Brigitte BAILER: Simon Wiesenthal war ja über viele Jahre und Jahrzehnte im Nachkriegsösterreich eine unbequeme Persönlichkeit. Österreich als Opfer-Nation wollte nichts über die Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern an den NS-Verbrechen hören. Das heißt, hier hat Wiesenthal genau den Finger auf die Wunde gelegt.
Tobias LESCHKA: Herzlich Willkommen zurück zu einer neuen Folge von "Parlament erklärt"! Heute sprechen wir über den Simon-Wiesenthal-Preis. Mit diesem Preis ehrt der österreichische Staat Menschen, die sich gegen Antisemitismus und das Vergessen unserer NS-Vergangenheit einsetzen. Mein Name ist Tobias Leschka. In der heutigen Folge erfahren wir, wer Simon Wiesenthal war und wieso der neue Preis seinen Namen trägt. Wir sprechen mit Brigitte Bailer. Sie ist Dozentin für Zeitgeschichte und in der Jury, die die Preisträger und Preisträgerinnen aussucht.
***** JINGLE *****
LESCHKA: Liebe Frau Bailer, stellen Sie sich doch bitte kurz vor!
BAILER: Okay, mein Name ist Brigitte Bailer. Ich bin Historikerin, bin mittlerweile im Ruhestand, arbeite aber noch immer als Dozentin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und war eigentlich mein ganzes Berufsleben im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes beschäftigt, zehn Jahre davon auch als Leiterin. Meine Forschungs-Schwerpunkte sind Österreichs Umgang mit seiner NS-Vergangenheit, Rechtsextremismus, Holocaust-Leugnung, Neonazismus und natürlich aus dem Dokumentationsarchiv heraus auch Widerstand und Verfolgung in der NS-Zeit. Aber gerade die Schwerpunkte Umgang mit der NS-Vergangenheit und Holocaust-Leugnung, Rechtsextremismus waren die Punkte, wo ich die Freude und Ehre hatte, auch mit Simon Wiesenthal zusammenzuarbeiten. Ich habe auch zu ihm persönlich noch Kontakt gehabt und eine Beziehung gehabt.
LESCHKA: Vielen ist Simon Wiesenthal nur als Name bekannt. Können Sie uns erzählen, was Simon Wiesenthal für ein Mensch war?
BAILER: Simon Wiesenthal wurde 1908 in den damals noch zur Monarchie gehörenden Teil Galizien geboren, in der Nähe von Lemberg aufgewachsen. Er musste im Zuge des Ersten Weltkriegs, wie viele andere auch, seine Heimat verlassen und hat kurz in Wien gelebt. Die Familie ist nach Galizien zurückgekehrt, er hat dann später Architektur studiert und hat in Lemberg sehr unmittelbar die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erlebt und erlitten. Das war zuerst die Eingliederung Lembergs in die Sowjetunion aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, also die Sowjetisierung der dortigen Gesellschaf. Zwei Jahre später dann, im Juni 1941 der Einmarsch der deutschen Wehrmacht mit der sofort einsetzenden brutalen Verfolgung der doch recht zahlreichen jüdischen Bevölkerung. Simon Wiesenthal musste erleben, wie in den ersten Tagen der deutschen Besetzung zirka schon 4.000 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Er und seine Frau wurden zur Zwangsarbeit eingeteilt, wobei er noch Glück hatte und einen die Zwangsarbeiter sehr gut behandelnden deutschen Direktor in der Firma hatte. Das war einer der Gründe, warum er sich immer gegen Kollektivschuld gewandt hat – er hat immer gesagt, es hat auch anständige Deutsche gegeben. Als dann die Deportationen der jüdischen Bevölkerung und auch der Zwangsarbeiterinnen einsetzte, konnte seine Frau als nicht-jüdische Polin getarnt untertauchen. Er selber ist ins Versteck gegangen, wurde verraten, hat