Auswege aus der Armutsfalle
Podcast: Politik am Ring #17 vom 16. Mai 2022
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Thema
Die steigende Inflation trifft einkommensschwache Haushalte besonders hart. Vor allem die Teuerungen beim täglichen Einkauf, bei Strom und Heizung sind für viele existenzbedrohend. Um Härtefälle bei der Sozialhilfe zu vermeiden, hat die Regierung ein Reformpaket geschnürt und verspricht deutliche Verbesserungen. Opposition und NGOs sehen die Reformpläne kritisch. Wenn die Preissteigerungen für immer mehr Österreicherinnen und Österreicher zur Belastung werden, ist die Politik gefordert. Sie soll Auswege aus der Armutsfalle finden.
Teilnehmer:innen der Diskussion
Abgeordnete:
- Peter Weidinger (ÖVP)
- Alois Stöger (SPÖ)
- Dagmar Belakowitsch (FPÖ)
- Markus Koza (Grüne)
- Gerald Loacker (NEOS)
Eingeladene Fachleute
- Oliver Picek (Momentum Institut)
- Christine Mayrhuber (WIFO)
Diskussion
Ein Diskussionspunkt war die Novelle des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes das die Regierung im April eingebracht hat. Markus Koza (Grüne) betonte, dass die Novelle ein wichtiger Schritt sei aber noch weitere folgen müssten, um die nach wie vor bestehenden Mängel zu beseitigen. SPÖ-Abgeordneter Alois Stöger forderte stattdessen eine bedarfsorientierte Mindestsicherung. Christine Mayrhuber vom Wifo erklärte, dass die Einkommen nicht mehr zur Lebenshaltung ausreichen. Auch die Sozialhilfe sei zu gering. Oliver Picek vom Momentum Institut führte aus, dass die Reallöhne dieses Jahr um 2,5 Prozentpunkte sinken würden, was der "höchste Verlust an Kaufkraft für die breite Masse in Österreich seit Jahrzehnten" sei.
Auf die Frage nach den wichtigsten Maßnahmen zur Armutsbekämpfung führte NEOS-Abgeordneter Loacker die Auflösung der "Nichtarbeitsfalle und Teilzeitfalle, damit die Menschen die Möglichkeit haben, aus eigener Kraft zu Wohlstand zu kommen", an. Laut FPÖ-Abgeordneter Belakowitsch brauche es ein ganzes Bündel an Maßnahmen, wie das Vorziehen der Pensionserhöhung, eine Lohnsteuersenkung oder eine Stabilisierung der Preise vor allem im Lebensmittelbereich. Wichtig sei, so ÖVP-Abgeordneter Weidinger, "dass das Prinzip: Leistung muss sich auszahlen, auch umgesetzt wird". Wer arbeite und mehr leiste, solle auch mehr bekommen, deshalb wolle man arbeitende Menschen entlasten. Experte Schenk von der Armutskonferenz hob hervor, dass 30 Prozent jener Menschen, die soziale Leistungen benötigten, sie aus Scham nicht beanspruchen und man dagegen etwas unternehmen müsse.
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Transkript
Anmoderation: In dieser Folge von Politik am Ring, der Diskussionssendung des Parlaments, diskutiert Moderator Gerald Groß mit den Abgeordneten Peter Weidinger von der ÖVP, Alois Stöger von der SPÖ, Dagmar Belakowitsch von der FPÖ, Markus Koza von den GRÜNEN und Gerald Loacker von NEOS über die steigenden Preise und wie die Politik Auswege auf der Armutsfalle finden kann. Zu Gast sind Oliver Picek vom Momentum-Institut, Christine Mayrhuber vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung und Martin Schenk von der Armutskonferenz. Das Gespräch haben wir am 16. Mai 2022 im Dachfoyer der Wiener Hofburg aufgezeichnet.
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Gerald GROẞ (Moderator): Guten Abend, meine Damen und Herren! Herzlich willkommen bei „Politik am Ring“. Die steigende Inflation spüren wir alle, aber sie trifft einkommensschwache Haushalte ganz besonders hart. Vor allem die Teuerungen beim täglichen Einkauf, bei Energie und Heizen sind für viele existenzbedrohend. Um Härtefälle bei der Sozialhilfe zu vermeiden, hat die Regierung ein Reformpaket geschnürt und verspricht deutliche Verbesserungen. Opposition und NGOs sehen die Reformpläne freilich kritisch. Wenn die Preissteigerungen für immer mehr Österreicherinnen und Österreicher zur existenziellen Belastung werden, ist die Politik gefordert und muss Auswege aus der Armutsfalle finden. Wie, darüber wollen wir heute diskutieren, und zwar mit Markus Koza, Die Grünen – schönen guten Abend! (KOZA: Guten Abend!) –, Alois Stöger, SPÖ – ebenfalls herzlich willkommen! (STÖGER: Guten Abend!) –, Gerald Loacker, NEOS – guten Abend! (LOACKER: Guten Abend!) –, Dagmar Belakowitsch, FPÖ – herzlich willkommen! (BELAKOWITSCH: Guten Abend!) – und Peter Weidinger, ÖVP – schönen guten Abend! (WEIDINGER: Guten Abend!) Wir freuen uns außerdem auf folgende Expertinnen und Experten: Christine Mayrhuber vom Wifo, Oliver Picek vom Momentum-Institut und Martin Schenk von der Armutskonferenz. Die türkis-grüne Bundesregierung wird das unter Türkis-Blau eingeführte Sozialhilfe-Grundsatzgesetz also adaptieren. Die Begründung: Die Erfahrungen seit der Umsetzung hätten gezeigt, dass es flexiblere Rahmenbedingungen braucht; von Armut betroffene Menschen wurden zum Teil ganz aus der Sozialhilfe ausgeschlossen. Etwa 207 000 Menschen in Österreich beziehen derzeit Sozialhilfe beziehungsweise Mindestsicherung. Zukünftig könnten es mehr werden, da die Regierung die Voraussetzungen für den Bezug lockert.
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Es folgt eine Videoeinspielung
Sprecher: Teuer, teurer, am teuersten: Egal ob Wohnen, Energie oder Lebensmittel, fast nichts bleibt derzeit von der Teuerungswelle verschont. Das, was uns alle trifft, trifft die umso mehr, die bereits vor der Krise an und unter der Armutsgrenze gelebt haben. Die Regierung plant deshalb ein Sozialhilfepaket, um die Ärmsten zu entlasten.
Johannes Rauch (Sozialminister, Die Grünen): Ich bin froh, dass wir das jetzt zustande gebracht haben. Es war zu Beginn der Legislaturperiode nicht absehbar, dass sich da überhaupt irgendetwas bewegen lässt – das ist gelungen. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich auch bei den Ländern und beim Koalitionspartner, weil es einfach nicht vorgesehen war. Und es ist eine deutliche Verbesserung in ganz wesentlichen Bereichen, und ich begrüße, dass dieser Schritt jetzt zustande gekommen ist.
Sprecher: Die Grünen wollten bereits zu Beginn der Koalitionsverhandlungen am Sozialhilfe-Grundsatzgesetz schrauben, konnten sich damit aber nicht durchsetzen. Angesichts der Krise gibt es jetzt eine Annäherung der ÖVP.
August Wöginger (Klubobmann, ÖVP): Das Grundsatzgesetz, das wir damals, 2019, mit einem anderen Koalitionspartner verabschiedet haben, ist für uns schon das Grundsatzgesetz, aber es ändert nichts daran, dass es immer wieder notwendig sein wird, da auch Adaptierungen vorzunehmen – und gerade bei Härtefällen oder wenn man hier sagt: Was rechnet man alles an?, Klarstellungen vorzunehmen, ist auch in unserem Sinne.
Sprecher: Konkret sollen von dem geplanten Paket unter anderem Niedrigverdiener, Menschen in Wohneinrichtungen und pflegende Angehörige profitieren. Allerdings sind die Verbesserungen nur Kannbestimmungen: Jedes Bundesland entscheidet selbst, ob es die Vorgaben umsetzt oder nicht. Besonders schwer betroffen sind die 207 000 Menschen in Österreich, die derzeit von Sozialhilfe leben. Für Martin Schenk von der Armutskonferenz sind die geplanten Verbesserungen der Regierung viel zu wenig.
Martin Schenk (Die Armutskonferenz): Die Sozialhilfe hat viele Giftzähne, mindestens zehn, davon sind drei bis vier gezogen worden. Das ist gut, aber es gibt eben noch viele andere, und es tut noch immer weh: besonders den Kindern, Menschen mit Behinderungen und allen, die Wohnprobleme haben.
Sprecher: Aber nicht nur Menschen, die an der Armutsgrenze leben, sind angesichts der Lage verunsichert. Die Angst vor den Preissteigerungen ist schon längst im Mittelstand angekommen.
Passantin 1: Das macht einen schon ein bisschen unsicher: Wie wird es weitergehen? Und können wir uns dann noch Urlaube leisten?, was wir jetzt, nach der Zeit der Pandemie, natürlich auch dringend brauchen. Also, es wird hart. Ich denke mir, auch für unsere Kinder wird es einfach immer schwieriger, und sie werden in einer anderen Welt aufwachsen, als wir es als Kinder gewohnt waren.
Passantin 2: Ich wundere mich über die Regierung, dass eigentlich nichts gemacht wird – obwohl: Ich habe gehört, jetzt gibt es einen Energiezuschuss oder so; das soll angeblich in der nächsten Zeit kommen. Aber man muss sich halt ein bisschen einschränken – aber ich finde, dass es uns in Österreich trotzdem gut geht, ja. Das ist wahrscheinlich jammern auf hohem Niveau, aber es gibt sicher auch Leute, die es mehr trifft. Ich kenne Familien mit mehreren Kindern, die da dann sicher jeden Euro dreimal umdrehen müssen.
Passant 1: Es könnten die Firmen sehr wohl noch etwas auffangen, dass es nicht direkt an den Konsumenten, an die Konsumentin weitergegeben werden sollte. Dazu müsste sich auch die Regierung am Riemen reißen.
Sprecher: Auch vielen der rund zwei Millionen Pensionistinnen und Pensionisten machen die höheren Lebenshaltungskosten zu schaffen.
Peter Kostelka (Pensionistenverband Österreich): Wir sind der Meinung, dass in diesem Zusammenhang als erster Schritt – und das spätestens ab Mitte des Jahres – sicherzustellen ist, dass es so, wie auch in der Vergangenheit – 1998, 1999 und Anfang der 2000er-Jahre –, einen Vorgriff auf die nächste Pensionsanpassung unserer Vorstellung zufolge in der Höhe von 5 Prozent gibt.
Sprecher: Ob Jung oder Alt, die Politik ist jetzt jedenfalls gefordert, damit aus der Teuerungswelle keine Armutswelle wird.
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GROẞ: Und im „Politik am Ring“-Studio hat inzwischen neben mir Martin Schenk von der Armutskonferenz Platz genommen – schönen guten Abend! (SCHENK: Guten Abend!) Herr Schenk, wir haben Sie ja vorhin im Beitrag gehört: Sie haben von den Giftzähnen gesprochen, die es jetzt noch zu ziehen gelte. Wir werden gleich darüber sprechen und diese Giftzähne auch zu benennen versuchen, lassen Sie mich aber zunächst einmal eine Runde mit den Abgeordneten hier machen, und ich möchte mit Ihnen, Herr Weidinger, beginnen. Klubobmann August Wöginger, den wir auch gerade im Beitrag gesehen haben, hat das bestehende Gesetz als ein gut ausgestattetes bezeichnet. Es gehe jetzt um die Vermeidung von Härtefällen, hat er gesagt, aber man werde nicht das gesamte System umkrempeln, auch wenn weitere Anpassungen nie auszuschließen seien. Wie ist das zu verstehen?
Peter WEIDINGER (ÖVP, Konsumentenschutzsprecher): Wir haben hier eine gemeinsame Grundlage: dass wir Menschen, die betroffen sind, die in besonderen Notlagen sind, unterstützen, und auf Grundlage des bestehenden Gesetzes haben wir gemeinsam mit dem Koalitionspartner den Kreis erweitert, um gerade den maximalen Richtsatz von 978 Euro für mehr Menschen zugänglich zu machen. Ich denke da gerade an den Bereich, wo es um Wohneinrichtungen für Frauenhäuser oder auch für Obdachlose geht, und ich glaube, das ist ein substanzieller, ein wesentlicher Beitrag. Ich darf das aber bitte auch in einen größeren Zusammenhang stellen: Es ist in dem Beitrag ja auch klar hervorgekommen, dass Menschen, die sozial besonders betroffen sind, denen geholfen werden muss, und auch Menschen, die jetzt dem Mittelstand angehören, sich Gedanken machen. Deswegen ist das Ziel dieser Bundesregierung, dass wir die Menschen grundsätzlich entlasten, und das machen wir mit der ökosozialen Steuerreform in der Höhe von 18 Milliarden Euro, die wir im letzten Jahr beschlossen haben und die jetzt auch in die Umsetzung kommt. So haben die Menschen zum Beispiel jetzt schon durch die Senkung der zweiten Einkommensteuerstufe auch mehr Geld in die Brieftaschen bekommen, und wir arbeiten kontinuierlich daran, dass es hier Verbesserungen gibt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Eine Mindestpensionistin bekommt durch die Steuerreform und durch die zwei Teuerungspakete in der Höhe von 4 Milliarden Euro, die wir beschlossen haben, eine fünfzehnte Mindestpension dazu. Das ergibt sich durch den Teuerungsausgleich von zweimal 150 Euro, den Sozialversicherungsbonus in der Höhe von 250 Euro und den Klimabonus, den es dazugibt – und somit leisten wir hier einen wertvollen Beitrag. Aber lassen Sie mich es auch ganz klar sagen: Wir sind hier offen für die Menschen in der Unterstützung, um unsere Systeme auch gut weiterzuentwickeln.
