Ein Europa – eine Stimme?
Podcast: Politik am Ring #20 vom 17. Oktober 2022
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Thema
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die Europäische Union vor eine historische Herausforderung. Während zu Kriegsbeginn die Mitgliedsstaaten noch relativ geschlossen gegenüber Moskau aufgetreten sind, bekommt die Einigkeit jetzt immer mehr Risse. Kommissionspräsidentin von der Leyen will abweichende Mitgliedstaaten wirtschaftlich unter Druck setzen. Der deutsche Kanzler stellt das Einstimmigkeitsprinzip in der europäischen Außenpolitik infrage. Wie kann Europa außenpolitisch mit einer Stimme sprechen? Und soll es das überhaupt?
Teilnehmer:innen der Diskussion
Abgeordnete:
- Nico Marchetti (ÖVP)
- Harald Troch (SPÖ)
- Johannes Hübner (FPÖ)
- Michel Reimon (Grüne)
- Helmut Brandstätter (NEOS)
Eingeladene Fachleute:
- Raffaela Schaidreiter (ORF Korrespondentin Brüssel)
- Patrick Müller (Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien)
Diskussion
Für SPÖ-Abgeordneten Harald Troch sind Einschränkungen des Einstimmigkeitsprinzips nicht nötig. Österreich stehe den anderen Staaten bei der Unterstützung der Ukraine auch im sicherheitstechnischen Bereich nicht im Wege, liefere aber selbst keine Waffen, wie es der Neutralität entspreche. FPÖ-Bundesrat Johannes Hübner argumentiert, dass man sich durch wirtschaftliche Sanktionen und dem Gewähren von Überflugsrechten de facto einer kriegsführenden Partei angeschlossen habe und sich aus der Vermittlerrolle ausgeschlossen hat. Die Vermittlerposition Österreichs werde überschätzt, widersprach auch Michel Reimon, Europasprecher der Grünen, dem FPÖ-Bundesrat. "Mozartkugeln, Lipizzaner und die Vermittlerposition in den 1980ern" seien Teil des Selbstbildes Österreichs, Letzteres sei aber eine Legende.
Hübner selbst habe an der Eskalationsschraube gedreht, als er 2014 die Krim besucht habe, gab Helmut Brandstätter, außenpolitischer Sprecher der NEOS, zu bedenken. Europa hätte schon 2014 klare Sanktionen gegen Russland beschließen sollen. ÖVP-Abgeordneter Nico Marchetti machte geltend, dass viel an der Diskussion innenpolitisch, parteipolitisch aufgeladen sei. Man solle den Krieg, der für die nächsten Jahrzehnte Europas entscheidend sei, aber aus der internationalen Perspektive kommentieren, und die Neutralität ebenso.
Die Leiterin des ORF-Büros in Brüssel, Raffaela Schaidreiter, erzählte, wie schnell 27 Länder die ersten Sanktionen beschlossen hätten. Jetzt werde es aber zunehmend schwieriger, sich auf neue Pakete zu einigen. Patrick Müller, Professor für European Studies an der Universität Wien und an der Diplomatischen Akademie, führte aus, dass es nicht erst jetzt erste Risse gebe, sondern dass es für die EU von Anfang an nicht einfach gewesen sei, diese Vielzahl an schwierigen Entscheidungen zu treffen. Die wirkliche Zerreißprobe stehe bevor, wenn jetzt im Winter energiepolitische Entscheidungen anstehen und die Teuerung zum Tragen komme.
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Transkript
Anmoderation: In dieser Folge von Politik am Ring, der Diskussionssendung des Parlaments, diskutiert Moderator Gerald Groß mit den Abgeordneten Nico Marchetti von der ÖVP, Harald Troch von der SPÖ, Michel Reimon von den GRÜNEN, Helmut Brandstätter von NEOS und das Bundesratsmitglied Johannes Hübner von der FPÖ über die Europäische Union und die Herausforderungen einer gemeinsamen Außenpolitik. Zu Gast sind Raffaela Schaidreiter, ORF-Korrespondentin in Brüssel und Patrick Müller vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Das Gespräch haben wir am 17. Oktober 2022 im Dachfoyer der Wiener Hofburg aufgezeichnet.