mehrere Konzentrationslager überlebt und wurde dann letztlich am 5. Mai 1945 im KZ Mauthausen befreit. Und sofort, obwohl er eigentlich gesundheitlich sehr, sehr mitgenommen war von dieser Haft, kam er in Kontakt mit der US-Armee, die ja Mauthausen befreit hatte und unterstützte sie beim Auffinden von NS-Verbrechern. Und das war eigentlich der Beginn seiner Tätigkeit, die ihn dann das ganze restliche Leben begleitet hat. Das war für ihn sehr wichtig. Er hat das auch gesehen, wie viele Überlebende ja auch, als Verpflichtung gegenüber jenen, die nicht überlebt haben, als Verpflichtung gegenüber den Ermordeten, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das war ja auch einer seiner Sprüche: Recht, nicht Rache. Also er wollte eigentlich, es war ihm ganz wichtig, diese Verbrecher vor Gericht zu bringen, der Gerechtigkeit zuzuführen, der Welt auch zu erklären, was hier an Unvorstellbarem eigentlich abgelaufen ist. Und dann auch in den späteren Jahren hat er sich ganz vehement gegen die beginnende Leugnung und Verzerrung der Geschichte des Holocaust gewandt, aus derselben Motivation heraus. Also er hat dann in Linz sein Büro gehabt, hat dann später ein Büro in Wien gehabt. Zuletzt in der Salztorgasse, genau in jenem Haus, das an der Stelle steht, wo das Wiener Hauptquartier der Gestapo gestanden ist, im selben Haus, hat das Dokumentationsarchiv betreut, das Dokumentationsarchiv: eine Gedenkstätte für die Opfer der Gestapo. Also es war ein sehr treffender Platz für sein Büro. Also, insofern war es ihm immer wichtig, einerseits die Gerechtigkeit und andererseits die Bekämpfung von Antisemitismus, die Bekämpfung von Holocaust-Leugnung und einfach die Geschichte bewusst zu machen, nicht vergessen zu lassen, auch die Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Und genau in diesem Sinne steht ja jetzt auch der gegründete Simon Wiesenthal Preis.
LESCHKA: In der Nachkriegsgeschichte gibt es einige Persönlichkeiten, deren Lebensweg und -werk ein Andenken und eine Ehrung verdient haben. Warum wurde diese neue Auszeichnung ausgerechnet nach Simon Wiesenthal benannt?
BAILER: Also Wiesenthal war ja, und deshalb freut es mich, dass jetzt ein Preis nach ihm benannt ist, Simon Wiesenthal war ja über viele Jahre und Jahrzehnte im Nachkriegsösterreich eine unbequeme Persönlichkeit. Österreich als Opfer-Nation wollte nichts über die Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern an den NS-Verbrechen hören. Das heißt, hier hat Wiesenthal genau den Finger auf die Wunde gelegt. Und er war eine umstrittene Persönlichkeit, er war eine angegriffene Persönlichkeit, wenn wir an den großen Irrtum Bruno Kreiskys denken, seine Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal. Mir ist das bis heute völlig unverständlich. Kann man nur psychologisch erklären, den Konflikt zwischen diesen beiden Männern. Und er hat dann vor allem, also durch seine Mitwirkung an der Ergreifung Adolf Eichmanns, also einer der zentralen Verbrecher für den Holocaust, internationales Ansehen gewonnen und letztlich starb er 2005 als in Österreich und international hoch angesehener Mann. Und ich glaube, es würde wenige österreichische Persönlichkeiten geben, die so geeignet wären wie Simon Wiesenthal, einen solchen Preis zu seinen Ehren zu erhalten. Er hat also wirklich unschätzbare Verdienste sich erworben.
LESCHKA: Wofür wird der Simon-Wiesenthal-Preis denn nun eigentlich genau vergeben?
