einem guten Weg bin. Und dann hat meine Schwester mich angerufen, dass sie, sie hat damals im Sozialministerium einen Job gehabt, gefragt worden ist, ob sie als Jüdin und als Beamtin einen Job im Parlament annehmen würde. Meine Schwester war damals nicht verfügbar, weil sie job-mäßig sehr gut im Sozialministerium verbunden war. Und hat mich gefragt, ob ich diesen Job nicht übernehmen würde wollen, da ich eben einerseits - ich würde nicht sagen, dass ich eine religiöse Jüdin bin - aber ich bin eine sehr gläubige Jüdin. Ich bete zu den hohen Feiertagen. Ich zünde am Freitagabend meine Kerzen an. Immer im Andenken an meine Großmutter, die in Auschwitz ermordet wurde. Und habe mir gedacht, irgendwo suche ich den Sinn noch immer in meinem Job und wie meine Schwester mir dann gesagt hat, na du sprichst doch auch Hebräisch und du hast mit diesem Thema sehr viel am Herzen. Würdest du dich da nicht bewerben wollen? Und ich habe mir gedacht, ja natürlich, und meine Mutter war Journalistin fürs Time Magazine und sie hat mir einen Termin beim damaligen Nationalratspräsidenten Heinz Fischer organisiert. Ich weiß noch ganz genau, was ich damals angehabt habe: Es war ein blassrosanes, nudefarbenes Kostüm, Rock, Schuchis, also ganz, ganz brav. Ich war noch nie zuvor im Parlament, muss ich zugeben. In der französischen Schule hat man das Parlament damals nicht so besucht. Ich glaube, das war überhaupt damals nicht so. Heute gehen Schulklassen ins Parlament und ich bin durch diese langen Gänge gegangen. Es werden mir viele Personen bestätigen, dass sogar nach vielen Jahren des Arbeitens im alten Parlamentsgebäude man sich manchmal verliert. Weil man nicht weiß, welcher Gang wo hinführt. Jetzt hängen dort Gemälde, an denen man sich weiterhelfen kann. Und ich habe mich damals beim Präsidenten Fischer gemeldet und er hat mir auch einen Termin gegeben. Aber bevor ich zu diesem Termin gegangen bin, habe ich meinen Vater, der 1939 im November mit einem der letzten Züge nach Triest geflohen ist. Der Krieg war damals schon ausgebrochen und dann mit, ich glaube, dem vorletzten Schiff von Triest nach Haifa geflohen ist. Seine Mutter ist in Wien zurückgeblieben, weil ihre Mutter schon sehr alt war, und somit sind sie dann deportiert worden, 1942 in ein Ghetto, 1942 nach Theresienstadt, wo meine Urgroßmutter verhungert ist, und meine Großmutter ist 1944 am 16. Oktober mit einem der letzten Transporte von Theresienstadt noch nach Auschwitz deportiert worden und dort auch gleich vergast worden. Sie war damals 49, also nach zwei Jahren Theresienstadt war sie nicht mehr arbeitsfähig. Also bin ich zu meinem Vater gegangen und habe ihm gesagt: Schau Papa! Spät aber doch hat die Republik im Herzen der Demokratie, im Parlament, einen Fonds eingerichtet, der allen Opfern des Nationalsozialismus zugutekommen wird. Das heißt nicht nur den Juden und das ist auch ein sehr wichtiger Punkt für mich, der Nationalfonds betreut alle Opfer des Nationalsozialismus. Das heißt, die bekannten Gruppen, Juden, Jüdinnen, Roma, Sinti, politisch Verfolgte, Behinderte, aber auch erstmalig Homosexuelle, die Kinder vom Spiegelgrund, die nicht bekannt waren. Und somit habe ich meinem Vater gesagt, ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir Österreicher und Österreicherinnen diese Mitverantwortung auch in unserer