GROẞ: Vielen Dank fürs Erste. Sie haben den Koalitionspartner angesprochen – machen wir gleich weiter mit Ihnen, Herr Koza. Ihr Gesundheitsminister Johannes Rauch war jetzt in seinem Statement, das wir gerade auch gesehen haben, sehr bescheiden. Er hat gesagt, er sei stolz auf die jetzige Einigung und froh über diese deutlichen Verbesserungen, weil das zunächst einmal gar nicht zu erwarten gewesen sei. Sie haben sich da in einer Aussendung sehr viel begeisterter gezeigt – ich darf daraus zitieren: „Mit den beschlossenen Änderungen wird sich die soziale Situation tausender armuts- und ausgrenzungsbetroffener Menschen in diesem Land verbessern“, haben Sie geschrieben. „Wir schaffen zusätzliche Spielräume für die Länder zur besseren Absicherung gegen Armut“. Aber ist diese Euphorie nicht ein bisschen übertrieben?
Markus KOZA (Grüne, Sozialsprecher): Lassen Sie es mich so sagen: Es ist keine Euphorie, weil dem Sozialhilfegesetz, das unter Türkis-Blau beschlossen wurde, jetzt zwar einige Giftzähne gezogen wurden, große Mängel bleiben aber nach wie vor. Wir als Grüne haben dieses Gesetz immer kritisiert, wir werden es auch weiter kritisieren, es ist aber ein großer und unserer Meinung nach wichtiger Sprung nach vorne gelungen, weil es tatsächlich Tausenden Menschen Verbesserungen bringt. Ich denke da beispielsweise an die circa 14 000 Erwerbstätigen, die neben ihrem Einkommen auch Sozialhilfe beziehen, denen künftig das 13. und 14. Monatsgehalt nicht mehr angerechnet wird, beziehungsweise haben die Länder die Möglichkeit, das nicht mehr anzurechnen, und das war ja von den Ländern teilweise auch gewünscht, dass das so gemacht wird. Diese werden eine deutliche Verbesserung haben. Auch AusgleichszulagenbezieherInnen, MindestpensionistInnen, die ebenfalls Teile der Sozialhilfe bekommen, beispielsweise Wohnungsunterstützung, wird das 13. und 14. Gehalt nicht mehr angerechnet. Insbesondere Frauen, die beispielsweise in betreuten Gewaltschutzeinrichtungen sind, werden künftig einen Anspruch auf die volle Mindestsicherung in der Sozialhilfe haben. Und auch pflegenden Angehörigen, die unter Umständen ihre Arbeitszeit haben verkürzen müssen, die deswegen auch um Mindestsicherung aufstocken, ist bislang das Pflegegeld angerechnet worden, wenn sie im gemeinsamen Haushalt gewohnt haben – das Pflegegeld, nicht ihres, sondern das Pflegegeld desjenigen oder derjenigen, der oder die zu pflegen ist. Das kommt künftig so nicht mehr vor. Wir haben also tatsächlich Verbesserungen für Tausende geschafft. Das ist einmal ein wesentlicher, wichtiger Schritt. Martin Schenk hat es erwähnt: Es wurden einige Giftzähne gezogen. Es gibt noch etliche, da werden wir auch dranbleiben müssen, dass wir das so rasch wie möglich noch verbessern, so gut wie möglich und so effizient wie möglich. Ich halte das aber gerade jetzt, in Zeiten der Teuerung, für eine wesentliche Maßnahme, für einen wesentlichen Schritt, dem aber weitere folgen müssen – das ist, glaube ich, unumstritten.
GROẞ: Frau Abgeordnete Belakowitsch, es war ja gewissermaßen eines der Vorzeigeprojekte unter Türkis-Blau: ÖVP und FPÖ haben 2019 die damals bestehende Mindestsicherung durch ein neues Sozialhilfe-Grundsatzgesetz ersetzt, statt Mindeststandards wurden damals Höchstgrenzen für die Sozialhilfe festgelegt. Die Regelung wurde allerdings Ende 2019 vom Verfassungsgerichtshof in mehreren Kernbereichen aufgehoben. Sowohl die Verknüpfung mit Sprachkenntnissen, für die Sie sich vor allem sehr stark gemacht haben, als auch Höchstsätze für Kinder hat der VfGH als verfassungswidrig anerkannt. Jetzt liegt ein angepasstes Sozialhilfe-Grundsatzgesetz auf dem Tisch – viel scheint nicht übrig zu bleiben von den türkis-blauen Projekten. Wie geht es Ihnen dabei?
Dagmar BELAKOWITSCH (FPÖ, Sozialsprecherin): Zunächst einmal würde ich nicht sagen, dass nicht viel übrig bleibt. Das, was der Verfassungsgerichtshof aufgehoben hat, waren die Sprachkenntnisse. Kernpunkt bei der Reform waren ja eigentlich die Sprachkenntnisse, um die Zuwanderung in das Sozialsystem hintanzuhalten. Wir haben damit natürlich ein Problem gehabt. Wir wissen, dass 2015/2016 Österreich im Bereich der Flüchtlingskrise eines der am meisten belasteten Länder war. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass unsere Sozialsysteme innerhalb der Europäischen Union besonders gut und besonders sicher sind, und genau das war die Intention dieser Reform, die wir durchgeführt haben. Aber Sie haben vollkommen recht: Der Verfassungsgerichtshof hat das anders gesehen, Sprachkenntnisse sind offensichtlich nicht notwendig. Den zweiten wesentlichen Teil, den wir damals geändert haben, hat die ÖVP jetzt wieder aufgegeben. Das waren nämlich subsidiär Schutzberechtigte, die in der Grundversorgung zu verbleiben haben, bis sie sich selbst erhalten können und eben nicht in die Mindestsicherung gekommen sind. Da ist die ÖVP jetzt offensichtlich einen neuen Weg gegangen und hat sich von den Grünen wieder auf einen anderen Pfad bringen lassen. Was ich durchaus sehr begrüße, ist, dass man jetzt das 13. und 14. Monatsgehalt bei den sogenannten Aufstockern nicht mehr anrechnet. Und auch: Woran es damals schon gehakt hat, was nicht so geklappt hat, das war, dass zum Beispiel in Behinderteneinrichtungen selbstverständlich jeder als Einzelperson zu werten ist. In einer Analogie ist das jetzt bei den Frauenhäusern gekommen. Das war damals schon die Intention und das ist durchaus etwas, was völlig richtig ist, dass man das genau so macht. Also da sehe ich jetzt gar kein Problem, das war ja auch nicht die Intention einer Änderung. Worum es uns damals auch gegangen ist – und das ist auch geblieben, wenn auch bisher nicht von allen Ländern umgesetzt –, ist der Eingriff in das, sage ich jetzt einmal, Vermögen. Das heißt, wenn jemand beispielsweise irgendwann eine Wohnung erworben oder ererbt hat und dann sehr lange Mindestsicherung bezieht, wenn auch nur als Aufstocker, war es ja früher so, dass nach einem halben Jahr die öffentliche Hand ins Grundbuch hineingegangen ist. Jetzt ist das anders: Wir haben das auf drei Jahre ausgedehnt. Unser Ziel wäre ja gewesen, dass man das überhaupt streicht, weil wir da eine Ungleichbehandlung gesehen haben, zwischen jenen im Inland, bei denen man es nachweisen kann, und jenen, die möglicherweise im Ausland über Besitz verfügen, von dem wir überhaupt keine Ahnung haben. Das haben wir nicht zusammengebracht, das gebe ich auch ehrlich zu, das wäre uns damals lieber gewesen – Koalitionsverhandlungen sind, wie sie sind –, die Intention war aber damals, auch in einer wirtschaftlich ganz anderen Zeit als heute, dass wir die Zuwanderung in das Sozialsystem hintanstellen. Und davon hat sich leider die Österreichische Volkspartei jetzt wieder verabschiedet.
GROẞ: Mhm. Aber grundsätzlich, nehme ich jetzt aus Ihrer Wortmeldung mit, ist nicht alles an dieser Novelle oder an diesem Entwurf schlecht.
BELAKOWITSCH: Nein, natürlich nicht, weil man ja im Zuge der Anwendung des Gesetzes, wenn man es dann auszahlt oder wenn man das Gesetz eben vollzieht, natürlich auch gewisse Mängel erkennen kann.
GROẞ: Ich wollte damit nur zu Gerald Loacker von den NEOS überleiten, denn da habe ich den Eindruck, Sie lassen kein gutes Haar an diesem vorliegenden Entwurf, an dieser Anpassung. Ich darf Sie selber zitieren: „Mit diesem Rückschritt“, sagen Sie wortwörtlich in einer Aussendung, „befeuert die neue türkis-grüne Regierung lediglich den bereits bekannten Wildwuchs im System der Mindestsicherung“, und für Sie ist es „unverständlich, wie die neue Regierung die Mindestsicherung in ihrem Programm zuerst ganz unter den Tisch fallen lässt, um kurz darauf zu alten, chaotischen Mustern zurückzukehren“. – Was konkret stört Sie jetzt und was hätten Sie stattdessen lieber?
Gerald LOACKER (NEOS, Sozialsprecher): Na ja, wir haben jetzt der Novelle im Ausschuss zugestimmt, weil diese Nichtanrechnung des 13. und 14. Monatsgehalts bei Erwerbstätigen durchaus plausibel ist. Was aber nicht angegangen wird, ist eine Frage, die der Rechnungshof schon lange kritisiert, nämlich das Nebeneinander von Notstandshilfe und Mindestsicherung, von zwei sozialen Absicherungssystemen, in denen Bürger von Behörde zu Behörde geschickt werden: Damit ich einmal sozial abgesichert bin, muss ich zum AMS und zur Bezirkshauptmannschaft beziehungsweise zum Magistrat gehen. Das ist den Menschen gegenüber schikanös, und der Rechnungshof verlangt zu Recht ein Zusammenführen von Notstandshilfe und Mindestsicherung zu einem gemeinsamen System der sozialen Absicherung. In diese Richtung passieren aber überhaupt keine Schritte.
GROẞ: Herr Stöger, jetzt habe ich heute bewusst mit Ihnen bis zum Schluss gewartet, nicht weil Sie das letzte Mal, in der letzten Sendung, als Erster drangekommen sind, sondern weil dieses Thema ja gewissermaßen zur DNA der SPÖ gehört, wenn ich das so sagen darf. Ihr Stadtrat Hacker aus Wien hat die Anpassung, über die wir heute reden, sehr positiv aufgenommen. Er finde es gut, hat er gesagt, dass einige Anregungen aus den Bundesländern aufgenommen werden und nun in die Novellierung einfließen. Unter dem neuen Sozialminister sei endlich das erste sozialpolitische Zeichen dieser Bundesregierung gesetzt worden. – Schließen Sie sich der Begeisterung an?
Alois STÖGER (SPÖ, Mitglied Sozialausschuss): Ich schließe mich dem an, dass der neue Bundesminister im Vergleich zu den vorigen zwei Bundesministern für Herrn Hacker ein Riesenerfolg ist. Aber in der Sache selber: Die größte Gemeinheit gegenüber Menschen mit wenig Einkommen war das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz. Da hat man erstmals den Menschen gesagt: Ihr dürft nicht mehr bekommen!, selbst wenn ein Land, ein Bearbeiter, der den konkreten Fall gekannt hat, gesagt hat: Da braucht es mehr! Da hat der Bund den ÖVP-Landtagsabgeordneten und in Wirklichkeit den Soziallandesräten gesagt: Mehr dürft ihr nicht geben!, auch wenn es notwendig war. Man hat jedem Beamten signalisiert, sehr restriktiv mit diesen Themen umzugehen. Das ist eigentlich die größte Gemeinheit, das haben die Menschen gespürt. Ich möchte von Martin Schenk dieses Bild von den Giftzähnen aufnehmen: Man hat den Menschen das Kiefer gebrochen. Das Kiefer ist noch nicht geheilt. Jetzt zieht man zwar einen Giftzahn, aber es bleibt noch immer das zerbrochene Kiefer über und es bleiben immer noch Giftzähne im Gebiss. Daher haben wir dem nicht zugestimmt: weil es im Prinzip ein völlig falscher Ansatz ist, dass man hier Höchstgrenzen definiert, und man für Menschen mit wenig Einkommen vernünftige Lösungen für ihre konkrete Situation bringen muss. Da geht es um Arbeit, da geht es um Einkommen, da geht es um Wohnen, und überall dort muss man handeln. Gerade diese Menschen brauchen Unterstützung, sie brauchen auch Zeit, und man hat den Beamten signalisiert: Macht nicht zu viel, denn es darf eh nix kosten! Und das ist in Wirklichkeit das zerbrochene Gebiss oder das Kiefer, das man nicht saniert hat.
GROẞ: Mhm. Diese Metapher steht jetzt schon so lange im Raum und erfreut sich gewissermaßen großer Beliebtheit, mir sind jetzt übrigens auch die Gratiszahnspangen eingefallen, ich weiß gar nicht, vor welcher Wahl das war, damals waren Sie noch Sozialminister, glaube ich. (STÖGER: Gesundheitsminister war ich!) Also die Gebisse, die Zähne und die Kiefer müssen immer wieder für politische Metaphorik herhalten. – Herr Schenk, jetzt ist so viel von diesen Giftzähnen die Rede gewesen. Welche sind es denn tatsächlich, die noch gezogen werden müssen? Können Sie uns da mit zweckdienlichen Hinweisen helfen?