BAILER: Der Simon-Wiesenthal-Preis ist, ich habe das nachgelesen, entstanden aufgrund eines Treffens von Nationalratspräsident Sobotka mit der Enkelin Simon Wiesenthals, Racheli Kreisberg, in Israel. Und der Simon-Wiesenthal-Preis soll zivilgesellschaftliches Engagement im Kampf gegen Antisemitismus, für die Erinnerung an den Holocaust und Eintreten für Erinnerungspolitik ehren und auszeichnen. Er wurde ja bekanntlich heuer das erste Mal vergeben. Vergeben, wird er aufgrund eines Vorschlages einer Jury, der ich die Ehre habe anzugehören, vom Kuratorium des Nationalfonds, also die Vorschläge müssen vom Kuratorium des Nationalfonds gebilligt werden. Heuer hat er die Vorschläge, also unsere Vorschläge, die Jury-Vorschläge einfach übernommen. Also auch hier wieder glaube ich eine günstige Konstellation da gerade der Nationalfonds der Republik Österreich bei seiner Gründung 1995 eine große Signalwirkung hatte. Auch als ganz wesentlicher neuer Schritt der Republik, des Umgangs der Republik Österreich, mit den überlebenden Opfern des Nationalsozialismus. Also ist er glaube ich auch hier, der Preis sehr gut angesiedelt. Und in Kooperation eben mit dem Präsidium des Nationalrates wird dieser Preis vergeben, also sozusagen die Republik ehrt Engagement gegen Antisemitismus und für Erinnerungsarbeit und das ist eine sehr, sehr schöne Geste.
LESCHKA: Eine Geste, die auch monetäre Auswirkungen hat! Der Simon-Wiesenthal-Preis ist jährlich mit 30.000 Euro dotiert. 15.000 Euro entfallen auf den Hauptpreis, jeweils 7.500 Euro auf die weiteren Preise. Was bedeutet diese finanzielle Seite des Preises?
BAILER: Das ist also, gerade für kleine Institutionen und Gruppen, die hier in diesem Feld aktiv sind, wie zum Beispiel die heurigen Preisträger, die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, die ja wirklich sehr, das hat auch die Jury so gesagt, im Sinne Simon Wiesenthals arbeitet, nämlich also mit der Erforschung der österreichischen Justiz gegenüber NS-Verbrechern. Für so kleine Forschungseinrichtungen ja, für die ist natürlich auch die materielle Seite von Bedeutung. Weil jeder, der in diesem Feld arbeitet weiß, dass die Subventionen und die Forschungsaufträge und die Projektgelder nicht so leicht vom Himmel kommen, nämlich gar nicht, und damit hat auch das durchaus sehr konkreten Wert für die Preisträgerinnen und Preisträger.
LESCHKA: Wer waren denn heuer die Preisträgerinnen und Preisträger?
BAILER: Es waren ja weit über 200 Einreichungen und darunter auch zahlreiche Vorschläge von Zeitzeugen, also Überlebenden, die nun nach wie vor, denen es wichtig ist, so wie es Simon Wiesenthal wichtig war, ihre Geschichte zu erzählen, über die Vergangenheit zu sprechen im Sinne, und das sagen ja andere auch, im Sinne derer, die nicht mehr reden können. Und das ist also für diese Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eigentlich auch eine große Anstrengung, weil man diese schrecklichen Erlebnisse wieder erlebt, wieder erzählt. Ich weiß das auch aus einer großen Zahl von biografischen Interviews, die wir im Dokumentationsarchiv seinerzeit gemacht haben. Also das ist gar nicht hoch genug zu schätzen, was die leisten und vor allem auch: Für junge Leute ist das ganz was anderes, wenn das jemand erzählt, der das erlebt hat, als wenn es einfach im Geschichtsbuch steht. Wir waren alle mal in der Schule. Und da hat dann die Jury beschlossen, alle vorgeschlagenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, stellvertretend für alle, die in Österreich, in Deutschland, in Frankreich, in den USA, in Großbritannien, in Israel diese Arbeit leisten, zu ehren und auszuzeichnen. Also die haben den Hauptpreis bekommen. Ein Anerkennungspreis ging eben an die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, die mit relativ wenigen Mitteln, aber immer wieder auch in guter Kooperation mit wechselnden Justizministerinnen und -Ministern sich bemüht also die sogenannte Volksgerichtsbarkeit, das waren eigene, zur Aburteilung von nationalsozialistischen Verbrechern eingerichtete Gerichte, zu erforschen, aufzuarbeiten und anhand dieser oft extrem umfangreichen Gerichtsakten auch die NS-Verbrechen und die Beteiligung von Österreicherinnen und Österreichern, an NS-Verbrechen aufzuarbeiten, also eine sehr verdienstvolle Gruppe. Und das andere war eine Aktivisten-Gruppe aus Deutschland, die sich dem Kampf gegen den Antisemitismus verschrieben hatte. Also wir hatten sehr, sehr viele internationale Einreichungen. Ehrlich gesagt, es war nicht einfach für die Jury. Es waren so viele, wo man sich gedacht hat, die würden es verdienen.