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Gerald GROẞ (Moderator): Guten Abend und herzlich willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie bei der 20. Ausgabe von „Politik am Ring“. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt auch die Europäische Union vor eine historische Herausforderung ungeahnten Ausmaßes. Während zu Kriegsbeginn die Mitgliedstaaten gegenüber Moskau noch relativ geschlossen aufgetreten sind, bekommt die Einigkeit freilich immer mehr Risse. Kommissionspräsidentin von der Leyen will abweichende Mitgliedstaaten wirtschaftlich unter Druck setzen, der deutsche Kanzler stellt das Einstimmigkeitsprinzip in der europäischen Außenpolitik infrage. Wie kann Europa in dieser Situation außenpolitisch mit einer Stimme sprechen, und soll es das überhaupt? Darüber diskutieren heute Harald Troch, SPÖ (TROCH: Guten Abend!), Helmut Brandstätter (BRANDSTÄTTER: Guten Abend!), NEOS, Nico Marchetti, ÖVP (MARCHETTI: Guten Abend!), Michel Reimon, Grüne (REIMON: Guten Abend!) und Johannes Hübner, FPÖ – herzlich willkommen! –; außerdem Raffaela Schaidreiter, ORF Brüssel – herzlich willkommen und einen schönen Gruß nach Brüssel! (SCHAIDREITER: Schönen guten Abend nach Wien!) – und Patrick Müller, Universität Wien beziehungsweise Diplomatische Akademie – herzlich willkommen! (MÜLLER: Guten Abend!) Unter dem Eindruck des Krieges ist Europa zusammengerückt, ja man könnte vielleicht sogar sagen, mit ihrer entschlossenen Reaktion hat sich die EU selbst überrascht: Die Sanktionen waren weitaus härter, die Waffenhilfen an die Ukraine deutlich umfangreicher als ursprünglich geplant. Aber bald begann die einheitliche Fassade, Risse zu bekommen, und je länger der Krieg dauert, je eher der Winter vor der Tür steht und andere Probleme wie massive Teuerung, Flucht und Migration zunehmend wieder Themen werden, desto mehr machen sich auch nationalstaatliche Alleingänge und Reflexe bemerkbar.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Sprecher: In Blau-Gelb, den Farben der Ukraine, und mit Olena Selenska, der First Lady der Ukraine, an ihrer Seite, hielt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Mitte September ihre große Rede, die State of the Union, angelehnt an die Rede des amerikanischen Präsidenten. Von der Leyen spricht gleich zu Beginn vom alles dominierenden Thema, dem Ukrainekrieg, und versucht dabei, die Mitgliedstaaten zu einen.
Ursula von der Leyen (Präsidentin EU-Kommission): Vor 15 Jahren, während der Finanzkrise, haben wir Jahre gebraucht, um verbindliche Lösungen zu finden. Zehn Jahre später, als die weltweite Pandemie ausgebrochen ist, haben wir nur mehr ein paar Wochen gebraucht. Dieses Jahr, als russische Truppen über die ukrainische Grenze geschritten sind, haben wir sofort geeint und scharf reagiert. Ich denke, darauf können wir stolz sein.
Sprecher: Doch während zu Kriegsbeginn die Mitgliedstaaten noch relativ geschlossen gegenüber Moskau aufgetreten sind, bekommt die Einigkeit jetzt immer mehr Risse. Bei von der Leyens Rede bleiben Sitze im rechten Flügel leer, unter anderen fehlt Marine Le Pen, die Frontfrau der französischen Rechten. Sie tritt allen voran gegen die Sanktionen gegen Russland auf. Auch in Österreich sind sich die Parteien bei den Sanktionen uneins. Deshalb beruft die Regierung Anfang Oktober eine Sondersitzung ein, um für ein gemeinsames Vorgehen zu werben.
Werner Kogler (Vizekanzler): Noch einmal: Wer hier zuschaut und nichts tut, macht sich mitschuldig, an Massenmord, an Vergewaltigung und an Kinderverschleppung. Klar war, die Sanktionen müssen kommen, finde ich, denn eine direkte militärische Konfrontation und damit Eskalation wollte niemand. Umso bedeutender sind die Sanktionen – um das geht es ja jetzt – und sie sind auch wirksam.