Generation tragen. Selbst wenn uns keine Schuld trifft, es ist so, dass wir Verantwortung haben, Verantwortung gegenüber diesen Menschen und Verantwortung den nächsten Generationen gegenüber, damit wir, so gut wir können, versuchen, dass es nicht wieder passiert. Und dann habe ich meinen Vater gefragt, was er von mir erwartet in dieser Aufgabe. Und er hat einfach nicht geantwortet. Er hat eigentlich wirklich gemauert. Er hat so gesagt: Nein, wozu? Du hast doch eine gute Karriere in der Bank und warum willst du dich mit so einem Thema belasten und das ist vorbei. Mein Vater war sehr typisch für sehr viele Überlebende, deren Familie ermordet wurde, dass er abgeschlossen hat und sich auch mit der Vergangenheit nicht mehr auseinandersetzen wollte. Doch die Ermordung von Großeltern und Urgroßeltern, also meine Großmutter das prägt uns Enkelkinder. Ich bin ohne diese Generation aufgewachsen und selbst wenn die betroffene Generation geschwiegen hat, was sehr bekannt ist, eben nicht nur auf der Täterseite, sondern auch auf der Opferseite. Uns in unserer Generation betrifft es trotzdem und ich habe meinen Vater immer wieder gefragt: Papa, ich möchte diese Arbeit machen. Ich möchte mit meinem Davidstern frei herumgehen können, ohne dass man vorsichtig mit mir ist. Weil: Ich bin eine Österreicherin, die halt einen Davidstern trägt und nicht ein Kreuz trägt. Und nach einiger Zeit lang hat mein Papa verstanden, ich bin von Sternzeichen Stier, ich bin daher sehr stur, hat er verstanden, er kommt mir nicht aus. Und dann hat mein Vater folgenden Satz mir gesagt, und der war natürlich sehr hart. Er hat mir gesagt: Kannst du mir meine Kindheit zurückgeben? Kannst du mir meine Mutter aus Auschwitz zurückbringen? Und mit diesem Wissen bin ich zum Heinz Fischer gegangen und hab gesagt, das ist meine Geschichte: Ich kann niemandem was zurückbringen, kaum was zurückgeben, keine Ermordeten zurückbringen, und dessen müssen wir uns bewusst sein. Alles ist nur eine kleine Geste, es kommt alles viel zu spät. Und dann habe ich ihm halt erzählt, wie ich mir das vorstelle. Und dann habe ich auch noch mit dem Walter Schwimmer ein Gespräch geführt, damals für die ÖVP. Und das waren die zwei Großparteien, aber dann eben habe ich auch Gespräche mit den kleineren Parteien geführt. Und dann war es irgendwie klar, dass wir das machen werden. Heinz Fischer hat mir die Chance gegeben, hat mich vorgeschlagen. Die Präsidiale hat mich bestellt. Und so habe ich meine Lebensaufgabe begonnen, mit sieben Frauen in einem kleinen Büro hinterm Parlament, und wir haben angefangen.
SCHERMANN: Welche Bedeutung hat diese Verbindung mit dem Parlament für Ihre Arbeit?
LESSING: Was ich wirklich unterstreichen kann, ist diese Anbindung an das Parlament, die uns einfach die Möglichkeit gibt, nicht einfach eine NGO zu sein, sondern die Unterstützung der Politik zu haben. Denn man kann sehr, sehr vieles machen, wenn man aber nicht die Unterstützung durch die Politik erfährt, ist es eigentlich sehr oft - nicht verlorene Lebensmüh, würde ich sagen – aber es kann nicht so weiter getragen werden durch die Politik, an die Bevölkerung, wie an dieser Anbindung ans Parlament.
LESCHKA: Was ist der Kern des Nationalfonds-Gesetzes, dass das Parlament 1995 beschlossen hat? Und was waren die Herausforderungen am Beginn Ihrer Arbeit?