Martin SCHENK (Die Armutskonferenz): Das große Problem ist das Wohnen. Das ist etwas, das ja auch im Beitrag war. Wohnen ist teuer, Wohnen ist so unleistbar geworden, gerade in den Städten – je größer die Städte, desto schwieriger. Das Problem ist, dass in der Sozialhilfe die Wohnbeihilfe noch angerechnet wird, und das macht dort, wo eben die Wohnkosten so hoch sind, Riesenprobleme. Unsere Einrichtungen, die in der Armutskonferenz zusammengeschlossenen Einrichtungen, betreuen und begleiten im Jahr immerhin 500 000 Menschen, die alle irgendwie Hilfe suchen, und die Erfahrungen, die wir daraus in den letzten zwei Jahren generieren, haben uns gezeigt, dass das Wohnen, dass diese Anrechnung der Wohnbeihilfe Leute echt unter große Probleme setzt, weil die Wohnungssicherung nicht gegeben ist und wir natürlich dann immer sehr rasch im Delogierungsbereich sind. Und das ist etwas, was wir auf jeden Fall vermeiden wollen, aus humanitären Gründen, aber auch aus ökonomischen, weil wir wissen: Obdachlosenarbeit kostet trotz allem ökonomisch viel mehr, als den Leuten zu helfen, ihre Wohnung zu sichern. – Also Wohnen. Das Zweite ist: Menschen mit Behinderung halte ich überhaupt für das Riesentabu, über das redet überhaupt niemand. Wie viele Menschen mit Behinderungen, sowohl physischen – chronisch Kranke – als psychischen als auch sozusagen solchen im klassischen Behindertenbegriff, in der Sozialhilfe sind, wissen wir aufgrund der Daten der Statistik Austria, und wir haben da ein Riesenproblem; Unterhalt zum Beispiel: das Problem, dass erwachsene Kinder mit Behinderungen ihre Eltern auf Unterhalt klagen müssen. Das hat es bisher nur in Niederösterreich gegeben, die neue Sozialhilfe hat alle Bundesländer quasi gezwungen, dass sie das jetzt machen müssen. Das ist ein Riesenproblem. Weiters: Die öffentliche Hand zahlt Menschen mit Behinderungen, wenn sie in Einrichtungen sind, den vollen Satz, da wird alles bezahlt. Wenn dieselben Menschen daheim sein wollen, im Privathaushalt – also das, was wir als Inklusion bezeichnen, wo wir froh sind, dass die Leute selbstständig, autonom sind –, dann fährt voll der Unterhalt und die Sozialhilfe rein. Wir haben da also auch Fehlsteuerungen innerhalb der Sozialhilfe. Diese kann man als Giftzähne bezeichnen, ich würde aber sagen, rein ökonomisch oder sozialpolitisch sind es Fehlsteuerungen, die man angehen muss. Ein drittes Thema noch – dann lasse ich es schon – ist der Zuverdienst. Dieser ist auch ein Riesenproblem, zum Beispiel bei Kollegen in Linz, im psychosozialen Bereich, bei Pro Mente, wo Leute in WGs wohnen oder auch in Beschäftigungsprojekten sind. Wenn dort in Linz die Person in einer Wäscherei arbeitet, dann wird mit dem neuen Gesetz der Zuverdienst beinhart abgezogen. Das heißt, nicht einmal sozusagen diese ‑ ‑ Das ist ja wichtig, auch für Teilhabe, dass da jemand, der schwer depressiv ist, in der Wäscherei ein bisschen was arbeitet, um wieder auf die Füße zu kommen, und da wird das Geld beinhart abgezogen – das gab es in der alten Mindestsicherung auch nicht. Ich könnte da noch ein paar Punkte aufzählen, aber lassen wir es einmal.
GROẞ: Vielleicht gehen wir gleich wieder zurück in die politische Runde, ich möchte aber jetzt nicht unbedingt zwangsweise diese Frage jedem stellen, sondern ich möchte einfach die Frage in den Raum stellen, wenn Sie so wollen, zu dem, was Herr Schenk jetzt aufgeworfen hat: zum Wohnthema, zum Thema mit den Behinderten, bei dem Sie von Fehlsteuerungen innerhalb des Sozialhilfesystems gesprochen haben, und auch zu diesem Zuverdienstthema. Wie stehen Sie dazu beziehungsweise gibt es Möglichkeiten, da vielleicht noch nachzuschärfen? Wer will als Erster oder als Erste? – Bitte, Frau Belakowitsch.
BELAKOWITSCH: Die Geschichte mit den Behindertenproblematiken ist ja sehr, sehr vielschichtig. Das war uns seinerzeit bei den Verhandlungen schon bewusst, dass man da wahnsinnig viel bedenken muss. Da sind wir natürlich jederzeit auch bereit, mitzuarbeiten, wenn das von der Regierung gewünscht wird, weil es wirklich so viele Aspekte sind, sodass man wahrscheinlich immer wieder etwas übersieht, und da ist wahrscheinlich jede Regierung auch für Inputs dankbar, die dann aus der Praxis hereinkommen. Das muss man ganz ehrlich sagen, denn gerade in diesen Bereichen kann man ja nicht sagen: die Menschen mit Behinderung, sondern das ist ja so vielschichtig. – Das ist die eine Geschichte. Die zweite Geschichte ist das Wohnen. Das Wohnproblem ist sicherlich ein ganz großes Problem, das aber jetzt massiv in den letzten Monaten angewachsen ist. Die Frage stellt sich jetzt für mich völlig anders, die Frage ist ja: Warum ist das Wohnen so teuer? – Das ist eigentlich die Hauptfrage. Warum sind Menschen, die ohnehin am untersten Ende leben, in so teuren Wohnungen untergebracht? Warum muss das so teuer sein? Vielfach leben sie ja auch in Sozialwohnungen, die einfach extrem teuer sind, und da hakt es irgendwo, das muss man ganz offen und ehrlich sagen. Da passt etwas in unserem System nicht mehr zusammen, wenn Menschen, die in sozialen Wohnungen leben, sich das Wohnen mit der Mindestsicherung nicht mehr leisten können. Da muss man ja eigentlich das Übel an der Wurzel anpacken und sagen: Sozialwohnungen müssen so günstig sein, dass sie eben auch leistbar sind, nicht nur für Personen, die Mindestsicherungsempfänger sind, sondern auch für andere, die da drinnen wohnen, die in der Regel auch nicht unbedingt Großverdiener sind, sondern es eben Geringverdiener sein sollten, die in Sozialwohnungen leben. Ich glaube, da muss man ganz anders reinfahren. Das Thema Wohnen ist ja eine riesengroße Baustelle in unserem Land, die man vonseiten der Bundesregierung jetzt auch einmal angehen müsste.
GROẞ: Okay. Dazu hatten wir auch schon eine Sendung, es wird aber nicht die letzte gewesen sein (BELAKOWITSCH: Nein, nein, aber weil das ja natürlich jetzt da hineinpasst!), weil dieses Thema natürlich immer noch virulenter wird. – Herr Stöger!
STÖGER: Wir haben 2011 eine Bedarfsorientierte Mindestsicherung gemacht. Das war ein ganz anderes Konzept, nämlich: die Bedarfe für Menschen, die an der Armutsschwelle leben, zu verbessern. Da ist Wohnen ein Thema, da ist Behinderung ein Thema, da ist Arbeitslosigkeit, da ist möglicherweise Krankheit ein Thema – den Bedarf zu analysieren und daraus Hilfen, Unterstützung, öffentliche Gelder zur Verfügung zu stellen. Dieses Konzept hat Schwarz-Blau gebrochen, ganz bewusst gebrochen und hat Obergrenzen eingeführt, daher hat man sich nicht mehr mit den Bedarfen dieser Menschen auseinandergesetzt. Das ist nicht korrigiert worden, und darum geht es! Man muss sich mit dieser Zielgruppe auseinandersetzen, man muss für diese Gruppe etwas entwickeln, das auch passt, und es macht einen Unterschied, ob ich eine psychische Erkrankung habe oder nicht, denn dann brauche ich andere Hilfen. Wir haben für alle eine Obergrenze, einen Deckel gemacht, und das kann es nicht sein.
GROẞ: Mhm. Es haben sich jetzt inzwischen, glaube ich, eh alle zu Wort gemeldet, ich versuche jetzt, die Reihenfolge einzuhalten. – Herr Koza, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, waren Sie der Nächste.
KOZA: Was Herr Schenk ausgeführt hat, sind sicher Punkte, die tatsächlich bei künftigen Reformen, bei künftigen Änderungen zu berücksichtigen sind. Ich habe es bereits gesagt: Die Sozialhilfe Neu hat tatsächlich auch mit diesen Änderungen, die wir jetzt gemacht haben, sehr große Mängel und nach wie vor Giftzähne. Es ist teilweise noch zu restriktiv von der Möglichkeit des Zugangs, auch von der Möglichkeit der Vergabe her. Gewisse Bereiche haben wir jetzt gelockert, gewisse Bereiche haben wir jetzt erleichtert, den Ländern mehr Möglichkeiten gegeben. Ein ganz wesentlicher Punkt, den ich schon erwähnen muss, der uns auch sehr wichtig war, ist – und das ist insbesondere in der Coronakrise stark aufgeschlagen –, dass es Menschen in diesem Land gegeben hat, die aus der Sozialhilfe herausgefallen sind: Menschen mit einem humanitären Bleiberecht, die keine Sozialhilfe mehr bekommen haben und damit auch die Krankenversicherung verloren haben. Jetzt haben wir glücklicherweise diese Härtefallregelung in der Reform, dieser kleinen Reform der Sozialhilfe, verankert, sodass künftig diese Menschen auch in die Mindestsicherung/Sozialhilfe kommen können und damit auch krankenversichert sind. Es ist schon ein ganz wesentlicher, zentraler Schritt, gerade auch in Zeiten von Pandemien, in denen einfach dieses Gesundheitsrisiko sehr stark ist, dass wir das abgesichert haben. Ich wollte noch kurz etwas zu Kollegen Loacker sagen, nämlich zur Frage der Zusammenführung der Sozialhilfe und Notstandshilfe. Ich halte das tatsächlich für eine denkbar schlechte Idee. Einerseits ist die Notstandshilfe tatsächlich eine Versicherungsleistung aus der Arbeitslosenversicherung und wird eben nicht am Bedarf und nicht am Haushaltseinkommen bemessen, sondern steht Menschen, die in Arbeitslosigkeit sind, die länger in Arbeitslosigkeit sind, zu. Und gerade in der Pandemie, in der Krise hat sich die Notstandshilfe der Sozialhilfe deutlich überlegen gezeigt und als deutlich überlegen erwiesen. Wir haben die Notstandshilfe sehr rasch erhöhen können. Die Notstandshilfe, von der immer mehr Menschen betroffen waren, wenn sie in der Pandemie länger arbeitslos waren, hat die Familieneinkommen gestärkt, hat die Haushaltseinkommen gestärkt, weil sie eben nicht am Bedarf und an einem Maximaleinkommen in den Haushalten orientiert war. Darum sind wir auf jeden Fall dafür, dass die Notstandshilfe erhalten bleiben muss. Wir wollen im Gegenteil die Sozialhilfe in weiteren Schritten, wenn es die entsprechenden Mehrheiten gibt, die das zulassen, noch verbessern, damit tatsächlich dieses letzte soziale Netz, das wirklich gegen Armut absichern sollte und das teilweise zu wenig macht, noch besser und noch stärker wird. Ich glaube, das haben sich die Armen in diesem Land verdient.
GROẞ: Herr Weidinger und dann Herr Loacker.
WEIDINGER: Also zunächst halte ich fest: Wenn Sozialstadtrat Peter Hacker von der SPÖ das hier als einen großen Schritt sieht, dann ist das als solches auch wertzuschätzen und anzuerkennen. Ich möchte nur das von Ihnen verwendete Bild mit dem gebrochenen Kiefer zurückweisen. Ich glaube, wir leben in so ernsten Zeiten – schauen wir nur ein paar Hundert Kilometer in die Nachbarschaft! –, dass wir hier keine martialische Ausdrucksweise notwendig haben. Ich glaube, wenn man sich auch anschaut, warum das Sozialhilfegesetz entstanden ist, wie es auch vorhin von Kollegin Belakowitsch ausgeführt wurde, so war das Ziel ja ganz klar, dass wir eine Einwanderung aus anderen Ländern in das Sozialsystem verhindern wollten, und wir haben hier eine ganz klare Politik verfolgt, der wir auch treu bleiben. Wir anerkennen den Rechtsstaat. Der Verfassungsgerichtshof hat da in einem Erkenntnis gezeigt, dass es in einem Punkt einen Reformbedarf gibt, und dem sind wir auch nachgekommen, und jetzt – geschuldet der Pandemie durch Corona – haben wir natürlich auch das Sozialhilfegesetz angepasst, weil sich die Lebensverhältnisse für die Menschen verändern. Ich halte es da ganz klar mit unserem Klubobmann Gust Wöginger, der klar gesagt hat: Gesetze brauchen auch immer Anpassungen, wenn es Härtefälle als solche gibt. – Das heißt, da werden wir uns auch in Zukunft jedes Detail anschauen. Ich glaube aber, dass es auch notwendig ist, dass wir das in den gesamten Kontext mit den Teuerungspaketen stellen, die wir extra geschnürt haben, um Menschen, die besonders betroffen sind, Geld zu geben – wie die Gruppe, von der wir jetzt sprechen, ich denke aber auch an die MindestsicherungsbezieherInnen, ich denke hier an die Ausgleichszulagenbezieher, an Stipendiaten und auch an Studenten, die Beihilfe beziehen – auch sie alle bekommen Geld, um für sie in dieser schwierigen Situation einen Beitrag zu leisten. Ich denke da an den Teuerungsausgleich von 150 Euro in zweifacher Form, um diese Zeit zu überbrücken. Das, was wir jetzt gemeinsam machen, und da nehme ich aber den Handschlag von Ihnen, werte Kollegin Belakowitsch, auf, ist: Wir brauchen Ideen von allen Seiten, um diese Krise gemeinsam zu meistern, denn wir wissen, dass das eine gesamtgesellschaftliche, rot-weiß-rote Anstrengung sein muss, dass wir es durch die Pandemie, aber auch durch die Ukrainesituation und die vielen verschiedenen Situationen, die wir auch durch die Inflation haben, gemeinsam schaffen. Daher – zusammenfassend –: Der erste Schritt, die ökosoziale Steuerreform, losgelöst von den Krisen, war richtig und notwendig, der zweiter Schritt waren die 4 Milliarden Euro der Teuerungspakete, und jetzt: Schritt für Schritt gemeinsam Anpassungen vornehmen, damit die Armen nicht ärmer werden.
