Krieg in der Ukraine
Podcast: Politik am Ring #15 vom 21. März 2022
Details
Thema
Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine schockiert die Welt. NATO und EU reagieren auf den Einmarsch russischer Truppen in seltener Geschlossenheit. Der deutsche Bundeskanzler spricht von einer Zeitenwende. Nach Jahrzehnten des Friedens ist Europa wieder von einem Krieg bedroht. Neutralität, europäische Armee, NATO-Beitritt, Aufrüstung – wie kann und soll sich Österreich verhalten?
Teilnehmer:innen der Diskussion
Abgeordnete:
- Friedrich Ofenauer (ÖVP)
- Robert Laimer (SPÖ)
- Petra Steger (FPÖ)
- Michel Reimon (Grüne)
- Helmut Brandstätter (NEOS)
Eingeladene Fachleute:
- Oberst des Generalstabsdienstes Bernhard Gruber, Landesverteidigungsakademie
- Velina Tchakarova, Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik
Diskussion
Man habe Putins Plan seit 20 Jahren beobachten können, erklärte Helmut Brandstätter, Bereichssprecher für Außenpolitik der NEOS, der Westen aber sei blind gewesen. Putin habe in den letzten zwei Jahrzehnten viel Geld in die Hand genommen, mit dem Ziel, die europäische Gesellschaft zu zerstören: Oligarchen hätten sich in Europa eingekauft, Putin habe die Grundstoffindustrie zum Teil rückverstaatlicht, er habe Wahlkämpfe rechtspopulistischer Parteien in Europa finanziert. Auch Michel Reimon, Europasprecher der Grünen, betonte, dass man schon lange sehen konnte, was Putin plane und in welche Richtung er gehe. Putins Drehbuch gebe es seit Jahren. Petra Steger, EU-Sprecherin der FPÖ, verurteilte Russlands Angriff auf die Ukraine ausdrücklich, betonte aber, dass es in solch einer Situation Aufgabe der Politik sei, besonnen zu agieren. Man dürfe keinesfalls Öl ins Feuer gießen, was mit der Perspektive einer Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine oder der Durchsetzung der von der Ukraine geforderten Flugverbotszone zweifellos passieren würde, so die Abgeordnete. Ihrer Meinung nach, so Steger, müsse sich Österreich in dieser Situation neutral verhalten. Friedrich Ofenauer, Verteidigungssprecher der ÖVP, ergänzte, dass Österreich neutral war, sei und es auch bleiben werde. Der 24. Februar stelle jedoch eine Zäsur dar, als Folge dessen müsse Europas, aber auch Österreichs Energie-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik neu gedacht und ausgerichtet werden. Die EU müsse mit einer Stimme sprechen und geeint sein. Putin werde den Krieg zumindest politisch verlieren, zeigte sich Robert Laimer, Verteidigungssprecher der SPÖ, überzeugt. Für die EU, die eine enorme wirtschaftliche Kraft habe, könne dieser Krieg zu neuer politischer Stärke führen; man müsse nur weiterhin an einem Strang ziehen. Gleichzeitig gelte es aber, so auch Laimer, besonnen zu bleiben.
Es sei derzeit schwer, wenn nicht sogar unmöglich, zu beantworten, wie der Krieg ausgehen werde und wie ein Ausweg aus der Eskalationsspirale gelingen könne, so der Oberst des Generalstabsdienstes Bernhard Gruber in seiner Einschätzung der Lage. Fest stehe, dass man auch nach Ende des Krieges nicht sofort zur Tagesordnung werde übergehen können. Putin führe nicht nur Krieg gegen den unabhängigen Staat Ukraine, sondern auch gegen die Bevölkerung der Ukraine, erklärte Velina Tchakarova, Direktorin des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik. Mit diesem umfassenden Krieg solle die ukrainische Bevölkerung gebrochen und ihr die Widerstandsfähigkeit genommen werden. Das habe bereits eine extrem hohe Zahl an Menschen in die Flucht getrieben, was die umliegenden Staaten wie auch die EU vor große Herausforderungen stelle. Die europäische Solidarität werde aber nicht abnehmen, sondern weiter zunehmen, zeigte sich Tchakarova überzeugt.
Links
- Zur Videoaufzeichnung der Sendung
- Fotoalbum
- Parlamentskorrespondenz Nr. 298/2022
Transkript
Anmoderation: In dieser Folge von Politik am Ring, der Diskussionssendung des Parlaments, diskutiert Moderator Gerald Groß mit den Abgeordneten Friedrich Ofenauer von der ÖVP, Robert Laimer von der SPÖ, Petra Steger von der FPÖ, Michel Reimon von den GRÜNEN und Helmut Brandstätter von NEOS über den Krieg in der Ukraine und wie sich Österreich verhalten kann und soll. Zu Gast sind der Oberst des Generalstabsdienstes Bernhard Gruber und Velina Tchakarova vom Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik. Das Gespräch haben wir am 21. März 2022 im Dachfoyer der Wiener Hofburg aufgezeichnet.
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Gerald GROẞ (Moderator): Guten Abend und herzlich willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einer weiteren Ausgabe von „Politik am Ring“, heute zu einem Thema, das wir noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätten. Wenige Tage nach unserer letzten Sendung im Februar ist das passiert, was viele nicht für möglich gehalten haben oder vielleicht schlicht verdrängt haben: Wir sind im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts und es gibt Krieg in Europa. Die russische Armee hat die Ukraine überfallen, in allen Teilen des Landes wird seit dem 24. Feber gekämpft, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Dieser Krieg scheint noch lange nicht ausgestanden zu sein, klar ist aber schon jetzt: Selbst wenn der Westen nicht weiter mit hineingezogen wird, hat er wohl Auswirkungen auf seine Sicherheitsarchitektur. Was das für Österreichs Sicherheitspolitik bedeutet, darüber wollen wir heute diskutieren – über Neutralität also, europäische Armee, Nato-Beitritt, Aufrüstung, vor allem über die Frage: Wie kann und soll Österreich sich verhalten? Wir diskutieren das mit Helmut Brandstätter, NEOS – schönen guten Abend! (BRANDSTÄTTER: Guten Abend!) –, Michel Reimon, Grüne – herzlich willkommen! –, Petra Steger, FPÖ – ebenfalls herzlich willkommen! (STEGER: Grüß Gott!) –, Friedrich Ofenauer, ÖVP – schönen guten Abend! (OFENAUER: Guten Abend!) – und last, but not least Robert Laimer von der SPÖ – herzlich willkommen! (LAIMER: Guten Abend!) Außerdem haben wir auch heute wieder zwei hochkarätige Gäste: den Oberst des Generalstabsdienstes Bernhard Gruber von der Landesverteidigungsakademie und Velina Tchakarova vom Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Moderator Gerald Groß: Seit knapp vier Wochen sehen wir zunehmend entsetzt eine nicht für möglich gehaltene Eskalation und Brutalität dieses Krieges. Längst werden auch zivile Ziele wie Schulen, Theater und Wohnhäuser bombardiert, Menschen auf der Flucht fallen Attacken zum Opfer, die UNO spricht von 900 zivilen Opfern, die Ukraine von mehr als 2 300. Klar ist: Der russische Vormarsch läuft nicht wie geplant. US-Schätzungen gehen von 7 000 toten russischen Soldaten aus, die Ukraine sogar von 13 000. Außerdem wurden nach ukrainischen Angaben bisher mehr als 400 russische Panzer, 90 Kampfflugzeuge und 100 Hubschrauber zerstört oder erbeutet. Mittlerweile sind laut UNO-Berichten bereits über drei Millionen Menschen geflüchtet, bis zu zehn Millionen könnten es laut Schätzungen werden.
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GROẞ: Ich begrüße jetzt bei mir Mag. Bernhard Ernst Gruber, er ist Berufssoldat im Rang eines Obersten des Generalstabsdienstes und aktuell Kommandant des FH-Masterstudiengangs Militärische Führung. – Herzlich willkommen, einen schönen guten Abend! (Gruber: Guten Abend!) Herr Gruber, am Beginn darf ich Sie bitten: Geben Sie uns eine kurze aktuelle Einschätzung der momentanen Lage!
Mag. (FH) Bernhard GRUBER, M.A.: Wie Sie bereits zu Beginn im Einspieler ganz richtig gesagt haben: Seit 24. Februar erleben wir etwas, von dem wir alle ausgegangen sind, dass wir das in Europa so nicht mehr erleben werden. Wir haben einen sehr raschen Kriegsbeginn durch Russland gesehen, bei dem wir davon ausgegangen sind, dass die russische Führung versucht hat, relativ rasch Kiew in Besitz zu nehmen, dadurch, dass sie im Grunde genommen um die gesamte Ukraine herum begonnen haben, Angriffe zu starten und den Versuch gemacht haben, relativ rasch das ukrainische System zum Wanken zu bringen und zum Aufgeben zu zwingen. Das hat nicht funktioniert, weil die ukrainische Führung unter Präsident Selenskyj und auch das Militär sehr erbitterten Widerstand geleistet haben, und die Russen haben daraufhin ihren Plan B beginnen müssen und sind im Grunde genommen zu einer klassischen Kriegsführung übergegangen, wie man sie, sage ich jetzt einmal, in einem normalen Krieg eben macht, mit dem Versuch, eben große Teile der Ukraine in Besitz zu nehmen. Das hat zu Beginn relativ gut funktioniert, die ukrainischen Streitkräfte haben sich aber, wie ich bereits gesagt habe, sehr tapfer gewehrt und haben es durchaus geschafft, Gelände zu halten und den russischen Vorstoß nicht zu weit nach vorne gehen zu lassen, sodass es im Grunde genommen jetzt zu einem Abnützungskampf kommt und wir jetzt sehr stark sehen, dass die russischen Streitkräfte zivile Städte bombardieren und so versuchen, die Ukraine dazu zu zwingen, aufzugeben.
GROẞ: Was würden Sie sagen, was müssten die Ukrainer aufgeben oder haben sie bis jetzt aufgeben müssen? Mariupol ist offensichtlich verloren. Gibt es auch noch andere Städte, von denen Sie sagen, die werden sich nicht mehr lange halten können?
GRUBER: Wir haben, wenn wir im Süden beginnen, einen Vorstoß von der Krim Richtung Norden gehabt, wo man bis auf Höhe Mykolajiw, Cherson vorgestoßen ist. Dort war das Kriegsziel, Richtung Dnepr vorzustoßen, und da gibt es einen Kanal, der vom Dnepr auf die Krim hinunterführt und die Krim mit Frischwasser versorgt, was eben seit längerer Zeit abgeschnitten war. Dort hat man sicherlich einmal ein erstes kleines Kriegsziel erreicht. Man ist dann im Süden Richtung Osten, Richtung Donezk und Luhansk, vorgestoßen, hat es dort einmal geschafft, Mariupol einzukesseln – das sieht man ja in den letzten Tagen sehr stark in allen Nachrichten, dass Mariupol eben belagert, beschossen wird. Man kämpft derzeit sehr stark in Luhansk und in Donezk, an dieser sogenannten Kontaktlinie, wo sich ja die ukrainischen Streitkräfte schon seit 2014 gegenüber diesen Separatisten im Kampf befinden. Wir haben dann Vorstöße auf die Städte Charkiw und noch hinauf Richtung Sumy gehabt, und dann noch Richtung Kiew, wobei bezüglich Kiew derzeit der Versuch ist, es einzuschließen und wir gestern in der Nacht auch sehr starke Bombardierungen in Kiew gesehen haben.
GROẞ: Dieser Plan A, den Sie angesprochen haben: Womit hat das zu tun, dass er nicht aufgegangen ist? Wurden die russischen Streitkräfte auf der einen Seite möglicherweise überschätzt und auf der anderen Seite die ukrainischen Streitkräfte unterschätzt, nämlich in erster Linie einmal von den Russen?
GRUBER: Das kann man sicherlich so sagen. Was jetzt genau die Gründe sind, warum man die ukrainischen Streitkräfte aus russischer Sicht so unterschätzt hat, wird man sich wahrscheinlich erst in späterer Folge genau anschauen können, aber, wie ich bereits zu Beginn gesagt habe, hat man eben versucht, relativ rasch hineinzugehen und hat sich da wahrscheinlich eher als Befreier wahrgenommen. Man hat das auch zu Beginn des Krieges gesehen, als sich die russischen Streitkräfte eigentlich nicht besonders gefechtsmäßig, sage ich einmal so, verhalten haben. Sie sind im Grunde genommen auf der Straße entlang gefahren, sind ausgestiegen, sind in Kontakt getreten, was darauf schließen lässt, dass man eigentlich davon ausgegangen ist, dass das System bald einmal kollabiert und dass man dort eben quasi als „Befreier“ – unter Anführungszeichen – wahrgenommen wird.
GROẞ: Aber wie kann es zu so einer Fehleinschätzung kommen? Glauben Sie wirklich, dass Putin davon ausgegangen ist und dass er echt geglaubt hat, dass die ukrainische politische Führung rasch fällt und die Besatzung tatsächlich als Befreiung wahrgenommen und erlebt wird?
GRUBER: Das kann man jetzt von hier aus wahrscheinlich schwer beurteilen. Ich kann das nicht verifizieren, wahrscheinlich kann jetzt niemand verifizieren, ob das jetzt wirklich genau so gewesen ist. Es dürfte aber durchaus einen Hintergedanken gegeben haben, denn sonst hätte man nicht so begonnen, sondern hätte im Grunde genommen gleich auf den Plan B ...
GROẞ: Ist das dann ein Versagen der Geheimdienste oder ist es einfach so, wie man auch jetzt immer wieder lesen konnte, dass die Russen, nämlich die russische Führung, eigentlich verdammt wenig über die Ukraine und darüber, wie die Ukraine tickt, weiß?
GRUBER: Das ist auch wieder schwer zu beantworten. Ich gehe schon davon aus, dass man ein gewisses Bild vor Augen gehabt hat, das vielleicht gewissermaßen auch ein bisschen beeinflusst gewesen ist. Man hört ja auch immer wieder, dass vielleicht nur mehr ein gewisser Zirkel Zugang zum Präsidenten hat, dass dort vielleicht nicht mehr immer die richtige Wahrheit und die richtige Einschätzung vorgetragen wird und dass somit vielleicht ein gewisses Bild entstanden ist, das falsch ist, und man daher auch falsch geplant hat und daher auch von falschen Sachen ausgegangen ist.