Sprecher: Auch die Asylpolitik ist innerhalb Österreichs sowie unter den EU-Mitgliedstaaten immer wieder ein strittiger Punkt. Bundeskanzler Karl Nehammer kritisiert einmal mehr die überproportional hohe Belastung für Österreich: „Österreich ist derzeit massiv von illegaler Migration belastet. Der solidarische Beitrag, den wir in Europa leisten, ist überproportional hoch. Die Asylpolitik ist gescheitert. Es gibt noch immer keinen starken EU-Außengrenzschutz, und die Realität des Problems wird missachtet.“ Generell ist das Verhältnis der EU zu einzelnen Mitgliedstaaten nicht ganz ungetrübt. Kommissionspräsidentin von der Leyen will Zahlungen an Mitgliedstaaten, in denen Rechtstaatlichkeitsprobleme festgestellt wurden, aussetzen. Konkret geht es etwa um Ungarn: Wegen mangelhafter Korruptionsbekämpfung und anderen Verstößen gegen den Rechtsstaat sollen Zahlungen aus den EU-Töpfen vorerst ausgesetzt werden. Auch Polen droht wegen Missachtung der Grundwerte der EU die vorläufige Einbehaltung von Geldern. Neben Ursula von der Leyen setzt sich vor allem der deutsche Kanzler Olaf Scholz immer wieder für eine handlungsfähige EU ein. Er will dabei das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen, denn oft würde das Veto eines einzelnen Landes die EU am Vorankommen hindern. Doch wie sieht die Zukunft der EU aus? Und: Kann Europa außenpolitisch mit einer Stimme sprechen?
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GROẞ: Heute war ja EU-Außenministerrat, und dabei hat man sich auf eine Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten auf europäischem Boden und weitere 500 Millionen Euro für militärische Hilfe geeinigt. Österreich hat sich da neutralitätsbedingt, wie das heißt, konstruktiv enthalten. Mich würde in einer ersten Runde von den Herren Abgeordneten interessieren: Wie stehen Sie zu den heutigen Ergebnissen dieses EU-Außenministerrates beziehungsweise wie beurteilen Sie die Vorgangsweise der Europäischen Union, aber auch jene Österreichs, vertreten durch Außenminister Schallenberg? Ich beginne mit den Abgeordneten der Oppositionsparteien, sozusagen schon einer guten Tradition in dieser Sendung folgend. – Herr Troch.
Harald TROCH (SPÖ, Mitglied außenpolitischer Ausschuss): Ja, die konstruktive Enthaltung, die hier geübt wurde, zeigt ja, dass es in der Europäischen Union durchaus auch ohne weitere Einschränkungen beim Einstimmigkeitsprinzip geht - -
GROẞ: Entschuldigung, dass ich unterbreche! Man muss zu dieser konstruktiven Enthaltung vielleicht dazusagen, dass diese ja durchaus der österreichischen Neutralität geschuldet ist (Troch: Klar!), das heißt, der Außenminister hatte sozusagen keine andere Wahl, als sich zu enthalten. Sich konstruktiv zu enthalten heißt sozusagen, im Herzen offensichtlich schon dafür zu sein, sich aber halt irgendwie aus rechtlichen Gründen zu enthalten.
TROCH: Ich sage: Welches Motiv auch immer, es ist eine strukturelle Möglichkeit, die gegeben ist, und ich glaube, das zeigt ganz gut, dass Österreich entsprechend seiner Neutralität die Möglichkeiten nützt, grundsätzlich den anderen Staaten bei der Unterstützung der Ukraine, also auch im sicherheitstechnischen Bereich, nicht im Weg zu stehen, sich aber ausnimmt und selbst natürlich keine Waffen an die Ukraine liefert, wie es auch unserer Neutralität entspricht. Ich finde, das Verhalten des Außenministers ist da ganz korrekt.
GROẞ: Herr Hübner, ich nehme an, Sie sehen das ein bisschen kritischer, auch generell diesen Zugang der Europäischen Union, auch diese Ausbildungsmission, die es da geben soll. Wie interpretieren Sie das?