GROẞ: Danke schön. – Herr Loacker.
LOACKER: Ein Problem, das Herr Schenk erwähnt hat, sehe ich nicht, nämlich die Delogierung. Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz lässt es zu, dass die Sozialhilfe Mietrückstände abdeckt, auch über die laufende Monatsleistung hinaus, und kein Sozialamt wird zuschauen, wie jemand delogiert wird, weil es einen Mietrückstand gibt. Also da sind wir in Österreich in der glücklichen Lage, dass es das nicht gibt. Ein Problem, das ich schon sehe, ist das Problem des Zuverdiensts. Da sind wir in Österreich generell sehr leistungsfeindlich aufgestellt, nämlich nicht nur bei der Sozialhilfe, sondern auch bei Arbeitslosengeld/Notstandshilfe mit einer Alles-oder-nichts-Regelung, die Leistungswillen eher abdreht und die Menschen eher nicht animiert, mehr zu arbeiten. Da sollte man etwas tun. Was ich aber schon sehe – um noch einmal auf Kollegen Koza Bezug zu nehmen –: Bei uns geht es eben schon um den Bedarf. Österreich ist das einzige Land in der EU, in dem die Leistung aus der Arbeitslosenversicherung zeitlich unbefristet bezahlt wird. Das ist natürlich längst nicht mehr von Versicherungsbeiträgen gedeckt. Und Steuergeld irgendwohin zu verteilen, wo kein Bedarf nachgewiesen ist, ist nicht die Linie unserer Partei.
GROẞ: Vielen Dank. – Herr Schenk, eine kurze Rückmeldung jetzt zu dieser Runde?
SCHENK: Ein wichtiger Punkt ist noch Soforthilfe – das passt vielleicht auch zur Delogierung –: Die Soforthilfe funktioniert überhaupt nicht; das ist wirklich ein Riesenproblem. Also in dem neuen Gesetz gibt es auch keine Frist mehr. In der alten Mindestsicherung gab es zumindest eine Dreimonatsfrist. Zum Glück haben viele Bundesländer – nicht alle, aber die meisten – diese Dreimonatsfrist weiter beibehalten, das Problem ist aber, drei Monate sind ist auch viel zu lange. Ich meine, das müsst ihr euch vorstellen, wenn es eben wirklich auch Wohnprobleme gibt! Gut, man kann sagen, sozusagen innerhalb von drei Monaten wird man nicht delogiert, aber es beginnt die Uhr zu ticken, und wir haben ganz viele Fälle, bei denen uns Leute berichten, dass die Ämter halt die Anträge nicht behandeln oder dass man nach zwei Monaten noch immer nichts gehört hat, und ich glaube, das muss sich verbessern. Also wenn man wirklich ein unteres soziales Netz verlangt, dann muss das eines können, nämlich schnell helfen und Soforthilfe geben, und ich glaube, das wäre vielleicht auch ein wichtiger Punkt für einen weiteren Schritt: sich diese Soforthilfen anzuschauen. Die alte – damit bin ich schon am Schluss – Mindestsicherung hat auch diese Hilfen in besonderen Lebenslagen gehabt, die eigentlich sehr hilfreich waren. Also die Sozialarbeiter lernen das als HIBL – das ist sozusagen bekannt in der sozialen Arbeit: Hilfe in besonderen Lebenslagen –, die sind so etwas wie eine Härtefallregelung, aber viel besser, weil sie stärker definieren, welche Hilfen es gibt. Also ich würde sagen, vielleicht kann man zu diesem System wieder zurückkommen, weil das eigentlich nicht schlecht funktioniert hat.
GROẞ: Ich möchte zu noch einem Thema kommen: Erhöhung des Arbeitslosengeldes – das ist etwas, wofür Sie eintreten. Jetzt ist aber interessant, dass das Volksbegehren Arbeitslosengeld rauf!, das logischerweise auch eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes gefordert hat, als einziges, wenn ich es richtig gesehen habe, von sieben nicht einmal die 100 000er-Hürde genommen hat. 86 000 Menschen, nur 1,36 Prozent, haben es unterschrieben. Offensichtlich ist das gar nicht so ein Thema, das unter den Nägeln brennt.
SCHENK: Ich habe mir gleich gedacht, dass da keiner hingeht. Also ich war von Beginn an skeptisch, sage ich jetzt als Psychologe, als Sozialpsychologe, weil ich glaube, wenn man sich die Umfragen anschaut – es gibt ja von Sora und vom IHS Umfragen –, gibt es zu 60 bis 70 Prozent Zustimmung zur Erhöhung des Arbeitslosengeldes, aber ob die Leute hingehen? Die Betroffenen gehen eher nicht hin, das wissen wir aus allen Untersuchungen der Beteiligung. Das ist vielleicht auch für das Parlament wichtig: Das untere Einkommensdrittel geht bei den Nationalratswahlen nur zu 40 Prozent wählen, das obere Einkommensdrittel zu 90 Prozent, und dasselbe gilt für das politische Engagement. Also die, die es wirklich betrifft, sind vielleicht dafür, aber der Schritt, auch wo hinzugehen, ist ein schwieriger. Das ist eine Frage, die wir in allen Demokratien haben, diese Ungleichheitsfrage in der Demokratie, und ich glaube, das ist auch etwas, bei dem wir uns überlegen müssen, wie man das verbessern kann, weil das macht ja eine Riesenkluft auf, wenn das untere Einkommensdrittel im Parlament nicht gescheit vertreten ist.
GROẞ: Aber das soll nicht automatisch heißen, dass das kein Anliegen wäre, dass das - -
SCHENK: Das glaube ich nicht! Also ich kenne die Umfragen eben von Sora und vom IHS. Das IHS hat eine ganze Umfragebatterie gehabt, bei der auch Sozialleistungen dabei waren, und da gab es, glaube ich, 68 Prozent Zustimmung für ein erhöhtes Arbeitslosengeld.
GROẞ: Dieser Vorwurf der sozialen Hängematte – ich spreche das jetzt aus – durch Kumulierung von Sozialleistungen: Verschließt man nicht auch die Augen vor der Realität, wenn man sagt, das gibt es überhaupt nicht?
SCHENK: Das würde ich nicht sagen. Also ich meine, die Frage, dass sich Leute auch Sozialleistungen entweder fälschlicherweise oder missbräuchlich bedienen – das wissen wir, aber in den empirischen Studien, die wir dazu haben, kommt man in den Promillebereich, vielleicht Prozent, wenn überhaupt. Man muss das dann gleichzeitig kontextualisieren: Wir haben Umfragen über die sogenannte Non-Take-up-Quote, also die Nichtinanspruchnahme im unteren sozialen Netz, und da kommt man, das europäische Zentrum, das das regelmäßig erhebt, auf 30 Prozent. Also von der Gesamtmenge der 100 Prozent, die Anspruch hätten, nehmen 30 Prozent, obwohl sie es bräuchten und es auch eine Hilfe wäre, diese Hilfe nicht in Anspruch. Also man muss dann fairerweise zumindest auch die andere Seite dazurechnen, und dann kommt man eigentlich zum Ergebnis: Na ja, eigentlich haben wir eher ein Problem bei der Bürgerfreundlichkeit der Ämter, bei der sozialen Scham, bei der Beschämung, bei der Möglichkeit, vielleicht auch Leuten zu helfen, zumindest in einem höheren Ausmaß zu einem Antrag zu kommen, als es auch die Missbrauchsrate vorgibt.
GROẞ: Irgendwann landet man, wenn man über dieses Thema diskutiert, immer beim bedingungslosen Grundeinkommen. Daher die Frage auch an Sie: Wie stehen Sie dazu?
SCHENK: Ich bin da gespalten. Auch in der Armutskonferenz gibt es eine Hälfte Befürworter und eine Hälfte ist total dagegen, und zwar alle mit guten Gründen, also man kann für beides gute Gründe anführen. Ich selbst würde sagen – ich glaube, das wäre sozusagen ein pragmatischer Zugang –, dass wir uns den Anfang und das Ende des Lebens vornehmen, also für ein Kind eine Art Kindergrundsicherung überlegen – da gibt es ja auch Modelle –, und am Schluss so etwas wie eine Grundpension. Österreich hat zwar die Ausgleichszulage, aber im Vergleich zu Dänemark ist es keine Grundpension. Also man könnte sagen: Beginnen wir damit, dann haben wir zumindest bei den Kindern und im Alter sozusagen das Problem mit der Erwerbstätigkeit ausgespart. Da könnte man schon über so etwas diskutieren.
GROẞ: Dann sage ich Danke. – Es gibt noch Wortmeldungen aus der Politik. Herr Abgeordneter Stöger.
STÖGER: Wissen Sie, bei der Grundsicherung ist es so: Da stellt sich die Frage, auf welcher Höhe sie stattfindet. In Griechenland hat die Troika eine Grundsicherung von 300 Euro vorgeschlagen, und damit hat man es für die Menschen noch viel, viel schlechter gemacht. Ich glaube, das ist das entscheidende Thema: Wir brauchen differenzierte, unterschiedliche Formen, wie man den Menschen hilft, insofern braucht man eine bedarfsorientierte Mindestsicherung, bei der sich die Menschen in den Sozialämtern mit ihrer Klientel auseinandersetzen, und dieses Sozialhilfe-Grundsatzgesetz hat genau das zerstört. Es hat es denen nicht mehr erlaubt, sich mit ihrem Klientel auseinanderzusetzen, und hat Obergrenzen eingeführt. Das ist nicht geändert worden, und Herr Wöginger sagt denselben Blödsinn – ich sage das jetzt bewusst so – immer noch weiter. Daher erwarte ich mir nicht, dass es hier zu großen Änderungen kommt, aber wir brauchen Formen, bei denen man sich bedarfsorientiert mit jenen Menschen auseinandersetzt, die wenig Einkommen haben – und das ist das Thema.
GROẞ: Frau Belakowitsch.
BELAKOWITSCH: Aber da muss ich jetzt schon etwas entgegnen, weil es war ein gewisser Sozialminister Alois Stöger, der es nicht geschafft hat, die damalige Mindestsicherung österreichweit einheitlich zu gestalten. Wir hatten damals neun unterschiedliche Gesetze, neun unterschiedliche Beihilfen, neun unterschiedliche Mindestsicherungssätze. Also so gesehen war eine Reform auch dringend notwendig. Man kann jetzt alles schlechtreden, alles gut reden, man kann natürlich auch (STÖGER: Es stimmt nur nicht!) die Zeit davor verklären, aber es war davor auch nicht alles Gold, und es ist einfach - - Noch einmal: Es gab damals einfach die Intention, auch diese Zuwanderung in das Sozialsystem hintanzuhalten, mit gutem Grund. Jetzt gibt es diese Intention in der derzeitigen Regierungskonstellation halt nicht. Das ist zur Kenntnis zu nehmen, aber zu sagen, vorher war alles viel besser, weil dann haben die sich damit beschäftigen dürfen und jetzt dürfen sich die Sozialarbeiter nicht mehr mit ihrer Klientel beschäftigen, also das Argument ist wirklich an den Haaren herbeigezogen. Das ist eines der Argumente, die so mit Sicherheit nicht stimmen, weil natürlich - -
GROẞ: Vielleicht lassen wir es einfach auch so jetzt einmal stehen, damit wir nicht nur Vergangenheitsbewältigung zu diesem Thema hier betreiben. (BELAKOWITSCH: Reden dürfen wir schon noch!) Wenn es aktuell keine Wortmeldungen mehr gibt, auch zu dem, was Schenk gesagt hat - - Doch. – Herr Weidinger, bitte.
WEIDINGER: Ich möchte nur das von Kollegen Stöger eben zurückweisen, weil es schon notwendig ist, zu sagen, dass das ein System ist, das weiterentwickelt wird, wo es Verbesserungen – immer notwendig – gibt. Daher ersuche ich den Kollegen (STÖGER: Das kann man zu allem sagen!), respektvoll auch mit Aussagen umzugehen.
STÖGER: Das kann man zu allem sagen, das ist meinungslos. Entschuldigung.
GROẞ: Noch darüber hinausgehende Wortmeldungen? – Wenn nicht, dann gehen wir einfach in der Thematik weiter, würde ich vorschlagen. Vielen Dank an dieser Stelle an Martin Schenk noch einmal. Es gibt Geschäfte, meine Damen und Herren, in denen Einkaufen nicht selten eine Prestigesache ist, und es gibt auch das Gegenteil, Geschäfte nämlich, in die viele nur zögerlich, um nicht zu sagen heimlich, gehen: Die Rede ist von den sogenannten Sozialmärkten. Sie stehen nur Menschen mit niedrigem Einkommen oder in Notlage offen, und das scheinen immer mehr zu werden. Seit Beginn der Coronakrise im März 2020 hat sich die Anzahl der Kunden massiv erhöht, sagen die Betreiber, und immer mehr Erwerbstätige, denen dennoch zu wenig Geld zum Leben bleibt, und ehemalige Selbstständige sind darunter.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Sprecher: Mittwoch, kurz vor 10 Uhr vor dem Sozialmarkt im 22. Bezirk in Wien. Eine Menschentraube wartet vor dem Eingang auf die Öffnung des Marktes, um kostengünstige Lebensmittel zu kaufen. Auch Ernst Weinrauch kauft hier seit mehr als sieben Jahren ein. Seine Pension reicht einfach nicht mehr für die Anschaffungen des täglichen Lebens. Die Rechnungen häufen sich, und der Wiener ist froh, sich etwas Geld sparen zu können. Ohne Sozialmarkt würde sein Leben anders aussehen.