GROẞ: Wir reden gleich weiter, nämlich darüber, was das jetzt für Europa und für Österreich bedeutet. Ich würde gerne jetzt die Dame und die Herren Abgeordneten in die Diskussion hereinholen. Die EU und die Nato haben ja sehr rasch zu einer gemeinsamen Antwort gefunden. Die Linie ist klar, man unterstützt mit Waffenlieferungen, jedoch nicht mit militärischen Kräften, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, wie es immer heißt. Ist das genug, Herr Brandstätter, oder regiert hier letztlich die Devise: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass?
Dr. Helmut BRANDSTÄTTER (NEOS): Wenn ich vielleicht mit der Frage der Fehleinschätzung beginnen darf: Das ist das, was mich nach wie vor am meisten wundert. Ich war mit einigen Kollegen Ende Jänner in Kiew bei einer Veranstaltung und habe mit verschiedenen Leuten aus Wirtschaft und Politik gesprochen; und alle haben gesagt: Sollte es zu einem Angriff kommen – natürlich war das die Frage, die man gestellt hat –, dann werden wir uns bis zum letzten Blutstropfen wehren! Das ist quer durchgegangen, und wenn etwas, was ich in drei Tagen erfahre, der ganze riesige Geheimdienst nicht versteht, fragt man sich schon: Woran kann das liegen? Ist es wirklich nur eine Fehleinschätzung oder sind die der eigenen Ideologie aufgesessen, nämlich der Ideologie: Es gibt das ukrainische Volk gar nicht, die gehören ohnehin zu uns und das nehmen wir uns jetzt!? Das ist wahrscheinlich, und das führt mich dann auch zur Beantwortung der Frage: Was ist denn da los, was hat Putin denn gemacht? – Putin sagt: Ich nehme mir, was mir ohnehin gehört, und da hat auch niemand zu widersprechen!, und hat sich gewundert, dass die EU auf einmal geeint dasteht. Etwas nämlich, was er ja seit 2000 betrieben hat und was wir im Westen nicht sehen wollten – wir sind ja blind durch die letzten 20 Jahre gegangen –, ist ja, dass er dazu beigetragen hat, die europäische Gesellschaft zu zerstören. Er hat das mit sehr viel Geld gemacht; einerseits, indem die Oligarchen hier sehr viel gekauft haben; mit sehr viel Geld, indem er die Grundstoffindustrie zum Teil rückverstaatlicht hat und den Einfluss darauf gehabt hat; mit sehr viel Geld, Kollegin Steger wird mir gleich widersprechen, die FPÖ nicht, aber wir wissen, dass er natürlich sehr viele rechte, rechtspopulistische, rechtsextreme Parteien finanziert hat, aber auch Repräsentanten finanziert hat. Er hat natürlich in den Brexit-Wahlkampf eingegriffen, er hat in Amerika in den Wahlkampf eingegriffen. Das haben wir alles beobachtet und es war hier gleichgültig, weil es uns ja gut gegangen ist. Es ist das Geld hierhergeflossen, die Oligarchen haben sich schöne Häuser und Wohnungen gekauft, haben hier viel Geld ausgegeben und es hat uns alles gepasst. Jetzt auf einmal dreht sich das um und Europa steht zusammen, und das Wichtige ist – wir werden ja dann über den militärischen Aspekt auch noch sprechen –, dass wir endlich begriffen haben, was da los ist, nämlich eine zerstörerische Kraft, die selbst ja - - Wir haben es ja mit seinem tollen Loro-Piana-Gewand gesehen, er will ja selber mit den teuren Luxuswaren und den großartigen Autos und seinen Millionenvillen und so weiter leben, aber der Lebensstil, der die Grundlage ist, also unser westliches liberales, demokratisches System, das will er zerstören, obwohl er selbst so lebt. Das ist ja der Widerspruch. Und die große Frage ist – und ich bin da nicht wahnsinnig optimistisch –, ob wir es wirklich verstanden haben und ob wir jetzt wirklich so einig auftreten werden, wie wir es bis jetzt getan haben, wenn ich heute gehört habe – letzter Satz –: Es wird jetzt eine 5 000-Mann-Eingreiftruppe der EU geben. – Finde ich eh ganz super, Herr Oberst! 2025! Das ist dann also in drei Jahren. Daran sieht man schon wieder: Also gut, in drei Jahren haben wir dann 5 000 Burschen – wahrscheinlich sind es nur Männer –, die dann was eigentlich machen werden? Das heißt, daran sieht man: Wir haben es im Moment verstanden – ob wir es wirklich verstanden haben, da bin ich leider noch skeptisch.
GROẞ: Vielen Dank. – Frau Steger, Sie können jetzt gleich widersprechen, zumindest Teilen dessen, was Helmut Brandstätter gesagt hat. Ich möchte Ihnen aber auch eine ganz konkrete Frage stellen: Präsident Selenskyj wird ja nicht müde zu betonen und den Westen sozusagen immer in die Pflicht zu nehmen, indem er sagt: Wir kämpfen auch für eure Werte. Sind das auch Ihre Werte? Sehen Sie das auch so, Frau Steger?
Petra STEGER (FPÖ): Zuallererst gestatten Sie mir, auch zu Beginn einmal festzuhalten – nur, weil das auch immer wieder anders in den Raum gestellt wird –, dass wir diesen Angriffskrieg vonseiten Russlands natürlich genauso wie alle anderen Parteien, genauso wie Österreich und wahrscheinlich ganz Europa nicht nur ablehnen, sondern auch schwer verurteilen und dass uns natürlich, so wie allen anderen auch, dieses Leid und die Bilder, die wir täglich aus der Ukraine bekommen, sehr nahe gehen und uns erschüttern. Das sind wirklich tragische Schicksale, tragische Bilder, tragisches Leid, das da in der Ukraine verursacht wird, und deswegen sehe ich es auch als Aufgabe von uns Politikern, in dieser Situation, gerade wenn die Emotionen so hochgehen, einfach rational vernünftig und zurückhaltend zu agieren und eben nicht noch Öl ins Feuer zu schießen und dass man, auch wenn jetzt vonseiten der Ukraine natürlich aus einer Situation der Not heraus Forderungen wie zum Beispiel ein Nato-Beitritt oder ein Beitritt zur Europäischen Union gestellt werden oder auch schon andere Forderungen in der Europäischen Union aufgestellt wurden, wie zum Beispiel vonseiten Polens, dass es von der Nato abgesicherte Flugverbotszonen geben soll und anderes, da eben in dieser Situation nicht auch noch Öl ins Feuer gießt, sondern Zurückhaltung lebt. Ich bin auch sehr froh, dass die Nato bis jetzt sehr zurückhaltend war. Wenn Sie mich fragen – weil das ja auch Thema der Sendung ist –, wie aus unserer Sicht Österreich sich zu verhalten hat, dann ist für mich die Antwort ganz klar: neutral. Das haben wir in unserer Verfassung verankert, wir haben uns zur immerwährenden Neutralität verpflichtet. Deswegen sehe ich es auch als Auftrag Österreichs, sich in dieser Situation nicht nur neutral zu verhalten, sondern aus unserer Tradition heraus auch eine vermittelnde Rolle einzunehmen; und ich finde es sehr schade, dass der Bundeskanzler mit seinen Ausführungen, mit seinen Wortmeldungen zu Beginn der Krise gerade diese Vermittlerrolle eigentlich zunichtegemacht hat. Gerade – und man kann das natürlich kritisieren – die engen Beziehungen Österreichs zu Russland hätten natürlich auch Potenzial ergeben, auch eine gute Vermittlungsbasis zu haben. Aber es ist natürlich unsere Aufgabe, in der Neutralität genügend Abstand sowohl zu Russland als auch zur Ukraine zu haben, um eben diese Vermittlungsrolle auch wahrzunehmen. Und nur noch einen Satz zu dem, was Kollege Brandstätter gesagt hat – es gäbe wahrscheinlich viel, wo ich jetzt gerne widersprechen würde, aber da will ich jetzt auch nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen –: Man muss natürlich auch aufpassen, dass besonders in Kriegszeiten Propaganda von allen möglichen Seiten kommt, und man darf nicht auf einem Auge blind sein. Das heißt, das, was da zum Beispiel von der Ebene der Europäischen Union bezüglich rechter Parteien und Russlandfinanzierung an Wissen veröffentlicht wurde, ist reinste Propaganda und entspricht nicht einmal im Ansatz der Wahrheit.
GROẞ: Aber da muss ich Sie jetzt trotzdem noch fragen: Diese Nähe der FPÖ, zumindest zeitweilige Nähe der FPÖ, zur Putin-Partei Einiges Russland gab es ja, das ist ja nachweislich so. Da wurde jetzt die Nabelschnur gewissermaßen sozusagen gekappt, auch von Kickl, aber es gibt diese Fotos von der Reise Hofers, Gudenus’ und so weiter und so fort. Wie sind Sie damals eigentlich dazu gestanden? Haben Sie das damals befürwortet, dass es diese Nähe gibt? Oder waren Sie schon damals kritisch?
STEGER: Erstens einmal muss ich diese Nähe in dieser Form auch abstreiten. Ich glaube, da gibt es genauso auch andere Parteien, die in der Vergangenheit diese Nähe, wenn Sie das so bezeichnen, gelebt haben, insbesondere die ÖVP. Wenn man sich besonders die Wirtschaftsbeziehungen Österreichs zu Russland anschaut, sieht man, dass gerade die ÖVP in diesem Sinne eher mehr Nähe gelebt hat. Was diesen Freundschaftsvertrag damals anbelangt: Ja, den gab es. Ich weiß noch, ich war damals schon in der Partei politisch aktiv und ich habe mich nur gefragt, was das genau bringen soll, und er wurde auch nie mit Leben erfüllt. Und da kann ich aus der inneren Sicht auch berichten, dass das damals von einer Gruppe unter der damaligen Zusage von H.-C. Strache, der bekanntlicherweise nicht mehr in der FPÖ aktiv ist, aus irgendeinem Grund abgeschlossen wurde, aber nie gelebt wurde, und dass auch damals schon Herbert Kickl wirklich ein interner Gegner von solchen Abkommen war, weil es einfach einerseits überhaupt keinen Sinn hat und man andererseits nur Angriffsfläche bietet und wir in dieser Hinsicht überhaupt keine Nähe zu Russland haben. Ich glaube, das hat man auch jetzt im Nachhinein bereits mehrfach mehr als deutlich klargestellt, dass dieser Vertrag nie Leben hatte, ausgelaufen ist und in der Partei keine Bedeutung hat.
GROẞ: Okay. Vielen herzlichen Dank. – Dann fragen wir gleich Herrn Ofenauer, wie das mit der ÖVP ist. Die Wirtschaftskreise, der damalige Wirtschaftskammerpräsident Leitl, 2014, wir kennen das: Kurz nach dem Überfall auf die Krim gab es diesen berühmten Besuch Putins in der Wirtschaftskammer, wo ihm der rote Teppich ausgerollt wurde – mit oder ohne „Schleimspur“, um bei dieser Gelegenheit auch noch Kogler zu zitieren. Nachträglich sind wir natürlich alle gescheiter und können das sozusagen im Rückspiegel alles besser einordnen. – War es ein Fehler?
Mag. Friedrich OFENAUER (ÖVP): Ich glaube, dass der 24. Februar 2022 in verschiedenster Hinsicht eine Zäsur dargestellt hat und darstellt, eine Zäsur, die es notwendig macht, viele Bereiche – verteidigungspolitisch, sicherheitspolitisch, auch energiepolitisch – neu zu denken und neu zu überdenken. Ich glaube, dass die Europäische Union eine unheimliche wirtschaftliche Macht hat, auch eine emotionale Stärke besitzt, aufgrund ihrer Geschichte, wie Europa zu dem geworden ist, was es ist, dass es aber natürlich auch Kräfte gibt, die kein Interesse daran haben, dass Europa diese Stärke auch ausspielt. Ich glaube, dass es gerade in der jetzigen Situation wichtig ist, dass die EU geeint ist und mit einer Stimme spricht. Zum Thema Neutralität: Natürlich ist Österreich neutral; um mit den Worten unseres Bundeskanzlers und unserer Verteidigungsministerin zu sprechen: Österreich war neutral, ist neutral und wird es bleiben. Aber das bedeutet nicht politische Neutralität, im Gegenteil; und deswegen ist es auch wichtig, im Rahmen der EU an entsprechenden Sanktionen mitzuwirken, damit natürlich auch gewisse Lasten auf sich zu nehmen zu müssen, um einem gemeinsamen Gegner, wenn man so will, auch Paroli bieten zu können.
GROẞ: Zur Neutralität komme ich noch, das möchte ich gleich vorausschicken, das ist natürlich ein ganz wichtiger und zentraler Punkt auch in unserer Diskussion heute. Die eigentliche Frage haben Sie jetzt sehr elegant umschifft, ich möchte trotzdem zurückkommen: War es ein Fehler, damals die wirtschaftlichen Vorteile, die sich aus dieser Nähe zu Putin ergeben haben, zu nutzen?
OFENAUER: Nun, Sie haben es selbst angesprochen: Im Nachhinein ist man immer gescheiter, auch Kollege Brandstätter hat verschiedene Fehleinschätzungen angesprochen, die es gegeben hat. Zum damaligen Zeitpunkt war es möglicherweise in der Einschätzung richtig, das zu tun. Ob man es aus heutiger Sicht wieder machen würde – wie gesagt, im Rückblick ist man gescheiter. Ich denke, dass wir unsere Energiepolitik generell neu ausrichten müssen, auch was den Zugang und das Verhandeln und die Wirtschaftsbeziehungen zu solchen oder ähnlichen Staaten betrifft.
GROẞ: Herr Reimon, Sie sind viele Jahre im Europäischen Parlament gesessen, Sie haben sich dort auch den Ruf eines, ja, durchaus widerständigen linken Politikers erworben, der auch sehr wortgewandt immer wieder Partei zum Beispiel gegen Trump ergriffen hat. Waren die Intellektuellen, die Linksintellektuellen in den Trump-Jahren zu sehr auf den amerikanischen Präsidenten fixiert und haben zu wenig Richtung Moskau geschaut?