LESSING: Als ich 1995 mir im Juli, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, die vier Blätter des Nationalfonds-Gesetzes angeschaut habe, habe ich mir gedacht ja, hier geht es um Mitverantwortung Österreichs, der Wunsch des Gesetzgebers eine Einrichtung zu erschaffen, die beim Parlament eingerichtet ist, um eine Hand auszustrecken. Um spät aber doch den Überlebenden des Nationalsozialismus, die aus Österreich stammen, das Gefühl zu geben, dass man sie nicht vergessen hat. Ich habe in den ersten Monaten natürlich mit allen Personen, die wir über die Jahre Überlebende betreut haben, Kontakt aufgenommen, das heißt Kultusgemeinde, Verbände von Roma und Sinti, Kärntner Slowenen und, und, und, um zu schauen was sind denn die Bedürfnisse? Denn das Gesetz hat uns einen Spielraum gelassen. Es hieß einerseits Kontakt aufnehmen zu den Überlebenden weltweit, andererseits eine materielle Geste machen gegenüber allen. Und es gab einen Passus im Gesetz, der geheißen hat: "Menschen, die sonstigem typischen Unrecht des Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind". Damit war wirklich eine Möglichkeit geschaffen, wirklich alle dieses Mal zu erreichen. Denn es gab natürlich in Österreich schon die Opferfürsorge nach dem Krieg. Aber da waren hauptsächlich die großen bekannten Gruppen drinnen. Und daher haben wir einfach gesagt, was braucht's? In den ersten Verhandlungsrunden hat man sich auf eine gewisse Summe geeinigt. Das waren damals 70.000 Schilling, heute circa 5.000 Euro, die an alle noch lebenden Verfolgten von damals ausgezahlt werden sollte. Wir hatten in Österreich die Möglichkeit, über die Opferfürsorge Namen zu bekommen. Damals war es mit dem Datenschutz, muss ich auch ehrlich sagen, noch nicht halb so streng. Es war aber auch Amtshilfe, dass man gesagt hat, okay, wir tauschen uns aus. Die Kultusgemeinde hatte Kontakt zu den in Österreich lebenden Überlebenden und dann war die Frage, wie erreichen wir die Personen weltweit? Wie erreichen wir unbekanntere Gruppen? Ich bin dann sehr rasch, ich glaube nach einem Monat schon oder im Herbst 1995, das erste Mal nach Israel geflogen. Dort gab es zum Glück eine Organisation, die Vereinigung der österreichischen Pensionisten in Israel. Und die hatten sehr viele Mitglieder. Mit denen haben wir angefangen, Kontakt aufzunehmen. In Amerika gab's eine ähnliche Organisation. In England nicht, aber da waren viele Kontakte über die Botschaften. Das heißt, wir haben in den ersten Jahren einfach versucht, so viel wie möglich Personen mit einem Brief zu kontaktieren und in diesem Brief haben wir eben geschrieben: Es tut uns leid, es ist zu spät und wir wissen, dass nichts wieder gut gemacht werden kann. Und so haben wir in den ersten Jahren 30.000 Menschen weltweit erreicht. Also ich bin bis nach Australien geflogen, nach Argentinien. Im Gesetz steht doch drinnen, dass die Generalsekretärin oder der Generalsekretär für die Verbindung mit den Überlebenden im Ausland zuständig ist. Und es war unfassbar. Diese Rückmeldungen, die ich teilweise bekommen habe. Bis zu 800 Leute waren in New York in der Public New York Library, wo ich einen Vortrag gehalten habe, wo ich einfach gesagt habe: Es ist nicht viel, aber wir haben euch nicht vergessen. Die Rückmeldungen in Australien: Was, bis nach Australien sind Sie gekommen, um uns zu besuchen? Und es war wirklich Zeit und diese Menschen waren damals so 70, 75 und jetzt sind sie halt 90, 95 und wir verlieren sehr, sehr viele Überlebende. Aber das heißt, in den ersten Jahren ging es wirklich darum, so viele