Ernst Weinrauch (Pensionist): Ich würde dann wirklich in einer Armut leben. Ich kann dann froh sein, gut, dass ich da das Haus habe, das nicht mir gehört, dass ich da vielleicht Erdäpfeln oder Sonstiges an Lebensmitteln anbauen kann, und kann mir nichts leisten. Das ist es – ganz einfach. Ich müsste dann ganz sparsam leben.
Sprecher: Vor rund zwölf Jahren ist Ernst Weinrauch in Pension gegangen. Anfangs konnte er noch gut leben von seinen Ersparnissen, doch mittlerweile ist er Stammkunde im Sozialmarkt. Schamgefühl hat er deswegen keines mehr.
Ernst Weinrauch: Am Anfang, muss ich ehrlich sagen, habe ich mir auch gedacht: Mein Gott, hoffentlich sieht mich nicht jemand, der mich kennt. Also meine Kinder wissen es sehr wohl. Die würden mich auch sponsern, aber ich will nicht.
Sprecher: Im Moment kann sich der Vater und Großvater das Leben mit seinen Tieren noch leisten. Doch die Preise des täglichen Lebens steigen, und immer mehr Menschen spüren die Teuerung am eigenen Leib. Seit Beginn der Coronakrise gibt es im Sozialmarkt um ein Viertel mehr Kunden. Durch den Ukrainekrieg und seine Folgen hat sich die Situation jetzt noch einmal verschärft. Alexander Schiel hat vor mehr als zehn Jahren den ersten Sozialmarkt Wiens gegründet. Seine Klientel hat sich in der letzten Zeit allerdings verändert.
Alexander Schiel (Sozialmarkt-Gründer): Es sind sehr viele gekommen, die eigentlich nie gedacht hätten, dass sie in einem Sozialmarkt einkaufen müssen, die auch nie davon gehört haben, aber die mittlerweile durch die Teuerungswelle, durch die Umstände einfach gezwungen sind, Lösungen zu finden, und da ist Einkaufen bei uns einfach die sinnvollste Lösung und die schnellste Lösung, wo man sich Geld ersparen kann.
Sprecher: Und derzeit ist kein Ende der Situation in Sicht. Ernst Weinrauch ist dankbar für das Angebot, denn ohne Sozialmarkt müsste er mit massiven Einschränkungen leben.
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GROẞ: Und inzwischen haben wir hier im Politik-am-Ring-Studio gewechselt und ich darf neben mir begrüßen: Christine Mayrhuber, Senior Economist am Wifo – herzlich willkommen (MAYRHUBER: Guten Abend!) – und Oliver Picek, Chefökonom des, ich glaube, das kann man so sagen, linken Thinktanks Momentum-Institut – herzlich willkommen. (PICEK: Guten Abend!) Frau Mayrhuber, ich möchte mit Ihnen gerne beginnen. Sie sagen ja zu diesem Thema, über das wir heute reden: Es gibt da ein strukturelles Problem, das durch kurzfristige Hilfen nicht behoben werden kann. – Welches strukturelle Problem meinen Sie und wie könnte man dieses beheben?
Christine MAYRHUBER (WIFO): Ja, also das Thema der heutigen Sendung heißt ja Wege aus der Armutsfalle. Mir gefällt das Wort Falle nicht, weil wir ja keine Lebewesen sind, die durch die Welt gehen und darauf aufpassen müssen, in keine Falle zu fallen. Aus ökonomischer Sicht sehe ich, dass wir keine Fallen haben, sondern ein strukturelles Problem haben, das dazu führt, dass manche Menschen in Armut leben müssen. Was sind die strukturellen Probleme? Da gibt es unterschiedliche Bereiche, die man festmachen kann. Das ist zum einen der Erwerbsarbeitsmarkt. Wir sind in Österreich, und nicht nur in Österreich, sondern in Europa insgesamt, so aufgestellt, dass es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt und es auch in Österreich eine besonders hohe Langzeitarbeitslosigkeit gibt. Das heißt, dass diese Menschen zu wenig am Erwerbsarbeitsmarkt teilnehmen können. Wir sehen aber auch jene, die in Beschäftigung sind, die Niedriglöhne haben. Also in Österreich ist der Anteil der niedriglohnbeschäftigten Frauen mit fast 22 Prozent enorm hoch, auch im europäischen Vergleich sehr hoch. Niedriglohn heißt, dass der Bruttostundenlohn weniger als 10,18 Euro ist, und das ist sehr wenig. Also bei den Männern gibt es auch einen hohen Anteil, aber exorbitant hoch sind die Niedriglöhne bei den Frauen. Und wir sehen, und das hat sich jetzt auch in der Coronakrise noch einmal verstärkt, sehr prekäre Erwerbs- und Einkommensverhältnisse. Also vor der Coronakrise diskutierten wir: Was bedeutet die Digitalisierung für die Arbeitsplätze, für die Einkommen?, jetzt in der Coronakrise haben wir gesehen, dass besonders im Bereich der selbstständig Erwerbstätigen, deren Geschäftsgrundlage sozusagen im Lockdown weggefallen ist oder geschlossen wurde, dass die sehr prekäre Einkommensverhältnisse haben. Das alles zusammengenommen ist leider kein vorübergehendes Phänomen, sondern das ist ein strukturelles Phänomen, mit dem sich die Politik meines Erachtens noch zu wenig auseinandersetzt. Hier braucht es Analysen und hier braucht es Maßnahmen, die strukturell ausgerichtet sind. Da geht es um Maßnahmen eben am Erwerbsarbeitsmarkt, beschäftigungsfördernde Maßnahmen, Maßnahmen, die die Langzeitarbeitslosigkeit zurückführen. Das ist sozusagen der Erwerbsarbeitsmarkt. Aber auch im institutionellen Gefüge – und das wurde ja im ersten Teil schon ganz gut angesprochen –: Die Sozialhilfe ist von der Höhe her so gering, dass ein Ein-Personen-Haushalt sozusagen unter der Armutsgefährdungsschwelle lebt. Also hier gibt es auch Nachholbedarf.
GROẞ: Jetzt haben Sie einiges angesprochen und durchaus auch sehr substanzielle Kritik geübt. Ich weiß schon, es ist nicht Ihre Aufgabe, sondern eigentlich die Aufgabe der Politik natürlich, sozusagen Vorschläge zu machen, aber können wir es ein bisschen konkretisieren? Was wären so Vorschläge, was wären Möglichkeiten, um da aus diesem strukturellen Problem herauszukommen? – Existenzsichernde Löhne hätte ich mitgenommen, das ist einmal eines, offensichtlich. Wie erreicht man das?
MAYRHUBER: Im Schritt davor, glaube ich, ist es schon wichtig, sich einmal Zeit zu nehmen und nicht nur für die nächsten Monate oder für das nächste halbe Jahr Politik zu machen, sondern mittel- und langfristig. Das ist sozusagen der ökonomische - - Die ökonomische Perspektive ist nicht eine Perspektive, die auf die Legislaturperiode abzielt, sondern darüber hinausgeht. Und das wäre der erste Schritt, langfristig oder mittel- und langfristig – da reden wir von fünf Jahren und mehr –, zu denken und sich hinzusetzen und sozusagen Pläne zu machen. Vor so einer mittel- und langfristigen Perspektive hat beispielsweise die Lohnpolitik eine entscheidende Rolle zu spielen. Und da diskutieren wir jetzt aber sozusagen dieses eben in der jetzigen Teuerungswelle nicht vor diesem Hintergrund, dass das Einkommen eben für eine große Gruppe von Erwerbstätigen nicht ausreichend ist, dass sogar Erwerbstätige auf die Sozialhilfe zurückgreifen müssen, um hier aufstocken zu müssen.
GROẞ: Herr Picek, ich habe mir die ersten Wortmeldungen beziehungsweise Reaktionen des Momentum-Institutes auch zu dieser Anpassung jetzt angesehen, und da heißt es: Es gibt zwar einige Verbesserungen, aber es muss, und auch hier wieder, an grundsätzlichen Schrauben noch gedreht werden. Adressiert werden da vor allem auch die Armutsgefährdungsquote bei AlleinerzieherInnen und die Armut bei Kindern. – Was ist denn da konkret zu tun aus Ihrer Sicht?
Oliver PICEK (Momentum Institut): Ja, also wir sehen tatsächlich, Alleinerziehende haben ein großes Problem. Es sind meistens Frauen, die Kinder haben, die dann unter diesen Armutsverhältnissen leben müssen. Wir sehen es auch bei den Langzeitarbeitslosen: Jede zweite langzeitarbeitslose Person ist armutsgefährdet. Also da ist tatsächlich viel zu tun. Ich glaube, wir haben jetzt auch gesehen, in der Pandemie haben zum ersten Mal - -, musste die Bundesregierung erkennen, diese Sozialleistungen, die wir haben, haben nicht ausgereicht, und hat deshalb mit Einmalzahlungen nachgeschossen. Jetzt haben wir die Teuerung und wir sehen schon wieder: Es reicht nicht aus. Jetzt macht man wieder Einmalzahlungen. Also ich denke, wir sollten einmal von diesem Grundsatz der Einmalzahlungen und dass man immer dann, wenn man irgendetwas braucht, irgendetwas macht, wegkommen und grundsätzlich einmal die verschiedenen Sozialleistungen auf ein Niveau bringen, sodass wir endlich über dieser Armutsgefährdungsschwelle sind oder zumindest dort sind. Was heißt das? – Bei der Mindestsicherung beziehungsweise Sozialhilfe, wie sie jetzt heißt, ist es ja so, dass da für eine einzelne Person 300 Euro fehlen, um auf dieses Niveau zu kommen. Für eine durchschnittliche arbeitslose Person oder eine Person in der Notstandshilfe fehlen ebenfalls 300 Euro, für eine Person mit einer Mindestpension fehlen 150 Euro, um diese Armutsgefährdungsschwelle zu überschreiten und damit zumindest halbwegs einmal vor Armut geschützt zu sein. Also da müssten wir eigentlich diese Sozialleistungen auf dieses Niveau raufbringen. Der zweite Punkt neben dem wäre, zu sagen: Na gut, wir haben jetzt eine Teuerung, dadurch werden die Sozialleistungen auch weniger wert. Wir sehen das beispielsweise bei der Familienbeihilfe, bei der Studienbeihilfe – da wird jetzt etwas gemacht –, aber - - Also bei diesen Sozialleistungen sehen wir einfach, dass die in den letzten 20 Jahren schon nicht mit der Teuerung mitgehalten haben, also die haben an Kaufkraft verloren – 20, 30 Prozent circa –, und jetzt haben wir noch einmal diese große Teuerung aktuell. Seit Anfang des Jahres haben diese Sozialleistungen schon 36 Millionen an Kaufkraft verloren, insgesamt. Also auch da müsste man die Sozialleistungen aufwerten, diesen Kaufkraftverlust ausgleichen, dass die eben mit der Teuerung mitsteigen können.
GROẞ: Weil von Frau Mayrhuber auch der Arbeitsmarkt bereits angesprochen worden ist beziehungsweise die Beschäftigungspolitik, möchte ich auch diese Frage an Sie noch richten: Sie fordern ja einen Paradigmenwechsel, wenn ich das richtig verstanden habe, von aktiver zu aktivierender Beschäftigungspolitik, wie das entsprechende schriftliche Stellungnahmen des Momentum-Institutes auch nahelegen. Was konkret meinen Sie aber damit?
PICEK: Na ja, ich denke - - Es ist natürlich richtig, dass wir in der Krise auch gesehen haben, dass das Arbeitslosengeld zu niedrig ist. Also ist einerseits klar, man muss das Arbeitslosengeld erhöhen, die Notstandshilfe erhöhen, um hier eben die Armut zu bekämpfen, aber es gibt auch weitere Vorschläge darüber hinaus, dass man eben nicht nur sagt, okay, man setzt nur auf Geldleistungen, sondern man setzt zum Beispiel auch auf das Prinzip, dass man jeder arbeitslosen Person, wenn sie einmal eine gewisse Zeit arbeitslos ist, ein Jobangebot macht. Dafür bräuchte es dann so etwas wie eine Jobgarantie – so nennt sich das. Das wird aktuell in einem Pilotversuch in einer kleinen Gemeinde in Niederösterreich im Mariental ausprobiert. Es gibt jetzt international viele Initiativen in vielen Ländern, man ist da in der Arbeitsmarktpolitik wieder etwas zurückgekehrt. In Frankreich, in Deutschland, in Luxemburg, wo man gesehen hat, okay, man muss für eine bestimmte Personengruppe, die halt eben länger arbeitslos ist und dann deswegen auch in dieser Falle ist - - Weil: Wenn ich einmal über acht Monate arbeitslos bin, dann sagt normalerweise auch ein Unternehmer: Das ist mir zu riskant, diese Person. Das will ich nicht, das tue ich mir nicht mehr an, auch wenn die perfekt arbeitsfähig ist. Also da sehen wir eine gewisse Diskriminierung, und deswegen, glaube ich, brauchen wir hier einfach Jobs für die Leute, also dass wir eben nicht nur die Arbeitslosigkeit finanzieren, nicht nur die Geldleistung finanzieren, sondern auch sagen: Wir finanzieren mit diesem Geld Jobs. Das kostet etwas mehr, das stimmt. Da müsste man noch einmal 50 Prozent draufschlagen, vom Arbeitslosengeld. Dafür könnten wir damit die Langzeitarbeitslosigkeit effektiv abschaffen.
GROẞ: Degressives Arbeitslosengeld, also dass man am Beginn mehr zahlt und es dann innerhalb kürzerer Zeit sozusagen sehr schnell weniger wird, da sind Sie dagegen. Können Sie auch noch erklären, warum?
PICEK: Na ja, der einfache Fakt ist, dass jede zweite langzeitarbeitslose Person, also die über ein Jahr arbeitslos ist, armutsgefährdet ist. Also wenn ich jetzt natürlich sage, ich schaffe die Notstandshilfe ab oder senke sie – die meisten Vorschläge gehen ja dahin, dass man sie senkt –, dann würde diese Armutsfalle, wenn man so will, verschärft werden.