Michel REIMON, MBA (Grüne): Es kommt immer darauf an, wer. – Trump hat sicher viel Energie auf sich gezogen, aber Putin wurde auch kritisiert. Ich kann diese Erzählung von wegen, man hat es ja nicht gewusst!, und, im Nachhinein ist man gescheiter!, schon nicht mehr hören. Ich habe 2017 ein Buch mit dem Titel „Putins rechte Freunde“ geschrieben über diese Einflussnahme, über die Fernsehsender, die er in Westeuropa betrieben hat und betreibt, die Nachrichtenagentur, die er betreibt, den Einfluss, den er auf verschiedene Parteien genommen hat – in Österreich insbesondere auf die FPÖ –, 2017! Das ist alles da gelegen – alles! – vor dem Einmarsch auf die Krim. Wenn man das jetzt mit fünf Jahren Abstand liest, sieht man, das gesamte Drehbuch ist damals schon festgestanden – er hat seitdem auch nichts geändert –: dass sich Putin die Krim nimmt und danach von der Wirtschaftskammer bejubelt wird; die FPÖ ist hingefahren und hat dort die Wahlen in einem besetzten Gebiet gutgeheißen – und jetzt will keiner etwas davon wissen. Man muss das auch klipp und klar sagen: Das alles ist jetzt ureigenstes österreichisches Interesse, sich hier gegen diese Invasion zu stellen, und zwar zum Selbstschutz! Putin hat in Österreich wie in keinem anderen Land der Europäischen Union versucht, die Politik dieser Republik zu übernehmen. Der Staatschef einer Weltmacht fährt ja nicht zum Spaß auf die Hochzeit einer Außenministerin in die Steiermark und schenkt ihr um 50 000 Euro Juwelenohrringe, weil er gerade so lustig ist und er gern privat auf eine Hochzeit in der Steiermark geht. Er hat damit eine Außenministerin mit Vetorecht im Rat der AußenministerInnen für sich – ich sage jetzt einmal – persönlich gekauft. Ich will hier ja keine Korruption so unterstellen, aber er hätte jetzt mit der FPÖ in der Regierung eine Außenministerin mit Vetorecht, die sie sich jahrelang herangezüchtet haben, und das war der Plan von Putin: Zutiefst in die österreichische Politik einzugreifen und diese Republik zum Teil zu übernehmen. Genau dagegen müssen wir uns wehren! Jeder, der jetzt sagt: Seien wir doch bitte neutral und stellen wir uns auf keine Seite!, mag das Land schon wieder ausverkaufen. Wir werden uns gegen Putin wehren müssen – im eigenen Interesse.
GROẞ: Die Frage ist, wie, Herr Laimer. Ein Krieg wird ja nicht nur militärisch, sondern immer auch diplomatisch, aber zum Beispiel auch auf der Informationsebene – Stichwort Fakenews, Propaganda und so weiter und so fort – und wirtschaftlich geführt. Der Westen reagiert derzeit mit einem wirtschaftlichen Krieg, wenn man so will, vor allem - - also auf einen Krieg Russlands vor allem mit wirtschaftlichen Antworten. Ist das eine Form der asymmetrischen Kriegführung, wenn man so will, die auch tatsächlich Erfolg haben kann? Wie schätzen Sie das ein?
Robert LAIMER: Sie hat natürlich Erfolg – und auch wenn langfristig gesehen Putin diesen Krieg eventuell militärisch gewinnt, was ich jetzt nicht behaupten kann, wird er ihn auf jeden Fall politisch verlieren. Ein Teil davon ist dieser Sanktionsmechanismus, der natürlich sehr breit und sehr konsequent gestreut wurde, bis hin zu den Paralympics und auch in Form einer gewissen Cancel Culture, die auch nicht unbedingt demokratisch ist oder dem europäischen Demokratiesystem entspricht, aber es war wichtig, dass die Europäische Union mit einer Zunge gesprochen hat – sehr selten. Man kann sich vielleicht wieder auf die Werte der Union als ehemalige Gemeinschaft im Jahr 1951 rückbesinnen, als dieser Schuman-Plan schon eine gute Strategie verfolgt hat, nämlich Wandel durch Handel, also gemeinsame Vernetzung der Wirtschaft – die mittlerweile auch in einem Finanzsystem durchaus entglitten und schon in einer globalen Willkür des Freihandels aufgeschlagen ist, auch das darf man ja nicht vergessen. Da hätte Europa, auch wenn dieser furchtbare Krieg zu Ende ist, einen neuen Weg zu gehen, nämlich jenen des ethischen Handels in einem Riesenbinnenmarkt. Also wir haben schon eine wirtschaftliche Stärke, die uns durch diesen Krieg vielleicht auch zu einer neuen politischen Stärke führen wird. Das bleibt aus meiner Sicht noch abzuwarten. Ich denke, dass die Nato sehr gut handelt in der jetzigen kritischen Phase dieses Krieges, dieses Angriffskrieges, der sich ja auch zusehends brutalisiert – wir wissen von zumindest 100 000 Söldnern im Land, zusammengezählt auf beiden Seiten. Das Söldnertum verlässt auch oft die militärische Norm, und das führt ja zur weiteren Brutalisierung des Krieges. Da besonnen zu bleiben, auch vonseiten des amerikanischen Präsidenten, ist ganz wichtig und essenziell, auch wenn der Druck auf die Nachbarstaaten im Baltikum und in Polen natürlich zunimmt. Wir dürfen auch Folgendes nicht vergessen: Moldau – ich habe erst vorige Woche den Konsul gesprochen – ist EU-Außengrenze, eines der ärmsten Länder oder das ärmste Land Europas, und dort hat man mit 300 000 Flüchtlingen Großes zu tun, um diese überhaupt zu ernähren. Bis jetzt haben sie von der EU ein paar Zelte erhalten.
GROẞ: Vielen Dank für diese erste Runde. – Herr Gruber, ich komme wieder zurück zu Ihnen. Weil das angesprochen worden ist: Selenskyj und die Ukraine wollen ja mehr, als sie im Moment von der Nato und vom Westen kriegen, nämlich diese Sperre des Luftraumes. Warum ist das tatsächlich nicht möglich? Ist die Logik: Dann haben wir den dritten Weltkrieg!, wirklich unausweichlich?
GRUBER: Also grundsätzlich: Wenn wir uns Gedanken machen, dass wir so eine Flugverbotszone durchsetzen wollen, dann heißt das natürlich, dass man erstens einmal die russische Luftabwehr ausschalten muss, dann im Grunde genommen mit Kampffliegern in die Ukraine hineinfliegen und dort dann dafür sorgen muss, dass eben keine russischen Kampfflieger ukrainisches Staatsgebiet überfliegen. Und wenn man das durchsetzen will, dann wird man dazu gezwungen sein, russische Waffensysteme, Flieger, Fliegerabwehr anzugreifen und diese auch zu zerstören. Sobald ich das mache, dort aktiv angreife und aktiv russisches Gerät ausschalte, wird davon auszugehen sein, dass die Eskalationsspirale hinaufgehen wird und das jetzt nicht durch die Russen einfach so zur Kenntnis genommen werden wird und sie sagen: Okay, das passiert halt jetzt!, und: Wir mischen uns da nicht ein!, sondern das wird wahrscheinlich dazu führen, dass eben dann auf Nato-Kampfflugzeuge geschossen wird – und dann ist natürlich die Gefahr groß, das das Ganze weiter eskaliert.
GROẞ: Jetzt hat Putin ja relativ unverhohlen auch mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht – diese erhöhte Sicherheitsbereitschaft. Glauben Sie, dass er so weit gehen würde?
GRUBER: Na ja, man soll ja grundsätzlich nie irgendetwas ausschließen – wir im Militär sind es gewohnt, immer das Worst-Case-Denken zu praktizieren –, aber diese erhöhte Bereitschaft ist jetzt einmal eine Stufe nach oben gegangen. Also es ist ein bisschen mehr, aber es ist noch nicht so weit, dass man sagen kann, das stehe jetzt unmittelbar bevor. Ich gehe auch davon aus, dass eine gewisse Restrationalität vorhanden ist, dass man also weiß, dass die Gefahr groß ist, dass dann, wenn es zum Einsatz von Atomwaffen kommt, auch von anderer Seite Atomwaffen eingesetzt werden. Man kann es nicht ausschließen, aber ich gehe in der jetzigen Situation einmal davon aus, dass es nicht dazu kommt.
GROẞ: Militärexperten wie Sie unterscheiden ja zwischen Kriegszweck und Kriegszielen. Was ist denn das jeweils aus der Perspektive Putins, soweit man das sagen kann?
GRUBER: Na ja, der Zweck sollte ja im Grunde genommen immer beantworten, warum man irgendetwas macht, und die Ziele sind halt das, was man dann zu erreichen versucht. Nach dem, was wir jetzt auch von Putin selbst gehört haben, dürfte der Zweck im Grunde genommen sein, eine neue russische Großraumsphäre aufzubauen, wovon halt Belarus und die Ukraine ein Teil sind, um dort einfach eine neue große Macht aufzubauen, die auch eindeutig im Gegensatz, sage ich jetzt einmal, zu unseren westlichen demokratischen Ideen steht. Alles, was er jetzt tut – die Ukraine anzugreifen, zu versuchen, dort die Regierung zu stürzen, gewisse Gebiete in Besitz zu nehmen –, sind im Grunde genommen militärische Handlungen, die dort vor Ort stattfinden, aber immer unter dem großen Überbau: Warum macht er das Ganze?, und das ist eben der großen Zweck, eine größere Einflusssphäre zu erreichen.
GROẞ: Wie kommt man denn aus der Eskalationsspirale wieder heraus? Eine Normalisierung der Beziehungen ist eine politische Frage und sicherlich sehr stark vom Ausgang des Krieges abhängig, aber wie kann denn dieser Krieg überhaupt ausgehen?
GRUBER: Ja, es ist derzeit sehr schwer zu beantworten, wie genau er ausgehen kann, weil das stark davon abhängig ist, wie ich vorhin gerade ausgeführt habe, was jetzt im Grunde genommen die unterschiedlichen Ziele sind, die erreicht werden sollen: Ist es eine komplette Inbesitznahme der Ukraine? Ist es ein Sturz der ukrainischen Regierung? Gibt sich Putin, sage ich jetzt einmal, vielleicht damit zufrieden, dass er nun die Krim, den Osten im Besitz hat? – All das wissen wir nicht, weil wir nicht genau hineinschauen können, was jetzt wirklich die Ziele sind. Da wird man abwarten müssen und im Grunde genommen auch schauen müssen, wie der Kriegsverlauf weiter ausschaut. Ich gehe aber davon aus – ganz egal, wie es dann ausgeht und was am Schluss herauskommt –, dass man militärisch und wahrscheinlich natürlich auch politisch jetzt nicht sofort einfach wieder zur Tagesordnung übergehen wird und sagt: Okay, jetzt ist es vorbei und jetzt machen wir halt einfach so weiter, wie es vor, ich weiß nicht, dem 24. Februar gewesen ist!
GROẞ: Eben! Weil falls Kiew eingenommen wird und sogar ein russlandtreues Regime eingesetzt wäre – im Moment natürlich alles sehr hypothetisch –, was passiert denn dann? Weder die jetzige Regierung noch große Teile der Bevölkerung würden das ja hinnehmen. Droht dann ein Guerillakrieg auf lange Jahre?
GRUBER: Also wir gehen davon aus, dass es wahrscheinlich zu so einer Art der Kriegsführung kommen wird, ja, weil wir, so wie wir bis jetzt die Widerstandsfähigkeit und den Kampfwillen der Ukrainer kennengelernt haben, davon ausgehen, dass sie sich nicht einfach so ergeben werden und sich, ja, freiwillig, sage ich jetzt einmal, Russland unterwerfen werden. Damit ist die Chance sehr hoch, dass es zu einer Art von Guerillakriegsführung kommt, die dann natürlich über eine lange Zeit – wahrscheinlich über Jahre – andauern wird. Man wird halt so wieder versuchen, einfach ständig russische Truppen zu bekämpfen und damit natürlich auch zu zeigen: Okay, dieses eingesetzte Regime ist nicht die wirkliche Ukraine, und wir kämpfen weiterhin gegen Russland, um im Grunde genommen unsere Eigenständigkeit aufrechtzuerhalten.
GROẞ: Kommen wir jetzt zu unserem eigentlichen Thema, nämlich zur Sicherheitspolitik in Europa und in Österreich. Alle Analytiker sind sich ja in einem einig, nämlich dass dieser Krieg die friedliche Koexistenz in Europa beendet und klar gezeigt hat, dass Frieden, aber auch Demokratie und Menschenrechte im 21. Jahrhundert selbst in unseren Breiten offensichtlich keine Selbstverständlichkeit sind. Markiert dieser Krieg tatsächlich auch aus sicherheitspolitischer Sicht eine Zeitenwende? Und was bedeutet das? Das ist so ein großes Wort; Olaf Scholz etwa hat es benutzt. Was muss und was kann sich überhaupt im Hinblick auf die Sicherheitspolitik ganz konkret verändern?
GRUBER: Also ich glaube, dass das sicherlich eine Zeitenwende ist, weil wir einfach seit dem Zweiten Weltkrieg nicht davon ausgegangen sind, dass das in unserer Nachbarschaft so wieder stattfinden kann. Nach dem Ende des Kalten Krieges sind wir davon ausgegangen, dass der Warschauer Pakt zerbrochen ist und dass es eine gewisse Form des Friedens in Europa gibt. Diesbezüglich wurde uns jetzt leider vor Augen geführt, dass nicht alle, sage ich jetzt einmal, diese Ziele vor sich haben, und darum gehe ich davon aus, dass man da auch nicht einfach so wieder zur Tagesordnung übergehen kann.
GROẞ: Vielen herzlichen Dank. – Für die meisten Österreicherinnen und Österreicher ist die Neutralität, und damit sind wir bei diesem Kernthema, sakrosankt, manche sagen schlicht und einfach: eine heilige Kuh. Tatsächlich ist sie ja nicht im Staatsvertrag verankert, sondern im Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955. In Artikel I heißt es dort: „Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. [...] Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“ Auch wenn es viele wohl nicht so wörtlich zitieren könnten, wie wichtig unseren Landsleuten diese Position ganz allgemein ist, das steht fest – wir haben uns umgehört.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Passantin eins: Ich finde, wir sollten unbedingt unsere Neutralität behalten. Ich bin sogar so radikal, dass ich sage, wir sollten auch nicht zu viel an Militärausgaben machen, sondern eigentlich nur ganz geringe, weil ich hoffe, dass sich dadurch auch ein Statement für die Welt ergibt, dass man sich nicht zu verteidigen braucht und trotzdem neutral sein kann, und somit die Friedenspolitik eigentlich in Gang setzt.
Passant eins: Ich denke, dass es gut ist, dass wir neutral sind. Es besteht die Gefahr oder das Risiko, dass uns – genau so wie jetzt bei dem Angriff auf die Ukraine – militärisch niemand hilft, aber ich hoffe – ich hoffe das wirklich! –, dass Österreich nie militärisch angegriffen wird.