Menschen wie möglich zu erreichen und da kamen dann plötzlich auch so Personen zu uns, die gesagt haben, wir sind nie anerkannt worden. Und so zum Beispiel kam die Geschichte der Kinder vom Spiegelgrund ans Licht. Es wurde ja schon in den späten 80er-Jahren über einen Überlebenden, Friedrich Zawrel, diese Geschichte an die Öffentlichkeit gebracht. Trotzdem waren die Kinder vorm Spiegelgrund nicht anerkannt als Opfer des Nationalsozialismus. Und 1996 kam ein Redakteur vom ORF zu mir und hat gesagt, ich möchte hier einen Film machen über jemanden, der schwer traumatisiert ist, der in einem Kinder-KZ war, könnt ihr helfen? Und ich habe gesagt, ich möchte die Geschichte recherchieren und er hat auch gesagt, ich schicke dir diesen Mann nur, wenn ich weiß, dass er anerkannt wird. Er ist bis heute überall abgelehnt worden und er kann nicht mehr. Wir haben dann ein Gutachten intern mit Historikern über den Spiegelgrund erstellt und haben das dann dem Komitee, diesem kleinen Gremium im Nationalfonds, vorgelegt und gesagt, das wäre so eine Gruppe, die typisch nationalsozialistisches Unrecht erlebt hat. Das Komitee hat beschlossen, ja, das machen wir und daraufhin kam Alois Kaufmann zu mir und hat mir seine Geschichte erzählt. Wir haben dann 14 Überlebende dieser Gruppe gefunden, haben ihnen auch Therapie bei einer Organisation in Wien namens ESRA zur Verfügung gestellt und später im Laufe der Arbeit sind wir draufgekommen, auch gemeinsam eben mit der Stadt Wien, dass noch 800 histologische Schnitte in Bottichen auf der Baumgartner Höhe sich befinden, gemeinsam mit der Stadt Wien haben wir dann ein Ehrengrab, ein Begräbnis organisiert und all diesen Kindern ihren Namen zurückgegeben. Und das sind diese Geschichten, wo man einfach sieht: Auch im Jahr 2000 war noch immer so Vieles nicht erzählt. Und dieses Vertrauen, das die Überlebenden in uns im Nationalfond gesetzt haben, das dauert bis heute an. Sie schenken uns ihre Geschichten, und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, ihre Geschichten zu erzählen und die publizieren wir in "Lebensgeschichten". Wir haben eben im Nationalfonds nicht nur diese Aufgabe, die Überlebenden zu finden, anzuerkennen, eine Hand auszustrecken, sondern wir können auch Projekte fördern. Und diese Projekt-Förderung ist auch ein Teil der jetzigen Aufgaben, das ist die Vermittlungsarbeit. Und hier verwenden wir eben die Lebensgeschichten aus unseren Archiven.
SCHERMANN: Welche Reaktionen haben Sie von Überlebenden bekommen? Über die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, muss doch für viele enorm schwierig sein?
LESSING: Also es ist so, dass wir im Nationalfonds einen relativ simplen Fragebogen ausfüllen haben lassen, denn man muss natürlich ein bisschen hinterfragen. Wissend, dass sehr, sehr viele Personen nur mehr sehr wenige, wenn überhaupt, Unterlagen haben. Im Nationalfonds war das nicht so problematisch, weil da mussten sie eigentlich nur beweisen, dass sie bis zu einem gewissen Datum in Österreich waren, dass sie entweder österreichische Staatsbürger waren oder zehn Jahre in Österreich davor gelebt haben und, dass sie einen der Verfolgungsgründe vorweisen können. Trotzdem gab's Personen, die wir durch diesen relativ simplen Fragebogen traumatisiert haben, also re-traumatisiert haben. In den ersten Wochen und Monaten sind bis zu 100 Personen bei uns im Nationalfonds aufgetaucht und haben plötzlich ihre Geschichte erzählt. Weil niemand vorher ihnen zugehört hatte. Und manche haben sehr ausführlich erzählt und manche haben nur gesagt: Na wie soll's