Wie ist unser Parlament entstanden?
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Parlamentarismus hat in Österreich eine lange Geschichte, die bis zur Zeit der Monarchie zurückreicht. In dieser Folge versuchen wir, einen Überblick über die Geschichte des österreichischen Parlamentarismus zu geben.
Wir sehen uns an, wie der Reichsrat funktioniert hat und wie sich unser politisches System mit der Zeit gewandelt hat zu dem, was wir heute unter Parlamentarismus verstehen.
Einer unserer Gesprächspartner ist der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer, der für seine Forschung schon mehrfach ausgezeichnet wurde. Er erzählt von den Anfängen des Parlamentarismus und betont dabei und klärt darüber auf, dass das System lange Zeit undemokratisch war und nur spezielle Gruppen mitbestimmen durften.
Außerdem sprechen wir mit Christoph Konrath. Er ist Jurist im Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftlichen Dienst der Parlamentsdirektion und hat sich intensiv mit der Geschichte des Parlaments auseinandergesetzt. Er erzählt unter anderem von der Neuzeit und erklärt, welche Probleme das Parlament der ersten Republik hatte.
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© Parlamentsdirektion/Satzbau/hoerwinkel
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Katharina BRUNNER: Liebe Hörerinnen und Hörer, herzlich willkommen bei der neuen Folge von „Parlament erklärt“. Mein Name ist Katharina Brunner.
David RIEGLER: Und ich bin David Riegler. Heute blicken wir zurück auf die bewegte Vergangenheit des österreichischen Parlaments. Wir stellen uns die Frage: „Wie ist unser Parlament entstanden?“
BRUNNER: Über die Geschichte des Parlaments könnte man stundenlang reden, weil das Parlament immer sehr stark von der Entwicklung des österreichischen Staates abhängig war – und sich deshalb laufend veränderte.
RIEGLER: Wir versuchen in dieser Episode, einen Überblick zu geben, wie es zu dem Parlament gekommen ist, in dem heute die wichtigsten politischen Fragen Österreichs diskutiert und die Bundesgesetze beschlossen werden.
BRUNNER: Wenn man sich das Parlamentsgebäude ansieht, kann man Elemente der griechischen Architektur erkennen, zum Beispiel die hellenistischen Säulen. Daraus könnte man auf einen Zusammenhang zur griechischen Demokratie schließen.
RIEGLER: Doch das wäre ein Missverständnis, erklärt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer.
Mitterauer: Ich glaube, dass in diesem Herstellen eines Zusammenhangs zur griechischen Demokratie ein allgemeines Missverständnis liegt, das unsere Schulbücher und die Literatur durchzieht. Unsere parlamentarische Demokratie ist repräsentative Demokratie. Parlamentum, Parliament im Englischen, parler ist die Ratsversammlung des Königs, des Fürsten.
BRUNNER: Repräsentative Vertreter treffen sich und diskutieren. In Österreich gab es das in den sogenannten Landhäusern ab dem 15. Jahrhundert, wie Christoph Konrath, Jurist in der Parlamentsdirektion, erklärt:
Konrath: Was man hier ganz bildlich hinzufügen kann: Wir kennen in ganz Österreich, in allen Landeshauptstädten, ein Landhaus. Und in manchen Landeshauptstädten gibt es sehr alte Landhäuser und da ist man sehr stolz drauf. Das sind eigentlich die ersten Parlamentsgebäude in Österreich, wo sich die Stände versammelt haben und die man ganz besonders ausgestattet hat und wo auch noch die Verbindung zu heute da ist, weil dort die Landtage zusammentreten.
RIEGLER: Das Landhaus hatte verschiedene Funktionen, vorrangig war es Versammlungsort der Stände und ihrer Ausschüsse. Demokratisch war dieses System allerdings nicht. Michael Mitterauer betont, dass Demokratie, so wie wir sie heute leben, in einem langen Prozess entstanden ist.
Mitterauer: Ein anderes Missverständnis, das in unserem gängigen Bild von Parlamentarismus und Demokratie entsteht, ist: Da hat irgendwer einmal die Idee zur Demokratie gehabt und die wurde dann entwickelt auf philosophischer Grundlage von den antiken Griechen bis zu uns herunter. Mir als Sozialhistoriker liegt halt näher die soziale Realität: Gemeinden, die ihre Vertreter hinaufsenden dürfen zur Beratung der Fürsten, dieses Prinzip in den Vordergrund zu stellen.