Passant zwei: Wir sind neutral, das haben wir 1955 so beschlossen, ja, und dazu sollten wir ganz einfach stehen.
Passantin zwei: Das sollte weiter ein neutrales Land bleiben – man hat gesehen, was da im Zweiten Weltkrieg angerichtet worden ist –, und ich denke einfach, dass das gut so ist. Und was soll denn Österreich ausrichten mit diesem Bundesheer, das es hat? Und wenn es das Budget für Ausrüstung auch noch so erhöht, das bringt doch nichts! Die spucken einmal auf uns, und fertig.
Passant drei: Neutralität heißt nicht, keine Meinung zu haben. Man sollte sich sehr wohl äußern und auch dahinter stehen, das heißt, die notwendigen Entscheidungen treffen. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, dass Österreich jetzt, was weiß ich, der Nato beitritt. Das wäre für mich nicht okay.
Passantin drei: Das Einzige, wo wir uns einmischen sollten, das wäre, dass man den Menschen hilft, dass man schaut, dass man das wirklich auf diplomatischem Wege löst, nämlich mit Gesprächen, dass man versucht – also nicht nur wir Österreicher, sondern allgemein –, die beiden Parteien, sage ich jetzt einmal, an einen Tisch zu bringen, und dass man das ausdiskutiert.
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GROẞ: So weit also eine kleine Umfrage in diesem Fall unter Wienerinnen und Wienern – ich nehme an, dass das Ergebnis in ganz Österreich ähnlich ausgefallen wäre. Im Übrigen haben wir niemanden gefunden, der für die Abschaffung der Neutralität eingetreten wäre. Dennoch muss ich wieder zurückgreifen auf dieses berühmte Zitat von Wolfgang Schüssel aus dem Jahr 2001, in dem er gesagt hat: Wir müssen den Menschen ja irgendwann einmal die Wahrheit sagen. Seit wir in der EU sind, können wir doch nicht mehr neutral sein. – Am 26. Oktober desselben Jahres hat er dann noch ein Schäuferl nachgelegt: „Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr“. Hat er da nicht recht gehabt, Helmut Brandstätter?
BRANDSTÄTTER: Ich finde es ja lieb, wenn ein Politiker sagt: Irgendwann muss man den Leuten die Wahrheit sagen – also: Wir lügen sie eh immer an, aber irgendwann sagen wir die Wahrheit. – Bitte schön. Der Herr Oberst weiß das und könnte uns das, wenn wir Zeit hätten, im Detail erklären, was passiert wäre, wenn im Jahr 1985, 1986, 1987, 1988 oder auch davor russische Truppen in Österreich einmarschiert wären. Erstens einmal hätten wir uns nicht wehren können, zweitens wäre auch die Nato einmarschiert, drittens wäre Österreich Kriegsschauplatz gewesen. Dafür gab es Übungen auf beiden Seiten, und das wissen Sie, Herr Oberst, stimmt das? Wir wären Kriegsschauplatz gewesen.
GRUBER: Das ganz sicher.
BRANDSTÄTTER: Die Belgier – die neutralen Belgier – haben erlebt, was es bedeutet, wenn man neutral ist: Man wird überfallen. Die neutralen Ukrainer, die ja in keinem Militärbündnis sind, haben erlebt, was das bedeutet. Und besonders nett ist, wenn dann eine Dame sagt: Aber Geld geben wir auch nicht aus! Wir sind neutral, aber wir wehren uns auch nicht. – Das ist dann auch noch gegen die Verfassung, weil wir ja eine bewaffnete Neutralität haben. Wie ernst wir das meinen, können wir uns auch anhand der Zahlen anschauen: Die Schweizer geben diesbezüglich fast doppelt so viel aus. Sollen wir sie abschaffen? – Meine Antwort ist: Nein. Natürlich hat sie etwas zur Identität Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg und nach 1955 beigetragen, das ist überhaupt keine Frage, und für mich heißt die Frage ja nicht, ob wir für oder gegen die Neutralität sind, sondern als verantwortlicher Politiker sage ich: Was tun wir für die Sicherheit der Menschen, die in Österreich leben?, und da gibt es unterschiedliche Zugänge. Sie, Herr Oberst, haben vorhin gesagt, dass wir völlig überrascht worden sind. – Ich möchte dem insofern widersprechen, dass ich weiß, dass man im Bundesheer sehr wohl überlegt hat: Was bedeutet ein hybrider Krieg? Welche Formen von Beeinflussung der Bevölkerung gibt es bereits? Was bedeutet es, wenn unsere Elektrizität von außen durch Hackerangriffe lahmgelegt wird? – Das heißt, dass wir angegriffen werden, das haben sie immer wieder geplant und sich auch darauf vorbereitet. Können wir uns allein dagegen wehren? – Nein. Das müssen wir im Rahmen der Europäischen Union machen. Deswegen stimmt es ja auch, dass wir da schon viele Schritte gemacht haben, es gibt nämlich eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen unserer Verfassung – um das auch gleich dazuzusagen: im Rahmen unserer Verfassung –, im Rahmen unserer Neutralität. Das müssen wir aufbauen. Und wenn ich jetzt noch weiß, dass Herr Putin ja nicht nur ein Kriegstreiber ist, sondern dass er auch schon ein Terrorist war – es gibt Terroranschläge der Russen, für die er verantwortlich ist –, ist meine Angst im Moment nicht, dass russische Panzer kommen, aber was wird er machen, wenn er merkt, dass er in der Ukraine nicht weiterkommt, und er auch merkt, dass Europa zusammenwächst? – Ich befürchte zumindest, dass es dort Pläne betreffend die Frage gibt: Wie können wir zum Beispiel entweder durch Beschädigung der Infrastruktur, vielleicht auch durch Terroranschläge, Europa weiter verunsichern? Was ist meine Antwort darauf? – Gemeinsame Verteidigung. Das kann unser BVT – oder wie immer diese Organisation gerade heißt – allein nicht, das Bundesheer allein nicht, aber gemeinsam in Europa mit einer starken Kooperation, die hoffentlich irgendwann einmal in einem gemeinsamen Heer endet, können wir das. Letzter Satz: Wir werden weniger Geld ausgeben. Die Europäische Union, die 27 Länder geben miteinander deutlich mehr Geld für Verteidigung als Russland aus. General Graziano hat das jetzt wieder einmal gesagt, also der Vorsitzende des EU-Militärausschusses – so was gibt es nämlich auch –, dass wir für alles 200 Systeme haben. Wenn wir das auf 30 reduzieren, sparen wir ein Drittel der Kosten. Wir könnten also mit weniger Geld mehr Sicherheit in Europa schaffen, wenn wir es gemeinsam machen.
GROẞ: Frau Steger, jetzt sind wir doch schon wieder einigermaßen weit weg von diesem Thema der Neutralität, ich möchte wieder dorthin zurückkommen. Wie soll sie denn aus Ihrer Sicht tatsächlich gelebt werden? Ist es sozusagen nur eine Hülle, ein Etikett, oder wird es auch mit Leben erfüllt?
STEGER: Nein, ganz im Gegenteil, es soll eben nicht nur eine Hülle oder ein Etikett sein, sondern es soll tatsächlich auch gelebt werden. Ich glaube, in dem Video, das Sie gezeigt haben, ist sehr gut zum Ausdruck gekommen, dass diese Meinung auch in der österreichischen Bevölkerung verankert ist, dass die Neutralität einen hohen Stellenwert hat. Ich bin ein bisschen irritiert, einerseits von den Aussagen von Kollegen Reimon, der jetzt gleichzeitig sagt, wenn man eine neutrale Position in dieser Situation, in dieser Krise einnehmen soll und wenn man diese Forderung dieser verfassungsrechtlich verpflichtenden Neutralität lebt, dass das jetzt ein Aufgeben und Ausverkauf nach Russland ist – oder wie Sie das vorhin gesagt haben. Ich bin auch etwas irritiert, wenn Herr Kollege Brandstätter die Neutralität mit einer Bündnisfreiheit gleichsetzt, denn das ist es ja auch nicht. Die Neutralität ist natürlich ein rechtlicher Schutz und ist auch völkerrechtlich abgesichert.
BRANDSTÄTTER: Was interessiert Putin das Völkerrecht?
STEGER: Ja, schauen Sie, ich habe gesagt, dass es sehr wohl ein gewisser rechtlicher Schutz ist, weil es natürlich auch in der Staatengemeinschaft, besonders wenn es eine anerkannte Neutralität nach dem Haager Abkommen ist – bitte verbessern Sie mich, wenn ich falsch liege –, sehr wohl auch völkerrechtlich bindend ist – ist so, ja. Das heißt, das bei der Ukraine wiederum ist keine anerkannte Neutralität, sie ist nur bündnisfrei. Ich glaube, wenn die Ukraine schon im Vorfeld seit vielen Jahren erklärt hätte, dass sie neutral ist, wer weiß, ob sich Putin dann auch wirklich getraut hätte, so vorzugehen, wie er es jetzt tut. Man kann es nicht wissen, es sind Spekulationen. Insgesamt muss ich zur Neutralität sagen – und das kritisiere ich auch scharf –, dass sie sehr wohl in den vergangenen Jahren auch immer wieder sukzessive auszuhöhlen versucht wird, was natürlich aus dem Grund sehr verwerflich ist, weil es ja nicht einfach nur irgendeine Verfassungsbestimmung ist, sondern eine Staatszielbestimmung, und sogar drinnen steht, dass sie mit allen Mitteln auch - -
GROẞ: Aushöhlung heißt was konkret für Sie?
STEGER: Ja, Aushöhlung in der Hinsicht, dass natürlich durch den Beitritt zu den Vereinten Nationen oder auch zur Europäischen Union, die auch immer mehr diese Verteidigungsunion ausbaut, diese natürlich immer mehr Kompetenzen an sich ziehen. Es gibt ja auch immer mehr Forderungen eines europäischen Heeres, einer europäischen Armee, was natürlich bedeutet, dass am Schluss unter der Befehlshaberschaft von Brüssel, von von der Leyen, dann Brüssel bestimmt, wo zum Beispiel unsere Soldaten hingeschickt werden, um Krieg zu führen. Genau das sind Entwicklungen, Aushöhlungen, die wir keinesfalls haben wollen. Wir wollen eine Zurückbesinnung zur eigentlichen Neutralität und wollen sie auch schützen und erhalten. Das ist auch unsere verfassungsrechtliche Pflicht, und es ist nicht nur eine Pflicht, sondern es ist auch eine Staatszielbestimmung, das heißt, es ist auch Pflicht aller Abgeordneten, aller Regierungsmitglieder, die einen Eid auf diese Verfassung geschworen haben, das als oberste Handlungsmaxime festzulegen, und gerade da sollten wir wieder dieses Rückbesinnen auf die Neutralität mehr leben.
GROẞ: Das heißt aber, Herr Laimer, dass wir sicherheitspolitische Trittbrettfahrer sind und bleiben, oder?
LAIMER: Das lehne ich entschieden ab. Es wäre eine ungerechte Österreichbeschimpfung, insbesondere gegenüber unserem Bundesheer. Unsere Soldaten sind nämlich grenzenlos solidarisch und gemessen an der Einwohnerzahl leisten wir in Friedensmissionen einen sehr, sehr hohen Anteil in der Welt, da können wir jeden Vergleich mit den USA ziehen. Wir haben eine großartige Friedensmission. Unser Heer ist eigentlich ein Friedensheer unter strenger parlamentarischer Kontrolle, vergleichbar vielleicht noch mit Deutschland, wo es eine Wehrbeauftragte gibt, aber viele Nato-Länder haben lediglich einen Ombudsmann oder eine Ombudsfrau. Lassen Sie mich aber auch drei Zahlen nennen! Ohne unsere Neutralität, ohne unsere Sonderrolle in der Welt – ich bezeichne es so – hätten wir keinen OSZE-Sitz, hätten wir keinen UNO-Sitz, die Balance im Budget: bei der OSZE für 56 Mitglieder 138 Millionen Euro, bei der UNO für 193 Mitglieder circa 3 Milliarden Dollar und bei der Nato für 30 Mitglieder mehr als eine Billion Dollar. Da sehen Sie schon die Machtverschiebungen auch in Bezug auf die Balance zwischen Friedensmission und Militärpakt. Wenn wir beim Militärpakt sind: Wie knapp war es für Österreich eigentlich? – Am 14. Mai 1955 wurde der Warschauer Pakt gegründet, am 15. Mai unser Staatsvertrag unterschrieben, am 26. Oktober gab es das Neutralitätsgesetz. Das heißt, hätten unsere Politiker seinerzeit nicht staatsmännisch agiert, eigentlich zehn Jahre um diese Freiheit gekämpft, die uns nicht aufgezwungen wurde, sondern die wir uns aus freien Stücken verhandelt haben, wäre ich zum Beispiel erst mit 23 Jahren ins sogenannte freie System des Westens, ins neue System gekommen. Ich bin Jahrgang 1966 und wäre bis 1989 dem Warschauer Pakt unterlegen gewesen, ohne dann die deutsche Mark zu haben. Das darf man alles nicht vergessen, welche großartige Leistung in der Vergangenheit das war. Natürlich war es dann leicht für viele – da hat Schüssel sicher dazugehört –, sich zum Sieger der Geschichte zu erklären und die Neutralität etwas abschätzig zu behandeln oder als verstaubt zu bezeichnen. Ich sehe das nicht. Ich sehe die Neutralität eher als großes Pflichtenheft, weil damit verbunden ist, unsere eigene Souveränität zu sichern und zu schützen, damit unsere Neutralität auch in aller Zukunft gesichert ist. Diese Sonderrolle in der Welt sollen wir eigentlich beleben. Wien ist ein Versöhnungsort in der Welt und war es immer, hatte auch eine große Vermittlerrolle. Speziell unter Bruno Kreisky war diese Neutralität auch die Außenpolitik.
GROẞ: Herr Laimer, ich unterbreche Sie ungern. Das klingt alles natürlich sehr plausibel, aber auch ein wenig blumig in Zeiten wie diesen, wenn ich das so sagen darf. Glauben Sie wirklich, dass wir im Moment diese Rolle spielen können und dass Putin dieses Interesse haben wird?
LAIMER: Diese Rolle spielen wir - ‑ Die wurde auch verspielt, wenn man sagt, Österreich wurde die Neutralität aufgezwungen. Im Gegensatz, wir waren eigentlich Gewinner der Geschichte. Wir haben auch noch einen Marshallplan von den Amerikanern gehabt, das darf man auch nicht vergessen.