GROẞ: Dann verschärft man das Problem.
PICEK: Ja, ich hätte da eigentlich keine Lösung für dieses Problem, weil es wird nicht so sein, dass, nur weil ich jetzt Leuten weniger Geld zahle, die dann auch alle plötzlich Jobs suchen.
GROẞ: Vielleicht nur ganz kurz: Wie stehen Sie zu dieser Thematik, weil das ja auch von Minister Kocher immer wieder ins Treffen geführt wurde?
MAYRHUBER: Na, ich würde das gerne in einen größeren Kontext stellen. Die Zahlung an Arbeitslose ist eine Geschichte, aber der Arbeitsmarkt, nämlich die Arbeitsnachfrage der Unternehmen, ist eine andere Geschichte. Und da sehe ich einen mindestens genauso großen Handlungsbedarf, nämlich dass Unternehmen verstärkt Anreize bekommen, dass ältere Arbeitslose oder auch Menschen, die nicht mehr zu 100 Prozent leistungsfähig sind, sondern die vielleicht nur mehr zu 90 Prozent oder zu 80 Prozent leistungsfähig sind, einen Job finden und dass die beschäftigt werden. Hier herrscht meines Erachtens in Österreich dieses Prinzip alles oder nichts. Entweder sind die Menschen voll leistungsfähig, dann haben sie die Möglichkeit zu arbeiten, oder sie sind nicht voll leistungsfähig, und dann haben sie auch nicht die Chance, die verbleibende Arbeitsfähigkeit einzubringen. Und hier sehe ich die Unternehmen sehr stark - -, würde ich die Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen.
GROẞ: Vielen Dank. Ich glaube, das ist viel Material zum Diskutieren und viel Stoff zum Diskutieren. Wer will den Anfang machen? Ich lasse es jetzt einmal ganz offen. – Bitte, Herr Weidinger.
WEIDINGER: Ja, also grundsätzlich ist festzuhalten, dass Arbeit ein essenzieller Bestandteil für ein sinnerfülltes Leben ist. Das ist eine Auffassung, die wir ganz klar vertreten. Deswegen sollte es auch die Möglichkeit geben, dass derjenige, der mehr arbeitet, mehr Leistung erbringt, auch mehr dafür bekommt. Daher haben wir, losgelöst von der Krise – und da möchte ich vielleicht auf das Argument vom Wifo, das Sie hier heute vertreten, auch hier eingehen –, haben wir den Grundsatz in der Bundesregierung, die Menschen, vor allem die arbeitenden Menschen, zu entlasten, dass es hier einen besonderen Anreiz gibt. Und ich glaube, gerade auch der Reformprozess von Herrn Bundesminister Kocher geht in die Richtung. Er hat hier Stakeholder eingeladen, also alle verschiedenen Richtungen, Arbeitnehmerschaft, Unternehmerschaft, um hier Ideen zu sammeln, und er wird Ende Juni ja auch ein konkretes Paket zu diesem Thema vorschlagen. Für uns ist dabei besonders wichtig, dass das Prinzip Leistung muss sich auszahlen auch umgesetzt wird. Aber ich sage auch ganz klar: Der österreichische Arbeitsmarkt kann es sich nicht leisten, Menschen zurückzulassen, aus dem humanitären Grund heraus, aber natürlich auch, weil – das wurde auch als Argument angeführt – wir individuelle Unterstützungen mit einer aktiveren Arbeitsmarktpolitik brauchen. Hier ist viel Gutes in der Vergangenheit passiert, aber es braucht natürlich auch Nachschärfungen. Ich denke gerade an die Transformation, Stichwort Green Jobs, wo wir ja gemeinsam in der Bundesregierung auch an einem Fonds arbeiten, um die Betriebe und vor allem die Menschen hier in diesem Bereich auch zu stärken, um sie mitzunehmen, um unsere selbst gesteckten Ziele auch zu erreichen. Abschließend darf ich hier noch anfügen, dass vor allem das degressive Arbeitslosenmodell doch eines ist, dass eine besondere Bedeutung hat. Und, wie es auch vonseiten Momentum-Institut angesprochen wurde, wir haben die Studienbeihilfe erhöht, nämlich um 8,5 bis 12 Prozent, und das leistet gerade für die 50 000 Berechtigten in Österreich auch einen Beitrag, um jetzt die Wohnmietsituation, aber auch um die Lebensumstände auch kurz- und mittelfristig zu verbessern.
GROẞ: Bitte sehr, gibt es noch Wortmeldungen zu dem Gesagten? – Bitte sehr, Frau Belakowitsch.
BELAKOWITSCH: Ich bin der Meinung, natürlich, dass wir ein großes strukturelles Problem haben – das ist sicherlich etwas, das man mittelfristig wird angehen müssen. Ich glaube nur, dass man die Bürger jetzt nicht mehr auf eine mittelfristige Strukturreform vertrösten kann, weil wir derzeit in einer sehr angespannten Situation sind. Das heißt, wir brauchen wahrscheinlich beides, wir brauchen natürlich ein Angehen des Arbeitsmarkts, eine Reform in der Struktur, das stelle ich gar nicht in Abrede, aber, was es trotzdem braucht, sind jetzt konkret Hilfestellungen, die sehr rasch gehen. Und da braucht es halt schon auf der einen Seite im Einkommensbereich etwas, damit einfach mehr überbleibt, also Senkung von Lohnsteuer wäre notwendig. Ich glaube auch, dass es ganz dringend jetzt eben die vorgezogene Pensionserhöhung bräuchte, um hier einfach für die Betroffenen eine Möglichkeit auch zu haben – jetzt mit diesen Preissteigerungen, die sich ja in keiner Weise in den Lohn- beziehungsweise Pensionserhöhungen des letzten Jahres abgebildet haben. Ich meine, ich möchte nur daran erinnern, Pensionisten ab einer Pension von 1 300 brutto haben 1,8 Prozent Erhöhung. Das heißt, die haben einen enormen Verlust, müssen aber auch die Preissteigerungen stemmen, und da nützen ihnen die Zahlen von 7,2 Prozent gar nichts, weil die ja viel mehr im Bereich der Lebensmittel ausgeben, in einem Bereich, wo die Inflation weit höher als 7 Prozent liegt. Das heißt, da muss man unbedingt auch jetzt, tatsächlich auch kurzfristig hinschauen und etwas machen. Einmalzahlungen sind eh nett – also ich habe überhaupt kein Problem, wenn die Regierung mit Einmalzahlungen unterstützt –, ich bin nur sehr kritisch, weil die sehr schnell verpuffen. Darum glaube ich, bräuchte es da tatsächlich, dass man als Regierung auf der einen Seite eben im Bereich des Einkommens handelt, und zwar sehr rasch, und auf der anderen Seite im Bereich der Kostensteigerungen, und da fehlt mir eigentlich ein bisschen die Fantasie dieser Regierung. Da passiert nämlich überhaupt nichts, weder im Bereich der Energie wird etwas gemacht, um diese Preissteigerungen einzudämmen, noch der Treibstoffe, und ein ganz zentraler Punkt - -
GROẞ: Vielleicht schauen wir, ob die Fantasie vielleicht da ist.
BELAKOWITSCH: Ja, schon, aber ich möchte das schon noch sagen, denn ich weiß ja, dass nichts kommt. Also bis jetzt ist nichts gekommen, wie beispielsweise im Bereich der Lebensmittel. (GROẞ: Ja, okay!) Da ist überhaupt nichts ersichtlich. Jetzt werden dann gleich wieder die 150 Euro Energiekostenausgleich, und ich weiß nicht was alles, kommen, allein das wird - - (GROẞ: Schauen wir einmal, aber lassen - -) – Ja, aber wenn wir sagen: Armut vermeiden!, dann halte ich das für ein ganz wesentliches Thema (GROẞ: Okay, das ist angekommen, Frau Belakowitsch!), dass wir endlich auch über das sprechen, wie wir konkret Hilfe leisten können, und dass die 150 Euro, die da jetzt bereitgestellt werden, eh nett sind (GROẞ: Aber nicht ausreichend!), aber bei vielen nicht einmal die Rate der neuen Stromrechnung abdeckt, nämlich das, was sie mehr zahlen müssen. Das ist das, was ich so kritisiere!
GROẞ: Schauen wir, ob von Herrn Stöger auch noch etwas in diese Richtung kommt beziehungsweise noch zusätzlich etwas kommt, und dann gehen wir vielleicht zu Herrn Koza über.
STÖGER: Ich möchte darauf hinweisen, was Frau Mayrhuber gesagt hat, etwas, das, glaube ich, sehr wichtig ist, nämlich strukturell hinzuschauen. Da ist gesagt worden: Einmalzahlungen, bringen uns nicht weiter. Wir brauchen eine Erhöhung auf ein vernünftiges Maß, sodass man danach nicht mehr arm ist und wodurch Armut verhindert wird. Ich glaube, das ist der wichtige Punkt. Es braucht natürlich eine Lohnpolitik und Instrumente, damit Lohnpolitik auch möglich ist, insbesondere auch Lohnpolitik in den Gruppen, in denen viele Frauen beschäftigt sind; ich glaube, das ist nicht nur das Arbeitslosengeld, sondern es ist auch dort die Lohnpolitik. Ich möchte das noch einmal auf Deutsch übersetzen, was Kollege Weidinger gesagt hat: Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis. Wir werden einmal bis zum Sommer schauen. – Das kann es nicht sein! Die Leute müssen jetzt zahlen, haben jetzt die Probleme, und da brauchen wir von der Regierung schlicht und einfach mehr.
GROẞ: Herr Koza.
KOZA: Bevor ich zum Thema Arbeitsmarkt komme – ich glaube, das ist in Wirklichkeit ganz ein zentrales Thema –, eine kurze Replik auf Frau Abgeordnete Belakowitsch: Wenn es nur die 150 Euro wären, ja, die angebliche Entlastung bringen, dann will ich auch die Kritik verstehen, nur es ist ja deutlich mehr. Wir haben ja ein sehr umfassendes Paket geschnürt, wie die Senkung von Energieabgaben, die Senkung des Ökostrombeitrags, den Teuerungsausgleich für besonders vulnerable Gruppen, und gleichzeitig haben wir im Rahmen der Steuerreform Maßnahmen vorgezogen, die ursprünglich nicht so geplant waren, um untere Einkommensgruppen zu entlasten. Das heißt, da ist schon sehr viel passiert, und es ist nicht uninteressant. Die oft sehr gescholtenen Einmalzahlungen, die wir da getätigt haben – abgesehen davon, dass es sie zuvor in Krisen nie gegeben hat, nicht für Arbeitsuchende, nicht für AusgleichszulagenbezieherInnen, nicht für Sozialhilfe- oder MindestsicherungsbezieherInnen –, hat diese Regierung erstmalig gemacht, und zwar in der Krise, in der Covid-Krise, und wir haben über eineinhalb Jahre die Notstandshilfe auf die Höhe des Arbeitslosengeldes angehoben. Ist das jemals zuvor gemacht worden? – Nein, in keiner Krise. (LOACKER: War es gescheit?) – Ja, es war gescheit. Es war sinnvoll, weil es uns gelungen ist – und dazu gibt es die Studien vom IHS, die Studien vom Wifo –, dass wir die soziale Krise in der Coronapandemie einigermaßen abgefangen haben. Das heißt, die Armutsgefährdung – und jeder Mensch, der armutsgefährdet ist, ist ein Mensch zu viel; nur damit ich nicht missverstanden werde, ja – und das ist kein Ausruhen, konnte einigermaßen eingedämmt werden. Das waren natürlich auch diese Maßnahmen, auch die viel gescholtenen Einmalzahlungen, die übrigens andere Länder im Rahmen der Krise genauso machen. Man muss sich nur das deutsche Krisenpaket anschauen, da gibt es sehr viele Einmalzahlungen und auch andere Maßnahmen. Das ist einfach so. (BELAKOWITSCH: Ich habe sie aber nicht gescholten!) Das heißt also, es ist relativ viel passiert, auch einmalig passiert. Und das Problem, dass die Sozialleistungen in Österreich nicht armutsfest sind, gibt es nicht erst seit gestern, das gibt es nicht erst seit Corona, dieses Problem gibt es schon seit Jahrzehnten. Wir haben bedauerlicherweise nie armutsfeste Sozialleistungen gehabt, und es wird höchste Zeit, dass wir uns endlich daranmachen, das tatsächlich zu tun, wobei ich sage: Es ist sehr schwierig, es ist nicht leicht, und es braucht dazu auch einen politischen Konsens, und den herzustellen, ist bekannterweise auch nicht besonders einfach Zum Thema Arbeitsmarkt: Ich halte das wirklich für eine ganz zentrale Herausforderung, wie man diese Armutsgefährdung, gerade bei Menschen, die langzeitarbeitslos sind, die langzeitbeschäftigungslos sind, die besonders auch von dieser Teuerung betroffen sind, tatsächlich bestmöglich abfängt, und da ist für mich natürlich die Frage einer Valorisierung von Sozialleistungen eine ganz wesentliche. Auf der anderen Seite muss man auch eines sagen: Wenn wir viel Geld in die Valorisierung von Sozialleistungen, Sozialtransfers stecken beispielsweise, dann kann dieses Geld beispielsweise auch beim Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen fehlen. Die Frage von Finanzleistungen versus Sachleistungen, die Frage von Erhöhung von Finanzleistungen - -
STÖGER: Aber die Spekulanten dürfen das Geld kriegen, oder wie? Das zahlen wir? Für den Spekulanten zahlen wir es, aber jetzt tauschen wir Kinder gegen Arme aus – Entschuldigung!