BRUNNER: Österreich hat eine lange ständische Tradition. Stände sind bestimmte Gruppen der Gesellschaft, die meist von Geburt an durch eine unterschiedliche rechtliche Situation getrennt sind. Es gab zum Beispiel den Lehrstand, der alle Geistlichen umfasste, den Wehrstand, der aus Mitgliedern des Adels bestand, oder den bäuerlichen Nährstand.
RIEGLER: Springen wir ins Jahr 1848, in die Zeit des österreichischen Kaiserreiches. Nach Jahrzehnten der absoluten Herrschaft der Monarchen beginnt eine Revolution in Österreich. Und es gibt ein erstes Aufflackern von Parlamentarismus. Konrath: 1848 gibt es ja sehr viele Forderungen und ganz unterschiedliche Revolutionen. Es gibt die Bürger, die Studenten, es gibt die Bauern, es gibt die Interessen der Landgemeinden… also da kommt ganz viel zusammen. Was aber stark da ist, ist, dass sich das Modell Parlamentarismus von England aus stark ausgebreitet hat, einmal mit dem großen Vorbild der Vereinigten Staaten und mit den Erfahrungen Frankreichs.
BRUNNER: Diese Vorbilder werden nun in vielen Ländern eingefordert. Auch in Österreich trifft sich das liberale Bürgertum und überlegt, wie ein Parlament aussehen könnte. Studenten, Handwerker und ArbeiterInnen gingen auf die Straße und erzwangen ein beinahe allgemeines Männerwahlrecht für einen konstituierenden Reichstag.
RIEGLER: Der Reichstag wurde dann auch gewählt und am 22. Juli von Erzherzog Johann in Wien eröffnet. Nur vier Tage später brachte der junge schlesische Abgeordnete Hans Kudlich den Antrag auf Abschaffung des bäuerlichen Untertänigkeitsverhältnisses ein und legte somit den Grundstein für die viel zitierte "Bauernbefreiung" von Robot und Zehent. Der Reichstag machte sich außerdem umgehend an die Ausarbeitung einer Verfassung.
BRUNNER: Doch die Revolution und ihre Errungenschaften überdauerten in Österreich nicht einmal ein Jahr. Ende 1848 gewinnen die reaktionären Kräfte wieder die Oberhand. Der junge Kaiser Franz Joseph I. regiert das Land mit absoluter Macht. Er ließ den Reichstag noch vor der Beschlussfassung des Verfassungsentwurfes am 7. März 1849 auflösen.
RIEGLER: Die Revolution war vorerst gescheitert, doch emotional bleiben die Geschehnisse stark im Gedächtnis.
BRUNNER: 1861 gibt es in Österreich wieder gewählte Abgeordnete , die bei der Gesetzgebung mitwirken, im sogenannten Reichsrat. Grund dafür ist die Finanzkrise der Habsburgermonarchie. Kaiser Franz Joseph musste dem finanzstarken Großbürgertum Zugeständnisse machen, um deren Unterstützung zu bekommen. Sie forderten dafür Mitbestimmung und erreichten ihr Ziel mit der Erweiterung des Reichsrats.
RIEGLER: Der Reichsrat bestand aus zwei Kammern: Zum einen aus dem Abgeordnetenhaus. Dort tagten die bis 1867 von den Landtagen entsandten Abgeordneten. Erst danach wurden diese direkt gewählt. Nur Männer waren zugelassen.
BRUNNER: Die zweite Kammer im Reichsrat war das Herrenhaus. Darin waren Personen vertreten, die zum Teil direkt vom Kaiser ernannt wurden. Meistens waren es Adelige. Auch hier gab es nur Männer.
RIEGLER: Der Bau des heutigen Parlamentsgebäudes in Wien begann übrigens schon 1874 und wurde 1883 fertiggestellt.
BRUNNER: Nachdem Abgeordnetenhaus und Herrenhaus zuvor in getrennten Gebäuden waren, tagten beide ab 1883 im heutigen Parlamentsgebäude.
RIEGLER: Im Reichsrat, also im Parlament, waren zu dieser Zeit nur die Gebiete Cisleithaniens vertreten, also der nördliche und westliche Teil von „Österreich-Ungarn“. Für die andere, „ungarische“ Reichshälfte namens Transleithanien gab es seit 1867 den Reichstag in Budapest.