LESCHKA: Kann man sich sowohl als Organisation als auch als Einzelperson um den Preis bewerben? Und wie funktioniert das genau?
BAILER: Die meisten Einreichungen waren so, dass jemand vorgeschlagen wurde. Also es haben sich wenige sozusagen selbst vorgeschlagen, sondern sie wurden dann von Kolleginnen und Kollegen vorgeschlagen. Gerade bei den Zeitzeugen war es eben so, dass Institutionen wieder Zeitzeugen vorgeschlagen haben, mit denen sie zusammengearbeitet haben, wo sie sich gedacht haben, die würden ausgezeichnet gehören. Aber die Einreichung für den nächstjährigen Preis ist bereits offen! Die Web-Adresse weiß ich jetzt nicht auswendig, muss ich ehrlich sagen, aber die kann man mit Simon-Wiesenthal-Preis googlen und es können schon wieder Einreichungen vorgenommen werden. Es steht auch auf der Website genau, welche Unterlagen man dazu braucht. Es reicht also im Großen und Ganzen eine Kurzbeschreibung der Tätigkeit, eine Kurz-Biografie und wenn man mehr Material hat, das man dazugeben kann, ist das gut, aber das findet man alles auf der dazugehörigen Website. Und ja, wir hoffen, ich glaube, ich kann da für die engagierten Jury-Mitglieder auch sprechen, wir hoffen wieder auf sehr viele und sehr gute Einreichungen für den nächstjährigen Preis.
LESCHKA: Wenn Sie sich oder jemand anderen für den Preis vorschlagen möchten, können Sie dies unter der Web-Adresse www.wiesenthalpreis.at tun. Dort können Sie ein entsprechendes Online-Formular ausfüllen. Unter allen Einreichungen wählt eine Jury aus Expertinnen und Experten drei Preisträger und Preisträgerinnen aus. Liebe Frau Bailer, wer sind denn die Mitglieder dieser Jury?
BAILER: Die Vorsitzende der Jury ist Katharina von Schnurbein aus dem Europaparlament, aus der europäischen Ebene. Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, der ehemalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant als Vertreter der Familie Kreisberg, also der Nachkommen von Simon Wiesenthal, Barbara Stelzl-Marx, Universitätsprofessorin an der Uni Graz und am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Frau Schwarz-Friesel, eine deutsche Expertin für Antisemitismus und meine Wenigkeit, ich hoffe ich habe niemanden vergessen.
LESCHKA: Damit sind wir bereits am Ende unserer ersten Folge zum Simon-Wiesenthal-Preis angelangt. Wie immer: Fragen, Anregungen oder Vorschläge für neue Folgen schicken Sie uns gerne an podcast@parlament.gv.at. Ansonsten hören wir uns hoffentlich in zwei Wochen wieder! Dann sprechen wir über die Verleihung des diesjährigen Simon-Wiesenthal-Preises. Auch die heurigen Preisträgerinnen und Preisträger sehen wir uns genauer an. Bis dahin: Ciao!