GROẞ: Herr Ofenauer: „Der Beitrag der Neutralität“ – das ist ein Zitat – „zur Sicherheit Österreichs besteht nur, wenn diese Neutralität [...] von allen Staaten akzeptiert und respektiert wird. Wie das abläuft, wenn diese Integrität nicht respektiert wird, sehen wir am Beispiel der Ukraine: sie ist bei ihrer Verteidigung auf sich alleine gestellt. Aus diesem Grunde muss über die österreichische Neutralität und ihre Ausgestaltung ernsthaft diskutiert werden, denn sie ist nur eine Seite einer Medaille“. Sie wissen, wer das gesagt hat: Das waren Sie selber, am 6. März. Am 7. März ist dann Bundeskanzler Nehammer gekommen und hat gesagt – Sie haben es heute schon zitiert –, Österreich war neutral, ist neutral und wird neutral bleiben. Was sagen Sie heute?
OFENAUER: Ich sage dasselbe wie damals. Ich würde auch bitten, den nachfolgenden Satz noch weiterzulesen, der Satz geht nämlich ungefähr so weiter: Die Neutralität ist nur die eine Seite der Medaille, die zweite Seite ist die militärische Landesverteidigung im Gleichklang mit der wirtschaftlichen, mit der zivilen und mit der geistigen Landesverteidigung. – Die Überschrift dieser Presseaussendung hat gelautet: „Der geistigen Landesverteidigung muss wieder neues Leben eingehaucht werden“, und genau das ist der Punkt. Das genau ist der Punkt. Wenn wir uns auch die eingespielten Beiträge ansehen: Die Neutralität wird mit Recht hochgehoben und mit Recht hoch gelobt, weil sie uns gute Dienste geleistet hat. Sie hat uns die Möglichkeit gegeben, Brücken zu bauen, Verhandlungsort zu sein, hat Menschen dazu gebracht, einander die Hand zu reichen und gute Verhandlungsergebnisse zu erzielen. Sie haben zu Beginn dieses Teiles auch das Neutralitätsgesetz vorgelesen, und dieser zweite Satz, die andere Seite der Medaille, wird leider immer wieder vergessen, dass nämlich Österreich diese Unverletzlichkeit des Staatsgebietes und diese Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen wird, und dieses Mit-allen-zu Gebote-stehenden-Mitteln-Verteidigen ist in den letzten Jahrzehnten etwas ins Hintertreffen geraten. Man kann im Rückblick sagen, es war nicht notwendig, es wurde nicht gebraucht, wobei verschiedene Aufmarschpläne – Kollege Brandstätter hat das erwähnt – ein anderes Bild gezeichnet hätten, also auch da wäre man im Rückblick gescheiter gewesen, leidvoll gescheiter gewesen. Aus diesem Grunde ist die Neutralität nur eine Seite der Medaille und man muss über die zweite Seite, über die militärische Landesverteidigung, diskutieren und – ich sage es noch einmal – auch über die wirtschaftliche, was Bevorratungen betrifft, auch über die zivile, was die Eigenvorsorge betrifft, und vor allem auch über die geistige Landesverteidigung, dass ich diese Gefahren, diese Bedrohungslagen, die es mittlerweile gibt, auch als solche wahrnehme, aber nicht so, dass ich Angst bekomme, sondern dass ich weiß, wie ich zu reagieren habe. Da war der 24. Februar 2022 tatsächlich eine Zäsur, weil wir gesehen haben, was passieren kann. Unsere Aufgabe wird es sein, denke ich mir, das österreichische Bundesheer und die Möglichkeiten der militärischen Landesverteidigung wieder anzupassen, an die Erfahrungen, die wir jetzt gerade machen, leidvoll machen, die die Ukrainer gerade jetzt leidvoll erfahren – wie moderne Kriege, wie moderne Kämpfe geführt werden.
GROẞ: Nur ganz kurze Nachfrage: Ich habe dieses Zitat auch deshalb ausgewählt, weil Sie ganz bewusst von der „Ausgestaltung“ der Neutralität reden, die ernsthaft zu diskutieren ist, wie Sie sagen. Was schwebt Ihnen denn da jetzt als besondere Ausgestaltung vor?
OFENAUER: Diese Ausgestaltung war so gemeint, dass die Neutralität nicht nur als Neutralität für sich alleine genommen werden kann, sondern nur im Zusammenhang mit der militärischen Landesverteidigung. Es ist eine wehrhafte Neutralität, das war mit Ausgestaltung gemeint, eine wehrhafte Neutralität, zu der wir uns im Verfassungsgesetz damals auch bekannt haben. Man muss sagen, dass die Soldatinnen und Soldaten des österreichischen Bundesheers ihren Auftrag immer hervorragend erfüllt haben, mit hoher Motivation, mit hoher Flexibilität, Improvisationsfähigkeit, und ihre Aufgaben, so wie es der politische Wille erfordert hat, auch immer erfüllt haben. Nur, dieser 24. Februar 2022 hat, denke ich mir, zu einem Paradigmenwechsel in der Beurteilung der sicherheitspolitischen und auch der verteidigungspolitischen Lage geführt, in der wir uns befinden, und macht eine Neubeurteilung auch der militärischen Landesverteidigung erforderlich.
GROẞ: Herr Reimon, wie wollen denn die Grünen die Neutralität ausgestalten?
REIMON: Modern und offensiv, glaube ich, müssen wir es machen und uns eine außenpolitische Rolle suchen, die den neuen Bedingungen entspricht, und ich glaube, dass das gut geht. Um es konkreter zu machen: Erstens, niemand will das, soweit ich das überschaue, niemand von Relevanz spricht ernsthaft von einem Nato-Beitritt Österreichs in den nächsten Jahrzehnten. Das ist einmal eine Option, die völlig vom Tisch ist und die man nicht irgendwie in den Raum stellen sollte. Alles, was an Diskussion Richtung EU-Armee und beteiligt sich Österreich geht, ist im Großen und Ganzen auch eine Luftdiskussion. Die an Russland angrenzenden Staaten, die baltischen Staaten, Polen et cetera, sind durch diesen Angriff jetzt für die nächsten Jahrzehnte so was von in die Nato eingebrannt. Die gehen dort nicht raus, die haben auch keinerlei Interesse, eine eigene Europäische Union mit einem Bruchteil der Schlagkraft zu bauen. Da wird es jetzt ein paar Konstruktionen geben, um in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik was zu machen. Da sollten wir uns, die sechs neutralen Länder in der EU, die nicht Nato-Mitglieder sind, einbringen – zu dem gleich was. Das wird es sein, eine solche europäische Außenpolitik, in der die sechs neutralen Länder eine besondere Rolle spielen können, weil wir sowohl im Rahmen der UNO als auch im Rahmen von Verhandlungen eine andere Rolle als die 21 Nato-Mitglieder in der Europäischen Union haben. Da müssen wir uns, sage ich einmal, selbstbewusst nach vorne drängen, mit den Erfahrungen, die wir haben. Wir können uns da einbringen, damit dieser Vorwurf, der dann gerechtfertigt ist, wenn wir nichts tun, nämlich dass wir Trittbrettfahrer sind und es uns bequem machen, weil wir von der Nato umgeben sind und sie uns schützt, eben nicht zutrifft, damit wir auch tatsächlich - - Der Spruch, der so oft gesagt wurde: Die ukrainische Grenze ist näher als die schweizerische und niemand hier fühlt sich bedroht. – Na, warum fühlt sich hier niemand bedroht, ob die Russen in wenigen Tagen hier sind? Weil die Nato dazwischen liegt, und diesen Wert des Schutzes wird Österreich einbringen müssen. Mein Vorschlag, worauf ich jetzt auch in den nächsten Monaten in Österreich hinarbeiten möchte, ist, dass wir tatsächlich bei solchen Situationen – konkret jetzt in Russland, aber das betrifft dann auch China – verstärkt darauf setzen, mit Demokratiebewegungen zusammenzuarbeiten, mit Dissidenten, Dissidentinnen, und versuchen, bei solchen Bedrohungen politisch und nicht militärisch hinzugehen. Lassen Sie mich bitte noch eine Sache sagen, ich finde das wirklich wichtig! Wir sollten über die österreichische Neutralität, bei aller Relevanz in der Vergangenheit, bitte ohne diese Nostalgie reden. Mir geht das mittlerweile ein bissel am Nerv, so zu tun, als ob Bruno Kreisky als großer Staatsmann die Verhandlungen nach Wien geholt hätte. Entschuldige, das waren zwei Weltmächte, die sich einen neutralen Puffer in der Mitte gehalten haben, und deswegen sind sie dorthin verhandeln gegangen. Es war ja Österreich nicht so stark in der Weltpolitik (LAIMER: Neutralität ...!), dass wir plötzlich die Supermächte hergeholt hätten, auch wenn der Boulevard das dann gern geschrieben hat. Wir haben diese Funktion zwischen zwei Weltmächten nicht mehr, also müssen wir uns jetzt selber eine nehmen. (Zwischenruf von BRANDSTÄTTER.)
GROẞ: Ganz kurz, bevor Oberst Gruber wieder zu Wort kommt.
BRANDSTÄTTER: Kollege Ofenauer, völlig richtig: Zäsur, Zeitenwende. Sagen wir es doch deutlich: Was hat der 24. Februar bedeutet? – Dass es eine Macht gibt, die sagt, ich greife andere Länder an, so wie ich will, mit allen Mitteln, und das muss ja etwas für Europa heißen. Kollege Reimon hat gerade China gesagt. Was macht China mit Taiwan? – Wir wissen es nicht. Für Europa muss das eines heißen, dass wir in einer anderen Welt leben. Ich habe diese Welt nach 1989, 1990 geliebt, es war wunderbar, wir haben alle davon profitiert – es ist vorbei! Wir leben in einer anderen Welt, in einer aggressiven Welt, und da können wir als Europa nur zwei Sachen machen. Wir können sagen: Okay, wir sind neutral, wir haben damit nichts zu tun!, und wenn die kommen, haben wir ein Pech, Disneyworld geht sich dann immer noch aus. Oder wir sagen, wir machen Politik, die heißt Machtpolitik, und zwar als wirtschaftliche Macht, aber auch als militärische Macht, dass wir als Europa auch ein Machtfaktor werden. Wenn wir das nicht werden, werden sie uns nicht ernst nehmen. Letztes Wort: Herrn Putin, der redet mit keinem österreichischen Bundeskanzler. Mit dem Nato-Mitglied Erdoğan redet er, mit den Israelis redet er – wo wir wissen, dass die sehr gut mit den Amerikanern sind –, mit Macron und der Nato redet er. Der redet mit Mächtigen, aber nicht mit Lieben.
GROẞ: Herr Oberst Gruber, noch einmal zur Neutralität anhand eines ganz konkreten Beispiels: Bei einem Angriff auf einen EU-Mitgliedstaat – weil vorhin ja die baltischen Länder angesprochen worden sind –, und das ist ja etwas, das leider nicht völlig außerhalb des Denkmöglichen ist, wäre, wenn ich das richtig verstanden habe, Österreich ja verpflichtet, auch militärisch Unterstützung zu leisten. Da gibt es diesen EU-Vertrag mit Art. 42 Abs. 7., mit dem wir eine Beistandspflicht haben. Wie könnte das dann in so einem konkreten Fall eigentlich ausschauen?
GRUBER: Ja, Sie haben das gerade richtig angesprochen, es gibt diesen Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag. Da steht aber auch drinnen, und ich darf jetzt zitieren: „Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“ – Das betrifft uns, das ist ja diese berühmte irische Klausel. Das heißt, das gibt im Grunde genommen Österreich die Möglichkeit, zu entscheiden, wie sich Österreich im Falle eines Angriffes auf einen EU-Staat verhält. Wie es sich dann verhält, ist dann im Grunde genommen eine politische Entscheidung. Die Frage ist, welche Möglichkeiten, welches Portfolio das Bundesheer im Grunde genommen dann nötigenfalls bereitstellen kann, dass man das dann einbringt. Aber was das jetzt im Detail ist, kann man so im Vorhinein nicht sagen. Die Entscheidung dafür ist eine politische Entscheidung.
GROẞ: Jetzt sind Länder wie Schweden und Finnland ja auch bekanntermaßen zumindest bündnisfrei und wollen jetzt in die Nato – warum eigentlich?
GRUBER: Wir haben das vorhin, glaube ich, schon öfters angesprochen. Österreich hat eine besondere geostrategische Lage in der Mitte von Europa, wir sind von Nato-Staaten umgeben, und das trifft jetzt zum Beispiel auf Finnland und auf Schweden so nicht zu. Die Finnen haben ja eine sehr lange Grenze zu Russland und auch die Schweden haben diverse Seegrenzen. Die spüren einfach eine andere Bedrohung, als wir derzeit in Österreich spüren, und das führt halt anscheinend bei diesen Staaten zu einem Nachdenken und zu neuen Überlegungen, ob die Art und Weise, wie sie bis dato im Grunde genommen ihre Sicherheit garantiert haben, die beste ist.
GROẞ: Reden wir zum Abschluss mit Ihnen ganz bewusst jetzt noch ganz kurz auch über die Situation des Bundesheers und wie es da weitergehen soll. Wäre unser Bundesheer, ungeachtet aller politischen Fragestellungen und Entscheidungen, aktuell überhaupt „Nato-fit“ – unter Anführungszeichen?
GRUBER: Also wir sind sicherlich Nato-fit. Wir sind ja als Österreicher Mitglied in der Nato-Partnerschaft für den Frieden und im Rahmen dieser Nato-Partnerschaft für den Frieden haben wir im Grunde genommen die Aufgabe, diverse Standards, die allgemein in westlichen Staaten und in westlichen, sage ich jetzt einmal, Militärs gültig sind, zu erfüllen, und das machen wir. Da gibt es auch immer wieder sogenannte Zertifizierungsübungen, bei denen wir bis dato immer sehr positiv abgeschnitten haben, und daher kann man mit gutem Gewissen sagen, dass wir das wären, ja.
GROẞ: Jetzt gibt es ja - -
GRUBER: Ich darf noch vielleicht einen wichtigen Punkt dazu sagen: Das gilt auch im Grunde genommen für alle EU-Staaten, nachdem ja die meisten EU-Staaten auch Nato-Staaten sind. Man will sich da im Grunde genommen nicht eine Doppelgleisigkeit leisten, zwischen EU und Nato, weil das im Grunde genommen für 21 von 27 keine Relevanz hat, die einfach nach den normalen Nato-Standards arbeiten.