BRUNNER: Der Reichsrat und der Reichstag in Budapest haben regelmäßig Delegierte entsandt, um miteinander über Gesetze zu diskutieren. Wichtige Themen waren vor allem Budgetfragen und Kriegssteuerbeschlüsse.
RIEGLER: Aber zurück zum Thema: Langsam, aber stetig hat sich der Parlamentarismus entwickelt, jedoch gab es in diesem Prozess viele Diskussionen um die Effizienz der Parlamente, weiß Christoph Konrath.
Konrath: Wenn Parlamente jetzt mehr Tätigkeit entfalten und der Staat komplexer wird, dann braucht man mehr Gesetze, dann soll mehr geregelt werden. In Österreich ist da ganz stark die Schulfrage, in England geht es um Wirtschaftsfragen, in Deutschland um die Sozialversicherung. Und da stellt sich immer ganz stark das Problem: Kann man das mit dem Parlament bewältigen oder müssen wir nicht schneller sein?
BRUNNER: Der Parlamentarismus wurde stetig weiterentwickelt, in den verschiedensten Formen – je nachdem, was man als geeignet empfunden hatte.
RIEGLER: Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und die dadurch ausgelösten Umbrüche haben sich in ganz Europa – und so auch in Österreich – Parlamente gebildet. Doch warum hat man sich für den Parlamentarismus entschieden?
Konrath: Das eine ist: Es ist irgendwie die Mitte, die man gefunden hat, zwischen dem: Wir kehren zu alten Kaiserreichen zurück, das kann man aber nach dem Ersten Weltkrieg so nicht mehr sagen. Denn der Erste Weltkrieg ist eine Gesamtmobilmachung der Männer, der Frauen, der Schichten, da kann man nicht sagen: Danke, das wars jetzt für vier Jahre, wir machen es wieder wie vorher. Das andere ist: Man hat die Revolution in Russland gehabt, die Sowjetunion, und man sieht in vielen europäischen Ländern den Versuch, Räterepubliken aufzubauen. Räte, das ist sowas wie kleine, viele Versammlungen, die aber oft sehr ins diktatorische eingehen, weil sich eine Gruppe so durchsetzt. Und der Kompromiss ist: Man schafft parlamentarische Systeme.
BRUNNER: In Österreich ist man sich einig, dass es anders sein muss als zu Zeiten der Monarchie. Zwischen 1918 und 1920 wird ein System eingeführt mit einem starken Parlament und einer neuen Verfassung. Die Entwürfe der Verfassung wurden vorwiegend von dem Rechtsphilosophen Hans Kelsen und den beiden führenden Regierungsmitgliedern Karl Renner und Michael Mayr erstellt.
RIEGLER: Das Volk wählte 1920 zum ersten Mal den Nationalrat. Zwischen 1919 und 1922 wählte man die einzelnen Landtage und damit auch die Vertreter für den Bundesrat, der zweiten Kammer im Parlament. Der Bundespräsident wurde damals nicht vom Volk, sondern vom Nationalrat gewählt. Außerdem hat man die Gewaltenteilung aufgehoben, die es in der Monarchie gab. Man konnte zum Beispiel gleichzeitig Mitglied des Nationalrats und Mitglied des Verfassungsgerichthofes sein. Heute wäre das unvorstellbar.
Konrath: Man versucht ein sehr starkes Parlament aufzubauen. Das hat aber auch die Konsequenz: Wenn das Parlament alles bestimmen soll, dann kann in den Fragen, die das Parlament befasst, eigentlich niemand drüberstehen. Ich habe also keine Distanz, die den Streit zwischen Parlament und Regierung schlichtet, sondern das muss politisch gelöst werden. Und das ist die Krux, die in der Ersten Republik passiert. Wenn man nämlich nicht bereit ist, den politischen Kompromiss zu finden, dann kann man so ein System an die Wand fahren.
BRUNNER: Unter dem Bundekanzler Engelbert Dollfuß wurden die Schwächen des Parlaments ausgenutzt. Als bei einem Eisenbahnerstreik 1933 alle drei Nationalratspräsidenten zurückgetreten sind, behauptete Dollfuß: Das Parlament habe sich selbst ausgeschalten.