schon im KZ gewesen sein? Trotzdem hat es dazu geführt, dass manchmal die Kinder uns dann angerufen haben und gesagt haben: Was ist bei euch passiert? Meine Mutter schläft überhaupt nicht mehr. Sie hat Albträume, sie wacht in der Nacht auf. Und wir haben erst dadurch verstanden, dass es 60 Jahre lang oder 50 Jahre nach dem Krieg verdrängt wurde und wir diese alten Wunden wieder aufgerissen haben. Wir haben uns dann an eine Organisation der Kultusgemeinde, die mit der Stadt Wien zusammenarbeitet, ein psychotherapeutisches Zentrum ESRA zusammengesetzt und die haben uns gesagt: Ja natürlich, ihr traumatisiert diese Menschen. Und wir haben gelernt diesen Menschen dann zu versuchen zu vermitteln, dass sie eine Therapie machen können. Also wir haben dann sehr schnell auch Therapie angeboten. Und mit diesen Erzählungen, die uns diese Menschen mitgegeben haben, sind später immer wieder Leute, haben uns Überlebende erzählt, dass sie endlich darüber sprechen können. Zwar nicht mit der ersten Generation, so wie mein Vater nicht mit mir sprechen konnte, aber mit seiner Enkelin konnte er sprechen. Und so haben sehr viele Überlebende in den 2000er Jahren angefangen, ihre Geschichten niederzuschreiben. Keine großen Bücher, manchmal nur zehn Seiten für die Enkel, und die haben sie uns sehr oft dann anvertraut. Jetzt haben wir, wie wir angefangen haben, diese Lebensgeschichten zu veröffentlichen, zuerst natürlich die Lebenden, Überlebenden gefragt, Einverständniserklärungen, aber wenn sie schon verstorben waren, mussten wir natürlich jetzt in den letzten Jahren auch von den Kindern und Enkelkindern Einverständnis einholen. Das ist vollkommen klar. Was aber wirklich noch nie ein Problem war. Und einer der Gründe, also wir veröffentlichen diese Lebensgeschichten auf unserer Website, aber eben auch in Buchform, denn wir haben es mit einer Generation zu tun, die halt noch sehr auf Bücher bezogen ist und denen es sehr, sehr viel bedeutet, dass ihre Geschichte in Buchform erschienen ist. Diese Lebensgeschichten sind teilweise 10 Seiten, 20 Seiten, wie gesagt, es sind keine ganzen Bücher, sondern in einem lebensgeschichtlichen? Band sind 20 Geschichten drinnen und wir verwenden das an den Schulen.
LESCHKA: Erinnerungen zu bewahren ist ein großes Projekt des Nationalfonds. Sie haben erst kürzlich die neue österreichische Länderausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau in Polen gestaltet. Und auch die Errichtung eines weiteren bedeutenden Erinnerungsorts konnte umgesetzt werden.
LESSING: Der zweite Erinnerungsort, der glaube ich sehr, sehr wichtig ist war, dass na ja, zwanzig Jahren. Vor über 20 Jahren erhielt ich einen Brief von Kurt Tutter. Kurt Tutter war ein österreichischer Überlebender, der als kleines Kind mit seinen Eltern nach Belgien geflohen ist. Er und seine Schwester konnten sich dann verstecken, die Eltern wurden deportiert und ermordet. Und 1997 hat er mir einen Brief geschrieben. Da waren wir schon mit ihm in Kontakt, er lebt heute in Kanada. Da hat er gesagt, ja, also er weiß, dass ein Großteil seiner Familie ermordet worden ist. Ich glaube, über 60 Mitglieder seiner Familie, und dass er auf der Suche ist nach einer Cousine, weil diese Cousine ist die einzige Person, wo er nicht weiß, wo die heute ist. Also ob sie ermordet worden ist, ob sie noch lebt und er weiß ja von uns, dass wir mit sehr vielen Menschen Kontakt haben und ob wir da vielleicht irgendwie seine Cousine Regi finden könnten. Ich habe dann im Computer nachgeschaut, damals hatten wir noch nicht wirklich Internet, 1997, aber