GROẞ: Abschließende Frage: Jetzt wird es mehr Geld für das Bundesheer geben. Wie soll das Ihrer Meinung nach eingesetzt werden, so mit der Gießkanne über das ganze Heer drüber oder soll man bewusst Schwerpunkte setzen, damit wir uns auch europäisch zum Beispiel ganz punktuell dann mit unseren Fähigkeiten, Kapazitäten und Möglichkeiten einbringen können?
GRUBER: Also wir haben es jetzt, glaube ich, in der Neutralitätsdiskussion eh gut gehabt. Die Neutralität Österreichs bedeutet für das Bundesheer, dass wir sie auch schützen und bewahren können. Und wenn wir neutral sind und in keinem Bündnis, dann müssen wir einmal davon ausgehen, dass wir ein großes, breites Spektrum an Fähigkeiten abdecken müssen. Nichtsdestotrotz, gibt es gewisse, sage ich jetzt einmal, Bedrohungen, die in Zukunft auf das Bundesheer verstärkt zukommen werden. Wir haben ja heute schon über die hybride Kriegsführung gesprochen: dass es vielleicht nicht nur um die klassischen Panzer, die durch ganz Ungarn durchmarschieren, bis sie irgendwann einmal in Österreich sind, geht, sondern dass es da eben um systemischen Terrorismus et cetera geht – und auf diese Sachen muss man sich im Grunde genommen konzentrieren. Die großen Bereiche, sage ich jetzt einmal, sind im Bereich der Mobilität, im Bereich der Schutzausrüstung für die Soldaten, im gesamten Luftbereich, Digitalisierung und Cyberdrohnen, Drohnenabwehr, Aufklärungsfähigkeiten – das sind im Grunde genommen die großen Sachen, bei denen ein größerer Aufholbedarf gegeben ist.
GROẞ: Dann sage ich vielen herzlichen Dank, Herr Oberst Gruber, dass Sie bei uns waren. Ich möchte jetzt noch den Fokus auf ein anderes Thema lenken: Noch vor zwei Wochen hat EU-Außenbeauftragter Josep Borrell gesagt, dass mit fünf Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine gerechnet werde. Heute klang das in Brüssel bereits anders. In den ersten Tagen des Krieges seien vor allem jene geflohen, die über ein Auto verfügten oder Verwandtschaft in anderen europäischen Ländern hätten, erklärte Deutschlands Außenministerin Baerbock. Mit zunehmender Brutalität des russischen Krieges würden aber nun weitere Menschen kommen, „die in Europa niemanden haben, die überhaupt nichts mitnehmen konnten“. In Österreich ist die Hilfsbereitschaft groß, es gibt professionelle Unterstützung durch die großen Organisationen, aber auch viele kleine private Initiativen.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Sprecherin: Hochbetrieb im Erstaufnahmezentrum in Wien-Leopoldstadt: Die Stadt Wien hat hier eine Sporthalle kurzfristig adaptiert, um Kriegsflüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen. Es sind fast ausschließlich Frauen und Kinder, die hier ankommen. Viele haben alles verloren – außer ihre Hoffnung.
Marina, 31 (Ist mit ihrer Schwester und ihrer Stiefmutter geflohen): Ich glaube, dass unser Land diesen Krieg gewinnen wird und dann will ich wieder zurück, denn das ist unser Heimatland, unser Zuhause. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist.
Sprecherin: Iryna hat die Ukraine schon vor dem Angriff im Februar verlassen. Die Dolmetscherin lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern seit zweieinhalb Jahren in Wien.
Iryna (Lebt seit zweieinhalb Jahren in Wien): Es ist meine persönliche Verpflichtung, hier zu helfen, meinem Land, meinem Volk. Meine Mutter, mein Bruder und seine Familie sind in Kiew, alle meine Freunde sind in der Ukraine. Es ist meine Verpflichtung, hier zu helfen.
Sprecherin: Helfen wollen aber auch viele Einheimische. Yannick war schon 2015 als Flüchtlingshelfer aktiv.
Yannick (Flüchtlingshelfer bei „Train of Hope“): Es ist schön, zu sehen, wie schnell, wenn es wirklich, sage ich einmal, um etwas geht, also wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen, irgendwie der humanitäre Geist wieder zusammenfindet. Also wenn man jetzt Corona anschaut, sieht man, wie die Menschen da teilweise sehr zerstritten auseinandergerannt sind, aber sobald irgendwie ein Einschnitt ist, der uns dann alle betrifft, habe ich den Eindruck, dass wir sehr schnell wieder den menschlichen Kern in uns entdecken.
Sprecherin: Überall im Land ist die Hilfsbereitschaft groß. Auch hier in Melk hat die Bevölkerung nicht gezögert und in kürzester Zeit Hilfe und Unterkünfte für mehrere Familien zur Verfügung gestellt.
Patrick Strobl (Bürgermeister von Melk): Am Sonntag hat uns ein Anruf erreicht, dass am Montag ein Autobus mit rund 33 Personen in unsere Stadt kommen wird, mit Flüchtlingen aus der Ukraine. Wir haben auch 2015 180 Flüchtlinge in Melk aufgenommen und da war auch eine Hilfsbereitschaft zu verspüren, aber bei der Hilfsbereitschaft, die derzeit gegeben ist, bei diesem Zusammenhalt, diesem Zusammenstehen, zu sehen, dass es dieses Mal vorrangig nur Frauen und Kinder betrifft, sind sehr, sehr viele Emotionen dabei; und da nehme ich mich selbst gar nicht heraus. Wenn man das sieht, dass 13 Kinder mitten in der Nacht mit einer Plastiktüte vor einem stehen mit weinenden Augen, und wenn man selbst Familienvater ist, dann ist das schon sehr emotional.
Sprecherin: Valentina ist mit ihrer Tochter Natalya, ihrer Schwiegertochter und ihren Enkelkindern aus Schytomyr geflüchtet. Die Männer der Familie mussten sie zurücklassen.
Valentina (War in Schytomyr Englischprofessorin): Jeden Tag Fliegeralarm, in der Früh, mitten in der Nacht, sie bombardieren unsere Stadt, auch Wohnhäuser und sogar eine Geburtsklinik.
Sprecherin: Die Fotos auf ihren Handys zeigen Bilder einer zerstörten Heimat, eines zerstörten Lebens.
Natalya (Ist mit ihren Töchtern geflüchtet): Es ist wunderbar hier, aber wir wollen wieder nach Hause. Wir hatten ein gutes Leben in der Ukraine, wir wollen das wiederhaben. Wir sind sehr dankbar, wie wir hier aufgenommen werden, aber zu Hause ist zu Hause.
Sprecherin: Ob und wann ihre Familien wieder nach Hause können, ist ungewiss. Bis dahin wird versucht, zumindest den Kindern so etwas wie Normalität zu bieten.
Patrick Strobl: Als nächsten Schritt wollen wir jetzt versuchen, dass eure Kinder auch in unsere Schule gehen können. Die ersten zwei Kinder sind seit heute schon in der Schule und wir werden auch auf euch zukommen, dass ihr schnell Deutsch lernen könnt, die Erwachsenen werden einen eigenen Deutschkurs bekommen.
Sprecherin: Bis es soweit ist, weiß man sich mit einer Übersetzungsapp zu helfen.
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GROẞ: Bei uns hier im „Politik am Ring“-Studio begrüße ich jetzt Frau Velina Tchakarova. Sie stammt ursprünglich aus Bulgarien und lebt seit 15 Jahren in Österreich, hat Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik in Wien, Heidelberg und Sofia studiert und ist derzeit Direktorin am Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik. Frau Tchakarova, ist das eigentlich auch ein Kalkül Putins, die Menschen systematisch aus dem Land zu vertreiben, aus der Ukraine zu vertreiben?
Velina TCHAKAROVA, M.A.: Durchaus, das gehört zu Putins Plänen. Das heißt, er führt nicht nur Krieg gegen das Land, gegen die Souveränität eines souveränen Staates, also eines unabhängigen Staates, sondern durchaus auch gegen die ukrainische Bevölkerung.
GROẞ: Was hat er davon?
TCHAKAROVA: Er will den Widerstand der Bevölkerung brechen, das heißt, den Widerstandswillen der Bevölkerung brechen. Er möchte und versucht jetzt, durch diesen umfassenden Krieg tatsächlich diese Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Bevölkerung – wir reden von 44 Millionen Menschen – und wie man mitbekommen hat, sind die Männer auch vor Ort, sie wollen ihr Land verteidigen – brechen.
GROẞ: Acht bis zehn Millionen UkrainerInnen – und überwiegend sind es Frauen mit Kindern – auf Europa verteilt: Polen trägt hier eine ganz große Last, aber auch Rumänien, das kleine und arme Moldau, Deutschland mit Sicherheit auch, das ist also eine gewaltige Herausforderung. Wir haben ja auch 2015 zunächst einmal eine große Solidaritätswelle in der Bevölkerung gesehen, die dann gekippt ist. Sehen Sie diese Gefahr wieder, auch wenn es diesmal eben überwiegend weiße Frauen mit Kindern sind?
TCHAKAROVA: Zuerst will ich unterstreichen, dass Polen schon einmal über 1,2 Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat, und zwar beim ersten Mal als Russland eigentlich einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, das war im Jahr 2014. Durchaus gab es dann auch die Flüchtlingskrise 2015, wo man tatsächlich Bilder gesehen hat, dass junge Männer von unterschiedlichen Kriegsorten geflüchtet sind. Jetzt ist die Solidarität für die ukrainische Bevölkerung da, weil man auch sieht, dass ein unprovozierter Krieg begonnen hat, dass ein Land gegen ein anderes Land vorgeht, und man tatsächlich jeden Tag die Szenen von dort mitbekommt, teilweise Szenen wie aus dem tschetschenischen Krieg in den 1990er-Jahren, also Stichwort: Mariupol, und man fühlt mit. Man will natürlich in allen EU-Mitgliedstaaten helfen, dadurch erwarte ich eigentlich, dass diese Solidarität nicht abnehmen wird, sondern dass, ganz im Gegenteil, alle Mitgliedstaaten ihren Beitrag leisten werden, wenn es um die Flüchtlinge geht.
GROẞ: Dann schaue ich einmal kurz in unsere Runde: Sehen Sie das auch so?
BRANDSTÄTTER: Wenn ich etwas sagen darf: Ich möchte zunächst sagen, dass es natürlich um die Destabilisierung der Ukraine geht, aber darüber hinaus, glaube ich, verfolgt Putin mit großer Freude den Flüchtlingsstrom in den Westen. Er will natürlich aus verschiedenen Gründen die Europäische Union destabilisieren, er macht das ja mit anderen Maßnahmen auch. Ich glaube, dass ist das, was er jetzt ganz bewusst macht: Je mehr Flüchtlinge kommen, umso mehr wird er darauf hoffen, dass das eben nicht eintritt, sondern dass, ganz im Gegenteil, bei uns auch wieder Unzufriedenheit da sein wird. Ich glaube, dass wir alle gefordert sind, wirklich alle gefordert sind, nicht nur in Österreich, sondern in allen europäischen Ländern, Programme aufzustellen und dafür zu sorgen, dass das eben nicht der Fall sein wird, dass wir uns nicht destabilisieren lassen. Der nächste Punkt, bei dem wir zeigen können, dass wir zusammenhalten, ein Punkt, der mir auch wichtig ist, ist: Es kommen ja auch Studentinnen und Studenten aus anderen Ländern, die in Kiew studiert haben, jetzt hierher, und da sagt man: Nein, du kannst nicht bleiben! – Ich glaube, da müssen wir uns auch – da schaue ich Kollegen Reimon an – gemeinsam etwas einfallen lassen: Denn warum soll jemand nur weil er, ich weiß nicht, aus einem anderen Land kommt, nicht auch hier sein? Ein letzter Punkt, der für die Ukraine auch bedauerlich ist: Ich habe bei diesen Demonstrationen, Veranstaltungen, die es jetzt für die Ukraine gibt, auch mit Frauen gesprochen, und das sind sehr gut ausgebildete Frauen, die natürlich in der ukrainischen Wirtschaft fehlen. Das ist ja der nächste Punkt der Destabilisierung, dass sie dort fehlen und dass das leider auch ein Problem ist. Da kann man sagen, dass das für unsere Volkswirtschaften gut ist, weil die sehr schnell Deutsch lernen werden oder auch mit Englisch weiterkommen, aber natürlich fehlen sie in der Ukraine.
GROẞ: Zu diesem Thema – Flüchtlinge aus der Ukraine, aber ursprünglich aus anderen Ländern stammend –, Frau Steger, hat Ihr Landesrat Waldhäusl in Niederösterreich schon gesagt, es muss so etwas wie eine Triage bei den Flüchtlingen geben. Das heißt, es gibt dann sozusagen Erste-Klasse-Flüchtlinge, nämlich die Ukrainerinnen und Ukrainer, und dann gibt es die zweite Klasse, die seiner Meinung nach selbstverständlich kein Recht haben, hierzubleiben. Was sagen Sie dazu?
STEGER: Also ich würde das anders ausdrücken. Ich glaube, dass es in erster Linie – und das haben wir auch im Hauptausschuss schon debattiert, weil wir dort die Vertriebenen-Verordnung auch beschlossen haben; und ich bin ja auch Mitglied des Hauptausschusses – natürlich Aufgabe ist, den UkrainerInnen zu helfen, es sind ja hauptsächlich Frauen und Kinder, die jetzt kommen. Das unterscheidet die Situation auch dramatisch von jener, wie wir sie 2015 erlebt haben: einerseits natürlich die Bilder, die wir täglich über die Medien mitbekommen, andererseits, dass es tatsächlich Frauen und Kinder sind, viele auch tatsächlich nur mit dem Ziel, jetzt nach Europa zu fliehen, um diese Krise abzuwarten und dann auch wieder in die Heimat zurückzukehren. Das ist natürlich komplett konträr zu jenem, was wir 2015 erlebt haben, als zahlreiche Flüchtlinge, auch Wirtschaftsmigranten über Kontinente, über viele sichere Drittstaaten nach Europa gekommen sind, sich in die Hände von Schleppern begeben haben und, und und, und bei denen sich im Nachhinein herausgestellt hat, dass rund zwei Drittel gar keine Asylberechtigung haben und sie daher in Wirklichkeit illegale Migranten waren, die dann allerdings aufgrund fehlender Rückführungsabkommen in der Europäischen Union irgendwie bleiben und nicht mehr zurück in ihr Land gehen. Wenn ich zurückkomme zu dieser Vertriebenen-Verordnung, die im Hauptausschuss beschlossen wurde: Das Problem, das wir dabei sehen, wenn wir das auf Drittstaatsangehörige ausweiten – was ja getan wurde, es ist ja schon so, dass jeder, der in der Ukraine eine Aufenthaltsgenehmigung hatte, Student war, was auch immer, jetzt auch aufgenommen werden kann –, dass das einfach einem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Wir haben auch in der Vergangenheit gesehen, dass genau solche Signale dazu beitragen – noch dazu wenn eine Ministerin Edtstadler rausgeht und sagt, wir nehmen ohne Limit auf –, dass natürlich viele Drittstaatsangehörige ins Land kommen, das wiederum missbrauchen und einfach sagen, sie kommen aus der Ukraine, haben keine Papiere mehr, sie sind geflohen und, und, und; dass wir dann wieder in eine Situation übergehen, in der dann nicht mehr Frauen und Kinder kommen, sondern eben wieder Personen aus aller Herren Länder nach Europa kommen, die behaupten, sie wären in der Ukraine gewesen. Dann gibt es ein mühsames Ermittlungsverfahren, wobei die Frage ist, ob überhaupt herauszufinden ist, woher die Personen tatsächlich kommen, beziehungsweise wenn man draufkommt, dass sie gar nicht aus der Ukraine sind, dass sie dann Asyl sagen und wir dasselbe Problem haben wie vorher, nämlich dass sie in Europa bleiben und nicht mehr außer Landes zu bringen sind.