RIEGLER: Das ist der Beginn des autoritären Ständestaat-Regimes und das vorübergehende Ende des Parlamentarismus. Der Bundesrat tagte zwar weiter und die Verfassung wurde bis April 1934 formell aufrechterhalten, denn danach wurde die neue „ständische Verfassung eingeführt. De facto gab es ohne Nationalrat jedoch keinen parlamentarischen Betrieb mehr. Die Opposition versuchte zwar über den Bundesrat wieder einen Nationalrat einzuberufen, scheiterte jedoch am autoritären System unter Engelbert Dollfuß. Im Februar 1934 drängte die Bundesregierung die sozialdemokratische Opposition in einem blutigen Bürgerkrieg in die Illegalität.
BRUNNER: Die Arbeit des Parlaments wurde zwischen 1933 und 1945 durch Diktatur und Faschismus unterbrochen. Zuerst durch das autoritäre Dollfuß-Regime, dann durch die Nationalsozialisten. Erst 1945, als Österreich als eigenständiger Staat wiederhergestellt wurde, beginnt auch das Parlament wieder zu arbeiten.
Konrath: Man belässt das vom Regelwerk so, wie es in der ersten Republik war, macht aber in der Praxis etwas ganz anderes, weil man gesehen hat, zu welchen Problemen diese Konflikte geführt haben. Und was damit passiert ist, ist diese Form der österreichischen Konsensdemokratie, die ganz stark auf Verhandlungen setzt und nicht auf Beratung.
RIEGLER: Dieses System funktionierte vor allem, weil lange Zeit in Österreich zwei Parteien dominierten: Die SPÖ und die ÖVP. BRUNNER: Doch der Parlamentarismus, wie wir ihn heute kennen, wird erst viel später entwickelt.
Konrath: Die entscheidenden Veränderungen beim Parlament in Österreich passieren erst in den 80er Jahren, als dieses System zu bröckeln beginnt und 1986 die Grünen in den Nationalrat kommen, sich die FPÖ verändert und größer wird. Und da passiert jetzt das: Die Grünen und die FPÖ, die haben keine Landeshauptleute, keine Gewerkschaftschefs, keine Wirtschaftskammerchefs. Das heißt, die haben den Nationalrat, das Parlament als Tribüne und die nutzen sie auch, weil, wenn ich die Möglichkeit habe zu reden, dann muss ich das auch nutzen und da ist der Punkt, wo sich in Österreich vieles zu ändern beginnt, wo der Nationalrat stärker Aufmerksamkeit bekommt, weil dort mehr passiert. Und das ist eine Entwicklung, die bis heute anhält: Ausbau der Minderheitsrechte, neue Debattenformate, auch eine andere Organisation der Sitzungen. Und man kann es an einem Kuriosum illustrieren: Wenn es bis heute dringliche Anfragen gibt, dann werden die um 15 Uhr aufgerufen. Und man fragt sich: Warum um 15 Uhr, warum nicht in der Früh? Als man das eingeführt hat, war Österreich noch um halb 8 am Abend vor der ZIB versammelt und die Debatte um 15 Uhr garantierte, dass in der Zeit im Bild berichtet wurde.
RIEGLER: An diesem Beispiel kann man gut nachvollziehen, wie der Parlamentarismus durch Veränderungen in der Gesellschaft beeinflusst wird.
BRUNNER: Die Geschichte des österreichischen Parlaments ist so bewegt, wie die Geschichte des Landes selbst. Nur wenn man sich die Entwicklungen der Vergangenheit ansieht, kann man verstehen, warum der Parlamentarismus heute so ist, wie wir ihn kennen.
RIEGLER: Und damit sind wir wieder in der Gegenwart angekommen. Wir freuen uns, dass Sie heute mit uns eine Reise in die Vergangenheit des Parlaments angetreten haben.
BRUNNER: Jetzt richten wir unsere Aufmerksamkeit in die Zukunft: Falls Sie Ideen haben für künftige Folgen, oder uns eine Rückmeldung geben wollen: Schreiben Sie uns an: podcast@parlament.gv.at.
RIEGLER: Weiter geht es in zwei Wochen mit der Frage: Wie entsteht eigentlich ein Gesetz?
BRUNNER: Danke fürs Zuhören und wir freuen uns auf ein Wiederhören.