Johannes HÜBNER (FPÖ, Mitglied EU-Ausschuss des Bundesrates): Na ja, die Ausbildungsmission ist nichts anderes als ein weiteres Drehen an der Eskalationsschraube. Es sind jetzt seit Beginn dieses Krieges doch einige Monate vergangen, acht Monate, und ich glaube, es wäre jetzt einmal an der Zeit, auch zu überlegen: Wie komme ich aus dem Krieg raus, wie komme ich zu einem Waffenstillstand, wie komme ich zu einer Annäherung zwischen den Kriegsparteien? Nach acht Monaten immer noch davon zu reden, dass es wichtig ist, keine Kriegsmüdigkeit aufkommen zu lassen, die Geschlossenheit zu wahren und sicherzustellen, dass es keinen Kompromiss zulasten der Ukraine gibt, ist für das größte europäische Friedensprojekt, als das sich die EU ja selbst versteht, eine schwache Sache. Und für Österreich umso mehr, denn Österreich ist ja, wie Sie richtig gesagt haben, nach wie vor neutral – verfassungsmäßig gedeckt, wenngleich verschiedene Abkommen die Neutralität ausgehöhlt haben. Wir haben aber schon einen großen Schritt aus dieser Neutralität hinaus gemacht und uns de facto einer kriegsführenden Partei angeschlossen, wenngleich auch vorläufig nur durch Überflugs- und Überfahrtsrechte sowie durch umfangreichste wirtschaftliche Sanktionen; und wir haben uns damit auch komplett aus dem Spiel eines möglichen Vermittlers herausgenommen. Der einzige Staat, der da noch etwas tun kann und tut, ist derzeit die Türkei – paradoxerweise ein Nato-Mitgliedsland. Das neutrale Österreich wurde von Russland, meiner Ansicht nach nicht ganz zu Unrecht, ja als Feindstaat eingestuft, als feindlicher Staat, der also nichts zu vermitteln und in dieser Sache nichts zu sagen hat – also nicht unbedingt ein großer Erfolg der österreichischen Außenpolitik.
GROẞ: Vielen Dank. – Herr Brandstätter, wie sehen Sie das? Ein weiteres Drehen an der Eskalationsschraube, hat Herr Hübner gesagt. Sehen Sie das auch so?
Helmut BRANDSTÄTTER (NEOS, Außenpolitischer Sprecher): Na ja, wenn Kollege Hübner da ist, muss ich sagen: Er hat ja schon einmal an der Eskalationsschraube gedreht, indem er 2014 auf der Krim war, wo es zuerst einen Überfall eines fremden Landes gegeben hat – die Russen haben die Krim überfallen – und dann eine absurde, gelenkte sogenannte Volksabstimmung. Noch dazu muss man ja wissen: 1991 haben sich auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Krim für die Ukraine ausgesprochen. – Also der erste Fehler war, dass Europa 2014 nicht klar Sanktionen gegen Russland gemacht hat. Das Zweite ist zum Thema Neutralität: Ich verfolge sehr genau die Diskussion in der Schweiz. Da spricht man inzwischen von der kooperativen Neutralität, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: weil es nämlich um die Sicherheit der Menschen dort in der Schweiz – und jetzt hier in Österreich – geht. Ich möchte für die Sicherheit der Menschen in Österreich argumentieren, und da müssen wir kooperieren, da brauchen wir Partner. Und wenn Sie die Papiere, die in der Schweiz gerade geschrieben werden, lesen, dann geht daraus eindeutig hervor, dass die deutlich höher gerüstete Schweiz – mit viel besseren Waffen, viel besser ausgestattet und auch strategisch, geografisch noch günstiger gelegen als Österreich – sagt, dass sie die eigene Sicherheit nur in Kooperation mit anderen Ländern sicherstellen kann. Was mir abgeht: Also das, was der Bundeskanzler gesagt hat – wir diskutieren nicht über Neutralität –, halte ich wirklich für einen schweren Fehler; ganz im Gegenteil – ich möchte auch nicht über die Neutralität diskutieren, wir haben ein Neutralitätsgesetz im Verfassungsrang, einverstanden –, worüber wir diskutieren müssen, ist: Wie können wir die Sicherheit der Menschen in Österreich gewährleisten? Nach all den Drohungen, die wir aus Moskau hören, offiziell von Putin, inoffiziell von seinen Einpeitschern im Fernsehen, ist kein westeuropäisches Land mehr sicher vor diesem Diktator – und dafür müssen wir gerüstet sein, und das sind wir im Moment nicht.