GROẞ: Gibt es zum Thema Flüchtlinge beziehungsweise Umgang mit Flüchtlingen noch Wortmeldungen? Wenn das nicht der Fall ist, wenn wir uns da bei diesem Thema ansonsten einig sind, dann würde ich wieder zu Frau Tchakarova zurückgehen.
TCHAKAROVA: Es gibt tatsächlich einen Punkt, den ich unbedingt erwähnen will, und das ist natürlich die Instrumentalisierung von Flüchtlingswellen, etwas, das Weißrussland erfolgreich durchgesetzt hat. Ich möchte nur daran erinnern, dass auch Flüchtlingswellen instrumentalisiert werden, und Weißrussland ist es tatsächlich gelungen, Polen und auch die baltischen Staaten monatelang sicherheitspolitisch herauszufordern. Das darf man auch nicht vergessen und auch in Zukunft nicht ausschließen, dass es weitere solche Versuche geben kann.
GROẞ: Die EU, Frau Tchakarova, arbeitet derzeit an einem neuen strategischen Kompass. Sie arbeitet schon länger daran, hat das jetzt wieder auf die Tagesordnung gehoben. Heute wurde darüber debattiert, über eine neue Verteidigungsstrategie, wenn man so will. Bereits im November wurde interessanterweise ein erster Entwurf vorgestellt, und das Interessante daran ist, dass das Wort Russland in diesem ersten Entwurf kein einziges Mal vorkommt. Wie kann es Ihrer Einschätzung nach sein, dass die EU Russland und Putin überhaupt nicht auf dem Radar hatte?
TCHAKAROVA: Beim strategischen Kompass geht es aber nicht an erster Stelle um das eine oder andere Land. Was heute eigentlich beschlossen wurde, ist ein neues strategisches Dokument für die 27 Mitgliedstaaten. Da geht es um vieles mehr als nur Russland. Erstens geht es natürlich um die künftigen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten. Es wurde heute schon einiges dazu erwähnt, wie wichtig das Thema der europäischen Sicherheit und Verteidigung eigentlich ist, und wo Österreich – und das will ich unterstreichen – tatsächlich einen sehr, sehr starken Beitrag leistet. Da geht es aber natürlich auch um das Thema Krisenmanagement, wo auch viel Bedarf ist, und da geht es auch um Themen wie Resilienz und auch Partnerschaften in der Welt. Das heißt, die Sicherheitsbedrohungen wurden jetzt neu formuliert. Dies wurde allerdings von den Verteidigungsministerien der 27 Länder durchgeführt, das sogenannte 360-Grad-Risikobild, da haben die Gesellschaft und auch die Institute noch keinen tatsächlichen Zugang. Da geht es primär darum, langfristig zu planen. Das wird jetzt unser strategisches Dokument. Da ich von keiner globalen Strategie oder von einem Update der globalen Strategie vom Jahr 2016 ausgehe, ist es eigentlich ein positives Zeichen, dass wir es gerade im Laufe dieses Krieges geschafft haben, dass sich die 27 Mitgliedstaaten tatsächlich geeinigt haben und dieses Dokument beschlossen haben. Das wird jetzt als Grundlage dienen, aber die Diskussion über die sicherheitspolitischen Bedrohungen wird lange dauern. – Und Russland, das kann ich Ihnen versichern, wird Teil dieser sicherheitspolitischen Bedrohungsanalyse bleiben!
GROẞ: Da Sie jetzt diese Einigkeit wieder angesprochen haben: Die EU ist derzeit geschlossen wie nie. Ein Erfolg Putins könnte man zynisch sagen. Wie lange hält das an? Kann dieser Krieg, je länger er dauert, letztlich trotzdem auch wieder zur Zerreißprobe in Europa werden?
TCHAKAROVA: Durchaus; und wir müssen uns bewusst sein, dass auch gewisse Konfliktlinien innerhalb der EU-Familie bestehen und leider Gottes fortbestehen werden: Es gab heute schon Indizien, dass Ungarn zum Beispiel seine roten Linien hat, Stichwort: Gasexporte aus Russland; Stichwort: eine mögliche Peacekeeping-Mission, was jetzt auch im Raum steht, ein Vorschlag seitens Polen. Insofern befürchte ich, dass es, je nachdem, wie erfolgreich der russische Präsident mit der Kriegsführung sein wird, auch zu Konfliktlinien, zu Brüchen innerhalb der EU-Familie kommen könnte. Vor allem geht es aber jetzt nicht um die EU selbst, sondern es geht vielmehr darum, dass andere externe Akteure ihre geopolitischen und geoökonomischen Interessen hier bei uns auf dem alten Kontinent gegeneinander ausspielen – da geht es um die USA, da geht es um Russland, da geht es um die Türkei, die Golfstaaten sind mittlerweile sehr stark präsent, China macht sich sehr stark bemerkbar. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass jedes Mal, wenn neue Konfliktlinien entstehen, diese gnadenlos von anderen externen Akteuren, ob es Partner oder Rivalen oder Wettbewerber sind, gnadenlos ausgenutzt werden.
GROẞ: Spannend ist in diesem Zusammenhang ja auch, wie sich die Stimmung, sage ich jetzt einmal, am Balkan entwickeln wird. In dieser ganzen Frage steht ja die Sorge um den serbischen Nationalismus wohl ganz besonders im Vordergrund, und den hat Putin in der Vergangenheit ja immer wieder ganz bewusst bedient.
TCHAKAROVA: So ist es, und das ist jetzt sozusagen die Stichprobe. Der russische Botschafter in Bosnien hat sich schon geäußert und hat sich mehr oder weniger verbale Androhungen erlaubt, so auf die Art, dass Russland auch da, also sprich in Serbien, in Bosnien, Stichwort: Republika Srpska, Hebelfunktionen hat. Und sollte der Krieg noch länger dauern, dann hat Russland in der Tat eigentlich die Möglichkeit des politischen Einflusses, aber auch die Möglichkeit, durch Hebelfunktionen in den Nachbarländern Europas gewissen Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben.
GROẞ: Jetzt schaue ich auch zu diesem Thema noch einmal in die Runde. Könnte Österreich hier eine besondere Rolle spielen, als Vermittler zum Beispiel? – Herr Reimon.
REIMON: Österreich kann sich hier natürlich wieder als Vermittler anbieten, und am Balkan gibt es mit unseren guten Kontakten vielleicht bessere Chancen als in anderen Regionen. Aber noch einmal, ich würde - - da hat der Kollege Brandstätter völlig recht gehabt, das ist auch eine Machtfrage. Da wird dann auch dann mit dir verhandelt, wenn du bei sowas stark bist. Nur weil wir nett reden können, nimmt uns jetzt niemand als Verhandlungspartner. Dafür brauchen sie uns nicht. Da müssen wir uns auch reindrängen in solche Sachen und uns zu einem Faktor machen. Darf ich auf eines noch kurz eingehen? – Dieser strategische Kompass, den Sie vorhin erwähnt haben, der ist jetzt zwei Jahre lang verhandelt worden, der wird zufällig rund um diese Ukraineinvasion beschlossen. Der wäre auch sonst jetzt zum Abschluss gestanden, deswegen ist er nicht auf Russland fokussiert. Er würde anders ausschauen, wenn den Grüne verhandeln, aber es stehen schon einige Dinge drin, die ich auch sehr vernünftig finde: dass man auf eine gemeinsame digitale Verteidigung setzt, dass man über das Militärische hinaus in einer umfassenden Art und Weise auf seine Sicherheit setzt, dass die zivile Außenpolitik in Krisenregionen gestärkt wird. Dass das alle gemeinsam machen ist ja etwas vollkommen Richtiges, und es ist richtig, das nicht irgendwie auf Russland oder so zu fokussieren. Ich möchte das hier – wir werden es heute nicht diskutieren können, ist nicht das Thema, aber damit nicht in drei Jahren wieder jemand sagt, das hat niemand kommen sehen – - - das große geopolitische Problem der nächsten Jahrzehnte wird China, wenn dort keine Demokratisierung erfolgt. China, so wie es jetzt als Diktatur geführt wird, wird nicht immer ein rein problemloser ökonomischer Riese bleiben, der nur ein bisschen finanziert. Die investieren massiv in Afrika, um dort einen Raum davor zu bauen. Es war kein Zufall, dass aus Afrika so wenige Verurteilungen der Invasion in der Ukraine kamen. Das ist ein Thema, das wir uns anschauen müssen, und darum wird es strategisch auch gehen.
GROẞ: Nur ganz kurz, weil Sie jetzt China angesprochen haben: Frau Tchakarova, Sie beschäftigen sich auch mit China sehr intensiv. Jetzt in aller Kürze, weil wir das natürlich nicht alles abhandeln können, aber: Wie wird sich denn China in diesem Konflikt orientieren? – Bis jetzt hat man das Gefühl, man versucht, sich nicht festzulegen, aber irgendwann wird China vielleicht Farbe bekennen müssen.
TCHAKAROVA: Erstens befasse ich mich mit China-Russland, und zwar seit 2014, und seit 2014 habe ich darauf verwiesen, dass wir eigentlich ein neues Phänomen in der internationalen Politik erleben werden, nämlich einen Modus Vivendi systemischer Koordinierung zwischen China und Russland in den Schlüsselbereichen der Weltpolitik. Und was wir jetzt erleben - - ich wage zu behaupten, dass ein Teil der russischen Pläne von Anfang an eigentlich auch auf diesen Modus Vivendi Bezug genommen hat, nämlich weil der russische Präsident nie diesen umfassenden Krieg gegen die Ukraine gewagt hätte, hätte er sich nicht auf die chinesische Unterstützung verlassen. Das heißt, China hat aus meiner Sicht in Wirklichkeit schon mehr oder weniger Farbe bekannt. In Wirklichkeit wird China, egal, was die chinesischen Äußerungen jetzt sind, Russland nicht fallen lassen, und zwar weil China ganz genau weiß, dass der tatsächliche systemische Wettbewerb zwischen den USA und China stattfinden wird, und zwar nicht in Europa, sondern im Indopazifik. Wenn das schon mal Tatsache ist, weiß China, dass Russland jetzt eigentlich die USA nach wie vor hier in Europa beschäftigt. Und sobald Russland eigentlich entfernt - - also als Bedrohung, als Rivale wegfällt, ist China als Nächstes dran.
GROẞ: Okay, ganz kurz!
BRANDSTÄTTER: Erstens: China ist sehr aktiv am Balkan, müssen wir sehr gut aufpassen. Kollegen Ofenauer möchte ich noch kurz ein bisschen provozieren, also einfach: Mich interessiert, was Sie dazu sagen, wenn der Bundeskanzler zu Vučić fährt, zum serbischen Präsidenten, und den irgendwie umarmt und sagt: Ja, also wir freuen uns, sozusagen das nächste EU-Mitglied! In einer Phase, in der Serbien sich eindeutig auf die russische Seite stellt, muss man dem sagen: Wenn du dabei bleibst – und da kommen andere Dinge auch dazu, nämlich kein demokratisches Medienwesen et cetera – dann wird Serbien nicht beitreten können! Wenn es diese Auseinandersetzung – und ich sehe sie, Frau Professor, völlig auch so – geben wird, liberale Demokratien gegen Diktaturen, dann können wir nur auf der einen Seite oder auf der anderen Seite sein. Das müssen wir dem Herrn Orbán sehr klarmachen, das müssen wir dem Herrn Vučić klarmachen und allen anderen auch. Wenn wir jetzt diesen Systemkampf haben werden, und wir haben ihn de facto, müssen wir als Europa, als liberale Demokratie stark sein, aber gemeinsam, und die, die nicht mitmachen wollen - - wir können niemanden zwingen, wir werden nicht in Serbien einmarschieren, völlig klar. Er soll mit Russland machen, was er will, mit China, aber er kann nicht Mitglied der EU werden, wenn er sich in der Ukrainefrage nicht ganz eindeutig gegen Russland ausspricht.
GROẞ: Herr Laimer.
LAIMER: Wir ... in einer massiven Zeitenwende, und da geht es, was die Dame richtig sagt, wenn man jetzt nicht sehr sensibel vorgeht, die Russische Föderation de facto an die chinesische Volksrepublik „angliedern lässt“ – unter Anführungszeichen bitte, ja –, dann verschiebt das sämtliche Sachen in der Hemisphäre und Russland wird sich stärker nach Asien orientieren, ist aber eigentlich ein europäisches Land. Wir dürfen die Russische Föderation auch nicht in Europa verlieren. Das ist ein Balanceakt, der uns jetzt droht, denn China wird sein Spiel weiterspielen. Es stimmt schon: ist eine Diktatur. Und was macht China? – Verhandelt die Seidenstraße bilateral –bilateral –, braucht keine EU, so ehrlich muss man sein. Die EU hat auch Doppelbödigkeiten: Die bösen Oligarchen – wer hat denn die goldenen Pässe ausgestellt? Man muss jetzt ehrlich mit dieser Zeitenwende umgehen und muss reinen Tisch machen. Das ist jetzt ganz wichtig.
GROẞ: Herr Ofenauer, wollen Sie noch auf Brandstätter erwidern?