ich habe in den Datenbanken seine Cousine gefunden! Ich habe der Cousine dann geschrieben und habe ihr geschrieben, dass ihr Cousin Kurt sie sucht und kurz später hat anscheinend der Kontakt zwischen ihnen stattgefunden. Sie haben Telefonnummern ausgetauscht. Sie haben angefangen regelmäßig zu telefonieren und Kurt Tutter hat mir dann einen Brief geschrieben, wo er hineingeschrieben hat: Sie haben mir das größte Geschenk gemacht, der Nationalfonds hat meine Familie wiedergefunden, meine Cousine. Und liebe Frau Lessing, wenn Sie mal an die Himmelspforten klopfen sollten, wenn diese dann noch existieren, dann nehmen Sie diesen Brief ruhig mit, man wird sie ohne Weiteres hereinlassen. Und das hat natürlich eine Verbindung zwischen Kurt Tutter und dem Nationalfonds ausgelöst, die einfach eine bleibende war. Und 1999 kam er dann nach Wien und hat gesagt, er braucht unsere Unterstützung, denn er will, dass der Name seiner Eltern und jener Familienmitglieder, die deportiert worden sind, die aus Österreich stammen, groß auf einer Mauer in Wien sichtbar sind, denn in Brüssel existiert so eine Mauer. Wir haben damals angefangen, alle jeweiligen Nationalratspräsidenten, alle Bürgermeister, wir sind viele, viele Jahre in Wien und auch im Bund herumgelaufen und haben Menschen dafür gewonnen. Wir haben wunderbare Menschen im Laufe dieser Zeit ins Proponenten-Komitee gewinnen können. Die jeweiligen Nationalratspräsidenten, -präsidentinnen waren immer ganz überzeugt von diesem wunderbaren Projekt. Aber irgendwie es war immer schwierig, einen Ort zu finden, weil wir reden doch von 182 Laufmetern. Wenn man nämlich das großmachen will, sodass jeder hingehen kann und sie sehen kann, die Namen, dass die nicht ganz klein gefiezelt sind, musste man einen großen Platz finden. Und so hat sich einfach, diese Suche nach dem Platz war wirklich schwierig und dann war's natürlich auch eine Frage des Geldes, weil so etwas ist nicht billig. Und dann hat sich im Jahr 2018 einfach eine Möglichkeit aufgetan, weil 2017 wurde bei einer Konferenz gegen Antisemitismus zum ersten Mal über Namensmauern auch in Wien geredet und der damalige Bundeskanzler, später, so 2018, da haben Bundeskanzler Sebastian Kurz und Präsident Sobotka damals gesagt, das mach ma. Und das Geld wurde uns zur Verfügung gestellt und der Verein Nationalfonds konnte mit der BIG und der Stadt Wien und dem Bezirk dieses Denkmal, diese Namensmauern aufbauen. Viele Leute haben damals gesagt: Na, das ist kitschig, das ist eigentlich, das ist nix. Und wir sind dabeigeblieben. Der Herr Tutter hat gesagt, es braucht nicht viel. Es braucht nur die Farbe gelblich wie der Jerusalemstein. Es braucht einen Ort und es braucht die Namen. Und 2019 ist der Grundstein gelegt worden und 2021 am 9. November konnten wir die Namensmauern einweihen.
SCHERMANN: Seither erinnert das Mahnmal im Wiener Ostarrichi-Park an die über 64.000 in der Shoa ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich. Ihre Namen sind auf 160 Mauern in Stein gemeißelt.
LESCHKA: Liebe Hörerinnen, liebe Hörer! Wir sind wieder bereits am Ende unserer Folge angelangt. Der Nationalfonds hat eine wichtige Aufgabe und viele bewegende Geschichten zu erzählen. Und fördert auch externe Projekte! Sollten Sie zum Thema Holocaust forschen, kann Sie der Nationalfonds vielleicht dabei unterstützen.
SCHERMANN: Wenn Sie Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen haben, schreiben Sie uns gern unter podcast@parlament.gv.at. Und wir hören uns hoffentlich in zwei Wochen wieder! Bis dahin: Ciao!
LESCHKA: Tschüss!