GROẞ: Herr Reimon beziehungsweise Herr Marchetti, das Thema Vermittlung ist angesprochen worden, auch von Herrn Hübner. Wir haben uns sozusagen herausgenommen aus dieser Möglichkeit, noch als Vermittler aufzutreten. Sehen Sie das auch so?
Michel REIMON (Grüne, Europasprecher): Da, glaube ich, ist eine völlige Verklärung der österreichischen Vergangenheit und Vermittlerposition da. Das ist irgendwie, weiß ich nicht: Mozartkugeln, Lipizzaner und die Vermittlerposition in den 1980ern. Wir waren zwischen zwei Supermächten das neutrale Land, und Wien war der Ort, an dem verhandelt wurde, aber Österreich hat nicht die Power gehabt, irgendwo groß zu vermitteln und Frieden herzustellen. Die Leute, die hergekommen sind und verhandelt haben, haben sich dann alle mit österreichischen Politikern fotografieren lassen, und so ist bei uns im Boulevard dann die Legende entstanden, aber wir haben dort kein Vermittlungspotenzial. Das ist vollkommener Nonsens, um das in dieser Deutlichkeit zu sagen. Wir haben die Aufgabe, da einen Krieg zu beenden, einen Überfall zu beenden auf ein Land, das sich dort keiner Aggression schuldig gemacht hat, und eine militärische Grenzverschiebung in Europa zu verhindern. Man kann über jede europäische Grenze diskutieren – da soll man bitte Volksabstimmungen machen oder sollen sich zwei Länder über etwas einigen oder sonst etwas, aber eine militärische Grenzverschiebung haben wir nicht mehr. Es gibt ja einen Grund, warum man die in Ex-Jugoslawien nicht zugelassen hat: weil das überall sonst weitere Kriege auslösen würde. Ab dem Zeitpunkt, zu dem Putin damit erfolgreich ist, sich die Krim zu behalten oder sonst etwas zu behalten, zahlt es sich für jeden anderen aus, in einen Krieg zu gehen. Dann dauert es halt zehn Jahre, bis er das Land dann fix behalten kann. Damit haben wir einen Krieg nach dem anderen. Das können wir so nicht zulassen. Eines muss man auch sagen – auf das muss man gleich eingehen –: Herr Hübner sitzt hier als russischer Agent. Hier sitzen vier österreichische Politiker, die österreichische Politik vertreten, und ein Vertreter Putins in der österreichischen Innenpolitik, der auf der Krim war, der bei Kadyrow war und sonst was, der sich seit Jahren, seit über einem Jahrzehnt, für Putin einsetzt – Freundschaftsvertrag der FPÖ. Die machen im österreichischen Parlament Sondersitzungen im Interesse Putins und so weiter. Das muss man bei jeder Gelegenheit erwähnen, das gehört zur politischen Hygiene wie Zähneputzen – dreimal am Tag muss man darauf hinweisen, dass sie russische Politik in österreichischen Institutionen machen. Sie machen Wahlkampfschlusskundgebungen, wo die Leute mit österreichischer Fahne wacheln, und verkaufen die Leute an die Russen – so schaut’s aus.
GROẞ: Das ist natürlich ein schwerer Vorwurf. Ich würde jetzt - -
HÜBNER: Darf ich dazu etwas sagen?
GROẞ: Wenn das hier sozusagen so heftig gesagt wird, dann gehört es vielleicht auch zur politischen Hygiene, dass wir Sie ganz kurz darauf reagieren lassen.