OFENAUER: Natürlich. Ich glaube, es ist unbestritten, dass Österreich große Interessen an einem stabilen Westbalkan hat. (Ruf: Klar!) Dass die Situation dort eine höchst komplexe ist, ist auch unbestritten, dass auch für die Menschen am Westbalkan eine Option eines Beitritts zur EU auch eine Zukunftshoffnung ist, ist, glaube ich, auch klar. In dieser Gemengelage müssen wir uns bewegen, in dieser Gemengelage müssen wir agieren: natürlich auf der einen Seite klarmachen, dass gewisse diktatorische Auswüchse nicht zu akzeptieren sind, sondern eben diese rechtsstaatlichen Vorgaben, die für die EU ganz wichtig sind, einzuhalten sind. Trotzdem ist es wichtig, den Menschen eine Perspektive zu geben, denke ich, weil dieses Europa in seiner Vielfalt ja eine unheimliche Kraft und eine unheimliche Stärke hat, in dieser Vielfalt aber auch Bruchlinien liegen, die dann von manchen Kräften ausgenutzt werden können. Ich glaube, da sind wir auch wieder gefordert, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, wo diese Bruchlinien liegen und wer dann diese Bruchlinien ausnützen möchte, um diese Stärke der Europäischen Union, die sie hat, wenn es darauf ankommt, zu unterwandern.
BRANDSTÄTTER: Vielleicht noch einen kurzen Satz! In einem gebe ich Bundeskanzler Nehammer recht – weil wir darüber auch im EU-Hauptausschuss gesprochen haben –: Ein Format 17 plus eins, also 17 EU-Länder mit einem China, darf es überhaupt nicht geben. Da waren wir uns einig. 27 plus eins ja, aber diese Spaltungstendenz müssen wir aufhören. Halten wir zusammen, sonst haben wir keine Chance!
TCHAKAROVA: Und mittlerweile 16 plus eins. Ich darf nur einen Satz – sehr provokativ –, einen sehr provokativen Satz muss ich auch warnend sagen: Sollte der russische Präsident tatsächlich Erfolg verzeichnen mit diesem umfassenden Krieg in der Ukraine, würde ein Russland auch als Juniorpartner von China die europäische Sicherheitsordnung neu schreiben. Das muss uns auch bewusst sein, dass ein Russland auch als Juniorpartner tatsächlich enormen Schaden zufügen wird. Ein zweiter sehr provokanter Satz meinerseits, und zwar wenn es um den Westbalkan geht: Ich darf auch noch daran erinnern, dass der erste Krieg Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014 nicht wegen des Nato-Beitritts, sondern wegen des EU-Beitritts zum Binnenmarkt tatsächlich begann. Das heißt, auch wir sind in den Augen des russischen Präsidenten eine Bedrohung, weil wir eigentlich Russland von natürlichen Märkten verdrängen. Also mit wir meine ich natürlich die EU-Familie mit unserem erfolgreichen, ich würde sogar meinen erfolgreichsten, geoökonomischen Projekt, nämlich das Projekt der EU-Erweiterung. Da sollten wir - - Wenn wir jetzt nicht geoökonomisch denken, dass der Westbalkan zu uns gehört, die Westbalkanländer geoökonomisch zu uns gehören, wird jemand anders dort diesen Raum für sich beanspruchen.
GROẞ: Ich möchte schön langsam zum Schluss kommen. Ist es, Frau Tchakarova, eigentlich Ihrer Einschätzung nach noch möglich, auf Putin überhaupt Druck auszuüben, jetzt von Europa aus gesehen, oder hat Europa eigentlich sein Pulver schon verschossen, Stichwort Sanktionen?
TCHAKAROVA: Die Sanktionen haben ihn in der Vergangenheit nicht aufgehalten und die Sanktionen werden ihn jetzt auch nicht aufhalten. Wenn es überhaupt zu so einer Lösung kommen kann, dann nur intern, nur aus den engsten Kreisen von Putin und schon mal gar nicht seitens der EU-Mitgliedstaaten.
GROẞ: Ich frage Sie das deshalb, weil Energiepolitik in Zeiten wie diesen ja letztlich auch, wenn Sie so wollen, Sicherheitspolitik ist. Das heißt, die europäische Wirtschaft erinnert derzeit ja ein wenig an einen Junkie, der vom russischen Gas und Öl abhängig ist. Wir spülen durch unsere Importe nach wie vor jeden Tag zig Millionen Euro in die Kriegskassen Putins. Soll das so bleiben?
TCHAKAROVA: Erstens muss ich dazusagen, weil ich die Problematik schon seit Jahrzehnten eigentlich decken muss, dass das eine selbstverschuldete Abhängigkeit gewesen ist, und die Möglichkeit, zu diversifizieren, war immer da. Die Tatsache, dass jetzt Mitgliedstaaten schon erfolgreich diversifizieren – Stichwort unterschiedliche Gasdeals mit anderen Staaten, zum Beispiel aus dem Golf –, zeigt uns auch, dass die Möglichkeit gegeben war. Das würde heißen, ich schließe eigentlich Gas- und Ölsanktionen aus. Ich bin der Meinung, dass die Mitgliedstaaten das aus heutiger Sicht nicht packen, also zumindest nicht für dieses Jahr, weil sie einfach die Voraussetzungen dafür nicht vorher schon erfüllt haben. Das heißt, wir sind nicht diversifiziert genug – und ich sage wir, ich meine alle Mitgliedstaaten, manche Mitgliedstaaten zu 100 Prozent. Sogar 70 Prozent Abhängigkeit ist schon sehr, sehr hoch, und das würde heißen, dass die restliche Familie der EU sozusagen die Kosten aufbringen müsste. Das heißt, für mich liegen realpolitisch Öl- und Gassanktionen momentan nicht auf dem Tisch, auch wenn natürlich die politische Intention gegeben ist, die verstehe ich auch – vielleicht in einem Zeitfenster von in den nächsten drei bis fünf Jahren, aber schon mal gar nicht bis zum Ende dieses Jahres. (Ruf: Saudisches ... ist nicht sauberer als russisches!)
GROẞ: Ich möchte mich gerne an dieser Stelle bei Ihnen für Ihre Einschätzungen bedanken, Frau Tchakarova, und dieses Thema, nämlich die Energiethematik, noch für eine letzte Runde nutzen und gleich bei Ihnen beginnen, Herr Reimon. Wie kann es, wie soll es da weitergehen? Wir haben gestern ja - -
REIMON: Ja, so schnell wie möglich raus. Wir als Grüne predigen seit 30 Jahren, dass wir uns unabhängig machen müssen. Jetzt habe ich letztens auf Facebook in die Timeline gekriegt – Salzburger Landtagswahlkampf –: Raus aus dem Gas, machen wir uns unabhängig von Putin! – So lange reden wir über dieses Thema. Es geht nicht innerhalb von zwei, drei, vier Jahren, das wissen wir. Wir vertreten im Rat auch immer die Position: Jede Sanktion muss Putin mehr schaden als uns, damit sie langfristig durchhaltbar ist. Das bedeutet, dass es energiemäßig jetzt schwierig ist und dass wir uns schützen, was für Grüne wirklich schwierig ist, auch im arabischen Raum kurzfristig schauen müssen, denn da hat der Kollege recht, das ist um nichts sauberer. Wenn Saudi-Arabien vorige Woche 81 Häftlinge hinrichtet: Das als Back-up-Funktion zu Putin kann es ja wirklich auch nicht sein. Also raus, raus, raus, so schnell es geht. Ich möchte überhaupt nicht sagen, ob das jetzt zehn Jahre oder fünf Jahre oder sonst was dauert – so schnell wie es geht.
GROẞ: Herr Ofenauer.
OFENAUER: Das Thema der Autarkie ist ein hochkomplexes und ein sehr wichtiges, ganz klar, aber auch wenn wir jetzt auf Fotovoltaik, Stromerzeugung aus Fotovoltaik umsteigen – wir sind in allen Bereichen abhängig von Rohstoffen, von Rohstoffen, die wir aus anderen Ländern beziehen, und da ist die Frage, welche Länder ethisch entsprechend akzeptabel sind, um aus diesen Ländern Rohstoffe zu beziehen. Weil auch Ehrlichkeit angesprochen wurde: Ich glaube, das ist ein Thema. Autarkie, Energieautarkie wird eine Zukunftsziel sein, ja.
GROẞ: Was für ein Zeithorizont schwebt Ihnen da vor?
OFENAUER: So rasch als möglich, allerdings - -
GROẞ: Ich meine, es geht ja letztlich auch um die Glaubwürdigkeit Europas (OFENAUER: Natürlich!) und dieser Sanktionen.
OFENAUER: Um bei der Glaubwürdigkeit zu bleiben: Ich glaube, da lässt sich momentan seriöserweise kein Zeithorizont abschätzen.
BRANDSTÄTTER: Auch da, glaube ich, muss ein Blick zurück gemacht werden. Die OMV hat uns ganz bewusst in die Abhängigkeit von Russland getrieben, und das, was vorher gekauft wurde, nämlich Gasfelder auch in Norwegen, da haben wir dann nicht einmal die richtigen Leitungen gehabt. Das heißt, wir könnten deutlich weniger abhängig von Russland sein, wenn das die Führung dort in den letzten fünf Jahren nicht gemacht hätte. Ich glaube schon, dass sich vielleicht sogar das Parlament damit wird beschäftigen müssen, nachzufragen: Warum ist das passiert, in wessen Interesse ist das passiert? Zu den Sanktionen: Ich weiß, die Oligarchen alleine zu sanktionieren wird es nicht bringen, aber das ist schon sehr, sehr wichtig, weil die natürlich dann auch schon Meinungsmacher sind, aber die Leute werden auch spüren müssen, dass klar ist, dass eine Führung, die andere Länder überfällt und Spitäler bombardiert, dass das auf Dauer nicht zu halten ist. Dann werden wir in Österreich – und ich glaube, das ist der wesentliche Punkt für mich – natürlich darauf achten müssen, dass die Wirtschaft weiter funktioniert, denn wenn wir – und die Flüchtlinge werden mehr werden – wollen, dass – und das wird, glaube ich, für uns alle eine wichtige Aufgabe sein – akzeptiert wird, jedenfalls von einer großen Mehrheit, dass jetzt Menschen zu uns kommen, dass wir auf die aufpassen müssen, dass die Kinder in die Schule gehen, dass die Leute einen Job bekommen, dann muss die Wirtschaft auch funktionieren. Also gleichzeitig die Wirtschaft ruinieren und Flüchtlinge aufnehmen wird nicht funktionieren, darauf müssen wir sehr, sehr stark schauen. Die Abhängigkeit ist, wie gesagt, eben noch gegeben, aber ich bin sehr interessiert daran, das auch noch aufzuklären, weil was da passiert ist, ist ein ganz, ganz schwerer, und ich sage einmal bewusster, Fehler gewesen. Daran haben manche Leute mit entsprechenden Russlandconnections sehr gut verdient.
GROẞ: Frau Steger, Sie sagen ja, die Sanktionen bringen in Russland nichts und schädigen stattdessen die österreichische Wirtschaft. Kann man es so einfach sagen und sagen, es ist noch immer so einfach?
STEGER: Wir haben es ja gerade auch wieder gehört, dass die Sanktionen Russland und Putin nicht zu einem Umdenken bewegen werden. Das haben wir auch in der Vergangenheit schon bei der Krim gesehen. Das heißt, dass ich auch dieses Mal schwere Zweifel daran habe, dass diese Sanktionen tatsächlich irgendwie friedensstiftend sind und etwas bewirken. Außerdem muss man die Sanktionen natürlich in vielerlei Hinsicht auch kritisch sehen, wenn man jetzt so weit geht, dass man dann bis hin zu Behindertensportlern plötzlich verbieten will, bei Olympischen Spielen teilzunehmen und anderes, dass da auch Menschen aus Russland betroffen sind, die überhaupt nicht mit dieser russischen Politik übereinstimmen. Auch in dieser Hinsicht muss ich das sehr kritisch finden und auch da nicht alles gutheißen, was da jetzt in den vergangenen Wochen getan wurde. Um noch einmal zum Energiebereich zurückzukommen: Ich glaube, dass man gerade, was die Energie betrifft, sehr wohl auch daran sieht, dass in der Vergangenheit einige strategische Fehler begangen wurden. Das betrifft allerdings nicht nur die Energie, das betrifft viele Bereiche, wie wir auch in der Coronakrise gesehen haben, zum Beispiel die Abhängigkeit von Medikamentenlieferungen und so weiter, einfach dass die Europäische Union noch viel mehr einen Fokus darauf legen muss, unabhängiger von anderen Staaten zu werden. Das heißt allerdings auch nicht, dass man die Handelsbeziehungen mit Russland jetzt vollkommen beenden soll oder ganz raus, weil ich es trotzdem auf lange Sicht für wichtig halte - - einfach Russland, das geografisch Teil Europas ist, mit Handelsbeziehungen auch wieder in der Zukunft daran arbeiten muss, diese Beziehungen wieder zu verbessern.
GROẞ: Vielen Dank. Herr Laimer, wie sehen Sie das?
LAIMER: Also ich bin zunächst einmal froh, dass es eigentlich eine große Übereinstimmung betreffend die umfassende Landesverteidigung gibt – darauf zurückkommend, datiert aus dem Jahr 1975, war eigentlich ein sozialdemokratisches Projekt. In Bezug auf die wirtschaftliche Landesverteidigung ist es ganz essenziell, wie wir jetzt sehen, in Energiefragen. Wir werden auch genau zu prüfen haben: Wurden im Sommer alle Speicher gefüllt oder wurde das vielleicht aus dem einen oder anderen ideologischen Grund verknappt – wäre jetzt durch diesen furchtbaren Krieg fatal. Das Weitere ist: Die Kornkammer Europas ist die Ukraine, auch im Lebensmittelbereich ein ganz prekäre Situation, wenn wir nach Afrika und andere Länder oder Staaten sehen. Ich glaube, abschließend ist es ganz wichtig, dass wir natürlich auf der einen Seite erneuerbare Energie voranbringen und vorantreiben, auf der einen Seite aber auch soweit vernünftig sind und schon erkennen, dass wir noch nicht von der fossilen Energie abgenabelt sind. Wir brauchen sie noch zu einem gewissen Teil. Wir müssen es jetzt anders und besser organisieren. Die Gasverträge mit der jetzigen Russischen Föderation, damals Sowjetunion, datieren übrigens aus der Zeit des Prager Frühlings 1968.
GROẞ: Ich darf mich bei Ihnen allen sehr herzlich für Ihre Beiträge bedanken. Bei Ihnen, meine Damen und Herren, bedanke ich mich wie immer fürs Dabeisein. Ich verabschiede mich bei Politik am Ring. In einem Monat sehen wir uns wieder. – Alles Gute.