KOZA: Kollege Stöger, ich weiß nicht, warum Sie mir da unterstellen, ich würde Spekulanten das Geld irgendwie hinterherschmeißen! Das wäre mir persönlich relativ neu. Ich habe das noch nie gemacht und habe auch nicht vor, das zu tun. Die Frage ist nur – das ist eine ernsthafte Diskussion der Sozialpolitik (STÖGER: Gaspreis!) –, und der kann man sich durchaus auch einmal stellen, indem man fragt (STÖGER: Täglich!): Investiere ich hier oder - - Ich glaube, wir müssen in beides investieren. Wir müssen sowohl den Finanzbereich stärken, die sozialen Transfers stärken, wie wir es auch getan haben, als auch die Infrastruktur. Die Idee beispielsweise, die Herr Picek gerade angesprochen hat, nämlich die Frage von Beschäftigungsgarantien oder Qualifizierungsstrategien, um Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit rauszuholen, halte ich für sehr wichtig. Und man sieht ja auch, wir haben in der Coronakrise auch sehr umfangreiche Pakete geschnürt: Wir haben nicht nur das Arbeitslosengeld erhöht, sondern wir haben die Coronajoboffensive, wir haben die Initiative Sprungbrett – viel gescholten, viel kritisiert. Was es gebracht hat, ist, dass wir derzeit die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 14 Jahren haben. Natürlich ist das auch einer Konjunktur geschuldet, nur: ganz falsch haben wir die Arbeitsmarktpolitik in der Krise anscheinend nicht angelegt, denn sonst hätte es diese Zahlen nicht gegeben. Die Konjunktur alleine wird es vermutlich nicht sein, aber wir werden sehen, was die nächsten Monate bringen, denn die werden für den Arbeitsmarkt hart werden.
GROẞ: Herr Weidinger, da Herr Abgeordnete Koza gerade angedeutet hat, dass offensichtlich das Herstellen des politischen Konsenses nicht immer so leicht ist: Warum machen Sie es ihm nicht leichter?, oder: Wo ist das Problem? (KOZA – erheitert –: Ich meine es grundsätzlich!)
WEIDINGER: Es geht ja darum, dass wir für die Menschen die Herausforderungen in diesem Land meistern, das steht ja im Mittelpunkt, und da sind zwei Parteien, die teilweise unterschiedliche Ansätze haben, aber das, was uns vereint, ist dieser gemeinsame Wille. Wir befinden uns jetzt auch in einer Phase, und das sage ich auch ganz klar, in der wir pragmatisch sein müssen, und das sind wir. Deswegen halte ich noch einmal fest – Frau Mayrhuber hat es ja vorhin auch angeführt –, was notwendig ist: Man braucht eine Strategie, losgelöst von einer Krise, und die haben wir; dass man die Menschen entlastet, und das machen wir mit unseren Budgets. Und ich darf noch daran erinnern, dass in Österreich für die Krise 42 Milliarden Euro zur Unterstützung der Wirtschaft, für die Arbeitsplätze in die Hand genommen wurden, und das hat uns, wie ich meine, gut durch diese Krise gebracht. Dass das nicht vorbei ist, dass wir jetzt wieder in herausfordernden Zeiten leben, liegt auch auf der Hand, aber ich möchte das hervorheben, weil das ein bisschen untergegangen ist und von Ihnen (in Richtung STÖGER) als Arbeits- oder Sesselkreis eben tituliert wurde. Es war aber eher das Gegenteil der Fall. Fachminister Martin Kocher hat es natürlich verstanden, dass es während der Pandemie notwendig ist, das System aktive Arbeitsmarktpolitik auch wieder auf Höhe der Zeit zu bringen. Er hat deswegen im letzten Jahr diesen Prozess unter Einbindung aller Parlamentsfraktionen auch gestartet, und dieser Prozess ist jetzt in der Phase, dass mit Juni die Vorschläge konkret auf den Tisch gelegt werden. Da Sie vorhin das Thema von den Konzernen angesprochen haben: Auch da ist es für uns ganz klar, dass es notwendig ist, dass jeder seinen Beitrag leistet, sei es privatwirtschaftlich, indem in die Infrastruktur oder Netze investiert wird, oder auch in Überlegungen, die es ja auch als Vorschläge gibt, wie etwaige Sonderrabatte für Dividenden, um die Bürger da auch dementsprechend zu entlasten. Da werden Finanzminister Brunner und Arbeitsminister Kocher auch konkrete Vorschläge vorlegen, um auch da einen Beitrag zu leisten, auch diesen Teil gut zu meistern. Noch ein letzter Satz von mir: Die Pakete – und da bin ich bei Kollegen Koza – kommen an, denn es werden viele, viele Hunderte Euros ausgeschüttet, die die Menschen schon in den Brieftaschen haben (BELAKOWITSCH: Die sind schon wieder weg!), um da einen Beitrag als Soforthilfe zu leisten.
GROẞ: Danke. – Herr Loacker.
LOACKER: Ja, ich möchte da schon einmal etwas zurechtrücken, denn sonst bekommen die Zuschauer Depressionen. Wenn sie da zuhören, glauben sie, die Österreicher schlafen jetzt bald alle unter der Brücke, weil wir so arm sind. In den zehn Jahren vor der Krise hat sich die manifeste Armut halbiert. Das könnte man auch als Erfolg sozialdemokratischer Sozialpolitik verkaufen; tut man nicht, warum, weiß ich nicht – dann kann man vielleicht manchmal auch ein Geschäft mit der Tränendrüse machen, nicht? Wir wissen auch – das haben jetzt, glaube ich, auch alle durchblicken lassen –, die beste Prophylaxe gegen Armut ist Arbeit, und wir haben einen Arbeitsmarkt, der so viele Chancen bietet wie schon lange nicht mehr. Wir haben so viele offene Stellen wie schon lange nicht mehr, und dann gibt die Chefin des AMS Wien dem „Kurier“ ein Interview, in dem sie sagt: Ja, es stimmt, man müsste die Arbeitslosen wieder ein bisschen aktivieren, die kommen oft nicht zu Terminen und nehmen oft Schulungen nicht wahr, und ja, es ist ein bisschen eingeschlafen, dass wir über die Bundesländergrenzen hinweg Arbeitsplätze vermitteln. – Und da denke ich mir: Ups, und das kommt von einer führenden Person des AMS!, und dann kommen wir zur Struktur, die Frau Mayrhuber angesprochen hat. Wir haben in Österreich sehr viele verschiedene kleine Förderungen dafür, in Teilzeit zu arbeiten, und mit diesen steuerlichen Anreizen und Sozialversicherungsanreizen in Teilzeit zu arbeiten, rentiert es sich dann für diese Arbeitskräfte nicht, oder es rentiert sich nur ganz wenig, mehr zu tun, und dann verharren sie in diesen oft schlechter bezahlten Teilzeitjobs und entwickeln sich nicht weiter. Wenn man dann arbeitslos wird, hat man eine schlechte Arbeitslosenleistung, wenn man in Pension kommt, hat man eine niedrigere Pension, weil man viele Jahre in der Teilzeit war. Eigentlich müssten wir uns die Struktur anschauen, die wir aufgebaut haben, die die Republik aufgebaut hat, die überall leistungsfeindliche Bremsen einschiebt, und dem, der mehr arbeiten möchte, immer sagt: Das zahlt sich für dich nicht aus, denn da fällt diese Leistung weg, und dort musst du jetzt das bezahlen und das bezahlen und das bezahlen, wenn du mehr arbeitest! – Das sind strukturelle Probleme, die gegen jene gehen, die arbeiten, die die im Übrigen jetzt dem Finanzminister die Kassen füllen. Es gehört die kalte Progression abgeschafft, damit denen, die arbeiten, netto mehr übrig bleibt, und über das redet leider niemand.
GROẞ: Vielen herzlichen Dank. Sie haben jetzt darüber geredet. Frau Mayrhuber, Herr Picek, Sie haben nicht nur aufmerksam zugehört, Sie haben sich auch viele Notizen gemacht. Frau Mayrhuber, deshalb möchte ich gleich mit Ihnen beginnen: Was ist Ihnen denn jetzt besonders aufgefallen an dieser Diskussion?
MAYRHUBER: Es waren jetzt viele Themen, aber eines möchte ich unterstreichen, was Herr Abgeordneter Loacker gesagt hat: Es gibt empirische Befunde, und da hat das Wifo dazu gearbeitet, dass eine bessere Betreuung der Arbeitslosen am AMS tatsächlich dazu führt, dass die Arbeitslosenphase reduziert wird, dass die Leute schneller in einen Job kommen. Also das kann ich nur unterstreichen, dass da die Vermittlungsbemühungen seitens des AMS wirklich eine wichtige Rolle spielen, und wenn die verstärkt werden, dann ist das sozusagen ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, würde ich sagen. Eines möchte ich hier an dieser Stelle festhalten: Sie haben ja gesagt, Herr Abgeordneter Weidinger, Arbeit soll sich lohnen. Da würde ich gerne darauf verweisen, dass Sie ausschließlich von der Erwerbsarbeit sprechen. Wir haben aber auch andere Formen der Arbeit, und das hat sich besonders in der Coronakrise 2020 gezeigt, als Schulen geschlossen worden sind, als Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen worden sind und als die Arbeit dann zurück in den Haushalt verlagert worden ist. Auch da wird gearbeitet, und besonders Frauen leisten da sehr viel für die Gesellschaft, für den Fortbestand der Gesellschaft, für die Entwicklung der Gesellschaft. Also Arbeit, von der Sie sprechen, meint Erwerbsarbeit. Ich möchte den Fokus darauf legen, dass es auch eine andere Arbeit gibt, die nicht bewertet ist, aber die mindestens genauso LeistungsträgerInnen sind wie Erwerbsarbeit. Das Dritte, was ich festhalten möchte, ist, dass die Pandemie gezeigt hat, dass das Verständnis der öffentlichen Hand, des Staates jetzt wieder ein anderes ist. Gott sei Dank hat die Politik dieses Mal anders reagiert als in der großen Rezession in den 1930er-Jahren. Da hat sie aktiv dagegengesteuert. Ich denke, das ist ein wichtiger Schritt gewesen, im öffentlichen Diskurs zu sehen, dass die öffentliche Hand da eine ganz große Rolle in der Gestaltung der Wirtschaft hat, dass es nicht nur um Angebot und Nachfrage am freien Markt geht, sondern dass Wohlfahrt und Wohlbefinden in einem Land maßgeblich von staatlichen Strukturen mitbeeinflusst werden. Das ist eigentlich eine gute Grundlage, auf der aufgebaut werden könnte, um die großen Herausforderungen für die Zukunft anzugehen.
GROẞ: Danke schön. – Herr Picek, was war für Sie das, was Sie jetzt aus dieser lebendigen Runde, der letzten, mitgenommen haben, oder wo Sie zum Teil auch Widerspruch anzumelden haben?
PICEK: Ja, also ich denke, es sind sehr viele gute Dinge gefallen. Es ist tatsächlich so, dass wir aus der Pandemie heraus - - also dass die Einmalzahlungen natürlich was bewirkt haben, das ist klar. Es ist tatsächlich so, dass das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe in den letzten 30 Jahren in einer Art Dornröschenschlaf waren. Man hat daran wenig verändert, aber natürlich hat die Pandemie selbst aufgezeigt, denn da haben sich innerhalb von einem Monat die Arbeitslosenzahlen fast verdoppelt, und es wurde ganz offensichtlich, wenn wir die Kurzarbeit nicht gemacht hätten, als Land Österreich, als Republik, dann hätten wir wahrscheinlich sogar über eine Million Arbeitslose, zumindest kurzfristig, in diesem Land gehabt, also da hat man dann ganz deutlich gesehen, wie wichtig eigentlich ein Arbeitslosengeld und auch eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist, wie viel Armut das dann auch verhindern kann, aber auch wie viel Armut es im Endeffekt dann auch nicht verhindern kann. Wir sind ja in Österreich natürlich insgesamt in einer im internationalen Vergleich ausgezeichneten Situation, weil wir einen tollen Sozialstaat haben, aber es gibt halt in diesem Sozialstaat immer auch noch Löcher und Lücken, die es laufend zu füllen gilt, und im Stopfen dieser Lücken sind wir eigentlich noch nicht weit genug. Die Zahl armutsgefährdeter Personen und ausgrenzungsgefährdete Personen in Österreich insgesamt bewegt sich in dem Bereich, dass wenn Sie 100 Menschen in einem Raum versammeln, dann sind davon 15 in dieser Kategorie armuts- und ausgrenzungsgefährdet. Also da gibt es, glaube ich, noch viel zu tun, und die Debatte hat ja auch die verschiedenen Ansätze gut aufgezeigt.
GROẞ: Ich möchte auf ein Phänomen noch besonders zu sprechen kommen, das sind diese Working Poor, wie man sie nennt, also Menschen, die arbeiten und trotzdem zu wenig zum Leben haben. Wir haben das am Beginn ja auch in dieser Reportage gesehen, in den Sozialmärkten, wo jetzt zunehmend auch Menschen einkaufen, die sehr wohl Arbeit haben, die vielleicht sogar zwei Jobs zum Beispiel haben, und es aber trotzdem nicht ausreichend ist für ein ordentliches Leben. Ist das ein Phänomen, das sich Ihrer Einschätzung nach noch verstärken wird, beziehungsweise wie kann man dieses Problem beheben, Frau Mayrhuber?
MAYRHUBER: Ich fürchte, dass wir im Jahr 2022 noch längere Zeit diese Situation haben werden, dass die Sozialmärkte für einen großen Teil der Bevölkerung – für einen größer werdenden Teil der Bevölkerung – ganz wichtig sind. Armut hat ja quasi zwei Komponenten: einerseits die Einkommenskomponente, nämlich: Wie viel Geld haben die Haushalte zur Verfügung aufgrund von Erwerbseinkommen oder aufgrund der Sozialleistung?, und auf der anderen Seite: Welche Konsumausgabenstruktur haben sie? – Und das ist ja heute schon diskutiert worden, dass die unteren, dass die ärmsten Haushalte, die 30 Prozent der ärmsten Haushalte im Grunde ihr gesamtes verfügbares Einkommen für Konsumzwecke ausgeben müssen beziehungsweise war es im Jahr 2019, 2020 eigentlich so – da gibt es Daten der Statistik Austria –, dass das untere Drittel die laufenden Konsumausgaben nicht durch das verfügbare Haushaltseinkommen decken konnte, das heißt, sie haben sich verschuldet oder sie haben die Ersparnisse aufgebraucht. Also das ist eine Situation, die wir sehen, und gerade in dieser Einkommensgruppe sind diese Preissteigerungen ganz besonders dramatisch, denn die Preissteigerungen betreffen eben die lebenswichtigsten Bereiche, nämlich Wohnen, Ernährung und Lebensmittel. Insofern ist das eine deutlich schlechtere Situation, die auch, glaube ich, leider noch andauern wird.
GROẞ: Herr Picek.
PICEK: Wenn ich da gleich anschließen darf: Also die Erwartung, die auch vom Wifo ausgerechnet wurde, ist ja, dass die Reallöhne dieses Jahr um 2,5 Prozentpunkte sinken werden. Das ist der höchste Verlust an Kaufkraft für die breite Masse in Österreich seit Jahrzehnten. Ich glaube, wir müssen in nächster Zeit auch ein bisschen darauf schauen, dass wir diese Teuerung und diese Kaufkraftverluste, die es zweifellos gibt - - Solange die Energiepreise so hoch sind, zahlen wir natürlich viel Geld ans Ausland, an Russland, aber auch fürs Öl zahlen wir viel Geld, an Saudi-Arabien und ähnliche Länder, das uns für die inländische Kaufkraft fehlt, und da fehlt mir noch ein bisschen das Management dieser Teuerung. Einerseits machen das natürlich die Sozialpartner, die müssen schauen, dass sie das mit der Lohnpolitik ausgleichen und auch eventuell Mindestlöhne von 1 800 Euro setzen; das wäre eine gute Idee, dass man halt gerade für die Working Poor etwas tut. Andererseits sehen wir aber ja auch, dass diese Kaufkraftverluste, die das Land Österreich insgesamt hat, die Bevölkerung insgesamt hat, dass die noch nicht so gut gemanagt werden, wie das notwendig ist. Wir sehen das zum Beispiel bei den Vermietern. Die erhöhen gerade die Mieten um rund 10 Prozent, die privaten Vermieter dürfen das auch aufgrund der meisten Mietverträge, und deswegen haben die eigentlich keinen Kaufkraftverlust, während die Beschäftigten einen hohen Kaufkraftverlust haben. Auch die Energiekonzerne haben überhaupt keinen Kaufkraftverlust, die schreiben sogar noch Rekordgewinne. Da fehlt mir eigentlich noch ein bisschen das Management. Ja, wir werden jetzt gerade im Moment, solange die Energiepreise hoch sind, ein Stück ärmer, zumindest zeitweise, bis die Energiepreise vielleicht wieder fallen, wir müssen dann aber auch besser aufteilen, wer diese Verluste trägt. Natürlich sollten die Schwächsten, die finanziell Schwächsten im Fokus stehen, aber wir müssen auch darauf schauen, dass die Massenkaufkraft der unteren Mittelschicht im Land erhalten bleibt.
GROẞ: Jetzt hat es vorhin geheißen, jeder muss einen Beitrag leisten, von den Konzernen beginnend bis hin zur Politik. Jetzt ist aber einer der Profiteure der momentanen Situation ja eigentlich der Staat selber, denn wenn man sich das anschaut, so spült ja die Inflation jetzt Geld in die Kassen des Finanzministers. Was soll der Finanzminister mit diesem Geld machen beziehungsweise was davon soll den Menschen wieder zugutekommen, auf welche Art und Weise?
PICEK: Es stehen verschiedene Vorschläge im Raum. Wir haben es uns gerade - - Wir rechnen das gerade durch und es zeigt sich tatsächlich, wenn man die Analyse trifft: die Menschen, die wenig Einkommen haben, können mit der Teuerung nicht umgehen, weil jeder andere, der mehr Einkommen hat, Ersparnisse hat, dem tut das nicht so weh!, dann muss ich natürlich relativ zielgerichtet auf die Sozialleistungen gehen, dann muss ich die Sozialleistungen valorisieren. Eine Abschaffung der kalten Progression kann man politisch für gut befinden, es ist allerdings so, dass da das meiste Geld – wirklich das allermeiste Geld – den hohen Einkommen zugutekommt, auch den mittleren Einkommen, aber nur sehr, sehr wenig den unteren Einkommen. Wenn ich keine Lohnarbeit habe oder wenn ich nur sehr wenig verdiene, bin ich auch von der kalten Progression wenig betroffen. Genauso eine Mehrwertsteuersenkung: Eine Mehrwertsteuersenkung auf Treibstoff finde ich auch nicht so eine gute Idee, das hilft wiederum eher den Leuten, die mehr Autos haben und die auch wieder mehr Geld haben. Eine Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel kann man machen, das bringt den niedrigen Einkommen und den hohen Einkommen ungefähr gleich viel. Da würde ich es aber auch eher auf Grundnahrungsmittel einschränken, vielleicht sogar auch ein bisschen weiter gehen und nicht immer nur darüber nachdenken: okay, wo kann ich jetzt Geld hintun?, sondern auch einmal die Teuerung selbst abbremsen, mittels Höchstpreisen. Wir hatten in Österreich bis 1988 beispielsweise einen amtlichen Brothöchstpreis, also das wäre durchaus eine Möglichkeit, für eine bestimmte Brotsorte so etwas wieder einzuführen. Das würde dann direkt die Inflationsrate dämpfen, genauso als wenn man einen Gas- und Strompreisdeckel für den Grundbedarf machen würde. Damit würde man natürlich die Inflationsrate direkt dämpfen und die Teuerung insgesamt etwas abbremsen – zumindest teilweise.
GROẞ: Vielen Dank. Es gibt also viele Möglichkeiten, anzusetzen. Fallen Ihnen noch andere ein beziehungsweise was würden Sie machen, Frau Mayrhuber?
MAYRHUBER: Ich würde diese kurzfristigen Maßnahmen diskutieren, es ist jetzt eh schon alles angesprochen worden. Dennoch würde ich auch unterstreichen, dass es, wenn wir uns um Leistungsträger Gedanken machen, nicht sein kann, dass da nur die kalte Progression adressiert wird, sondern – ich habe es ausgeführt – dass auch unbezahlt Arbeitende sehr wohl LeistungsträgerInnen sind und da natürlich höhere Sozialleistungen viel gezielter wirken. Eine Indexierung von Familienleistungen, wie Herr Picek ausgeführt hat, gab es schon sehr lange nicht mehr. Es wäre hoch an der Zeit, dass man Familienleistungen, die Familienbeihilfe, indexiert beziehungsweise nicht nur indexiert, sondern die vergangene Nichtindexierung jetzt aufholt. Das wäre sehr zielgerichtet dorthin gehend, wo Kinder sind – kinderreiche Haushalte sind die Haushalte, die sehr stark armutsgefährdet sind –, das wäre also eine rasch wirkende Maßnahme.
GROẞ: Dann sage ich vielen herzlichen Dank, Frau Mayrhuber und Herr Picek. Ich komme zur Schlussrunde und möchte Sie Folgendes fragen – ich beginne bei Ihnen, Herr Stöger –: Was ist die wichtigste Maßnahme – um noch einmal auf den Begriff der Armutsfalle zurückzukommen, den Sie zwar nicht mögen, aber der im heutigen Titel unserer Sendung ja drinnen steht –, die es jetzt zu treffen gilt, über das, was bereits passiert ist, hinaus, um dieses Problem nicht noch virulenter zu machen, das heißt, dass nicht noch mehr Menschen in diese Armutsfalle hineintappen und hineinschlittern?
STÖGER: Für die ganz grob Armutsgefährdeten ist es ganz zentral, das Arbeitslosengeld zu erhöhen. Der zweite wichtige Punkt ist, von der Sozialhilfe wieder zur bedarfsorientierten Mindestsicherung zu gehen – dann kann man sehr viel tun –, und der dritte Schritt ist, wie Frau Mayrhuber angesprochen hat, der Arbeitsmarkt, den Menschen am Arbeitsmarkt Hilfen anzubieten, mit Schulungen, mit Bildungsmaßnahmen, und sie in die Arbeit zu begleiten.
GROẞ: Vielen herzlichen Dank. Frau Belakowitsch, der wichtigste Punkt?
BELAKOWITSCH: Ich kann nicht einen Punkt sagen, es braucht – noch einmal –ein Bündel einerseits auf der Einkommensseite, das heißt, die Pensionserhöhung für das Jahr 2023 schon zur Jahresmitte vorziehen, auf der anderen Seite braucht es eine Lohnsteuersenkung für die arbeitenden Menschen, es braucht die Wiedereinführung einer 13. echten Familienbeihilfe, und auf der anderen Seite muss ich bei den Preisen schauen, dass ich sie stabilisiere. Ich kann das nicht nachvollziehen, zu sagen: Wenn ich die Steuern auf Treibstoff senke, haben nur die Reichen etwas davon! – Davon haben alle etwas, weil die Müllabfuhr auch mit Treibstoff fährt, und damit gehen die Betriebskosten rauf, also das heißt, es braucht natürlich ein Senken der Mehrwertsteuer auf Energie, auf Treibstoffe, aber ganz speziell – und das ist ein ganz wesentlicher Punkt – auf die Lebensmittelpreise. Was wir fordern, ist ein Warenkorb an Grundnahrungsmitteln, wenn das nicht ausreicht, dass ich da die Mehrwertsteuer senke oder gar streiche, dann muss ich – und das sehen wir als Ultima Ratio – tatsächlich einen befristeten Preisstopp einführen, auch damit ich den Leuten wieder ein bisschen Luft zum Atmen gebe. Die Leute sollen nicht Angst haben müssen, dass sie den Kindern am nächsten Tag vielleicht keine Schuljause mehr mitgeben können. Die Gefahr der Armutsfalle besteht ja nicht nur im Bereich der Mindestsicherung, also der Mindestsicherungsbezieher oder der Arbeitslosen, sondern die breitet sich ja gerade hinein in den Mittelstand aus. Damit das nicht passiert, glaube ich, braucht es jetzt ganz, ganz dringend und ganz, ganz schnell diese Maßnahmenbündel.
GROẞ: Danke schön. Herr Loacker, ich nehme an, in den letzten Minuten ist vieles gesagt worden, bei dem es Ihnen die Haare aufgestellt hat. Täusche ich mich?
LOACKER: Ja, ich bemühe mich eh. Ich glaube, der Hauptpunkt ist es, die Nichtarbeitsfalle und die Teilzeitfalle aufzulösen, damit die Menschen die Möglichkeit haben, aus eigener Kraft zu Wohlstand zu kommen und nicht auf den Staat angewiesen zu sein. Es gilt, nicht noch mehr Netze zu bauen, um die Menschen in staatlicher Abhängigkeit zu halten, und das heißt, die Abgaben so zu reduzieren, dass die Menschen gerne arbeiten gehen, weil sie nicht das Gefühl haben, dass sie jeden zweiten Euro der Republik abliefern müssen, und dass sie aus eigener Kraft auf eigenen Beinen stehen können und nicht auf den Staat angewiesen sind. Wir haben so viele offene Stellen wie noch nie, in allen Qualifikationsstufen – vom Hilfsarbeiter bis zum Akademiker –, nur das Matching funktioniert noch nicht. Da können wir noch mehr Chancen realisieren, um den Menschen zur Selbstständigkeit zu verhelfen.
GROẞ: Danke. Herr Koza.
KOZA: Es gilt einerseits, den Weg konsequent weiterzugehen, den wir in puncto Arbeitsmarkt schon im Rahmen der Covid-Krise eingeschlagen haben, nämlich: Investieren in Qualifizierung, in Weiterbildung, und das sozial bestmöglich abgesichert, und den Versuch, unser Sozialsystem möglichst armutsfest zu machen, also kurzfristige Maßnahmen und ganz gezielt dort die Maßnahmen zu setzen, wo tatsächlich insbesondere betroffene Menschen sind. Das wird aber nicht reichen: Wir brauchen auch eine Mittelfrist- und eine Langfristperspektive. Die Mittelfrist- und Langfristperspektive heißt, den möglichst raschen Ausstieg aus den fossilen Energien zu fördern und voranzutreiben, damit wir unabhängig von Öl und Gas sind, insbesondere auch vom russischen Gas. Wir müssen auch dieses Beschäftigungswunder und diesen notwendigen Wandel in der Umweltpolitik, Energiepolitik – nämlich den totalen Umstieg auf erneuerbare Energien und auf eine gerechte, sozial-ökologische Transformation unseres Wirtschaftssystems – wirklich energisch vorantreiben, weil das mittelfristig und langfristig das beste Mittel gegen Teuerung, gegen Inflation und gegen die Abhängigkeit von Potentaten und autoritären Regimen ist. Ich glaube nämlich, die sollten wir nicht mehr weiter finanzieren, weder im Osten noch im Süden.
GROẞ: Vielen Dank. Herr Weidinger.
WEIDINGER: Sozial betroffene Menschen weiter unterstützen, wie wir es machen, diesen Kurs weiter fortsetzen, und ganz stark die Wirtschaft entlasten, Bürokratie abbauen, keine neuen Steuern, Verwaltung weiter vereinfachen und unser Gesellschaftsmodell fit für das zweite und dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts machen – durch Ökologisierung und Vereinfachung am Arbeitsmarkt, wie es Bundesminister Kocher vorgeschlagen hat, um mehr Menschen, Männer und Frauen, in Beschäftigung zu bekommen.
GROẞ: Ich möchte mich bei Ihnen allen herzlich für diese an Ideen und Argumenten reiche Sendung über das Thema Armut bedanken. Danke, meine Damen und Herren, Ihnen für Ihr Interesse und fürs Dabeisein. Ich freue mich, wenn Sie in einem Monat wieder bei „Politik am Ring“ zuschauen. – Auf Wiedersehen und alles Gute.