HÜBNER: Genau, das gehört zur politischen Hygiene. Es gehört einmal zur politischen Hygiene, aufzuhören mit dem, was Leute wie Herr Reimon machen: dass sie sich Sachdiskussionen prinzipiell entziehen und irgendwelche Totschlagargumente aus der linken Tasche (Reimon: Sehr sachlich!) oder aus der schmutzgefüllten Tasche rausziehen. Und das ist natürlich klassisch: Putin-Agent, von Putin bezahlt, Putin-Versteher und so weiter. Damit brauche ich nicht zu diskutieren, denn mit Putin-Verstehern rede ich nicht, sondern da gehört es zur politischen – wie haben Sie gesagt? – Hygiene (Reimon: Ich sitze da und diskutiere mit Ihnen!), das jeden Tag zu sagen, das reicht. Ich möchte Kollegen Brandstätter nicht in ein Boot holen, aber das ist genauso, wie wenn man jetzt sagt: Wir müssen jetzt alle Angst haben, der Diktator Putin wird über alle herfallen, wir müssen jetzt zur Nato gehen, die Neutralität aufgeben, infrage stellen, diskutieren (Brandstätter: Das sage ich nicht!); der Diktator Putin, der nicht einmal in der Lage ist (Reimon: Schauen Sie, er macht ...!), die Ukraine militärisch zu besiegen, die 1 000 Kilometer von uns weg ist – zumindest dort, wo die Frontlinie ist –, aber vor dem müssen jetzt alle Angst haben. Ein Land wie Russland, das ein Militärbudget hat, das ungefähr so groß ist wie das von Frankreich, vor dem muss jetzt ganz Europa – mit 380 Milliarden Militärbudget – Angst haben und muss sich den Amerikanern noch enger anschließen und vielleicht noch mehr amerikanische Truppen und Atomwaffen ins Land holen. Das alles, diese Dinge, die ja Fakten sind, wird totgeschlagen, indem es heißt: ja, Putin-Versteher und so weiter. Das kennen wir aus anderen Diskussion – das kennen wir aus der Klimadiskussion, das kennen wir aus der Coronadiskussion –, dass man sich nicht den Dingen stellt, sondern drei Schlagworte hinwirft und das war’s. Damit ist meine Replik zu Ende.
GROẞ: Okay.
BRANDSTÄTTER: Darf ich einen vermittelnden Satz sagen?
GROẞ: Ja, aber lassen wir Herrn Marchetti dann auch zu Wort kommen.
BRANDSTÄTTER: Nur ganz kurz: Herr Hübner, wir würden uns wirklich leichter tun, wenn Sie sagen würden, die Reise zum Beispiel zu Herrn Kadyrow 2012 – Kadyrow, das ist derjenige, der jetzt sagt, es sollen Atomraketen zunächst einmal auf die Ukraine geschossen werden und dann auch auf Europa; das ist Herr Kadyrow; das ist ein tschetschenischer Schlächter, das ist jemand, der seinen zwölfjährigen Sohn angeblich jetzt auch in den Krieg schickt; also wenn jemand Kinder in den Krieg schickt, dann weiß man eh, wo wir stehen – war ein schwerer Fehler. Das wäre das Mindeste, was ich von Ihnen erwarten würde, dass Sie sagen: Ja, es tut mir leid, das war ein schwerer Fehler, so wie es ein schwerer Fehler war, so zu tun, als ob die Krim-Abstimmung 2015 in Ordnung war. – Dann würden wir uns in der Diskussion leichter tun. Das wollte ich nur vermittelnd sagen.
HÜBNER: Darauf muss ich noch einmal replizieren – tut mir leid.
GROẞ: Ja, aber das geht ja ganz kurz, denn die Frage war ja eine andere.
HÜBNER: Das tut mir in keinster Weise leid, und es war auch kein schwerer Fehler. Das ist nur ein klassisches Totschlagargument. Wir waren dort – das muss ich jetzt leider mit zwei Sätzen sagen – zusammen mit Herrn Johann Gudenus. Wir waren dort, weil wir einen Bericht aus dem Innenministerium zugespielt bekommen haben – vertraulich –, wo uns mitgeteilt wurde, dass das nicht veröffentlicht werden darf, und der Bericht hat besagt, dass jährlich zwischen 6 000 und 7 000 der tschetschenischen Asylwerber in Österreich, die hier wegen Flucht und Verfolgung Zuflucht gesucht haben, Urlaub in Tschetschenien machen und dass im Sommer die Straßen von Grosny voll mit Wiener Kennzeichen sind. Und dort waren wir, und wir haben sieben verschiedene Personen, einschließlich des Präsidenten, besucht und gefragt, wie das ist. Es wurde uns bestätigt.
BRANDSTÄTTER: Also einem Diktator etwas zu glauben ist natürlich letztklassig, aber das - -
HÜBNER: Was? Was ist letztklassig?
BRANDSTÄTTER: Einem Diktator etwas zu glauben ist letztklassig.
HÜBNER: Wir haben hier sozusagen sechs verschiedene Personen besucht – glauben Sie mir!
GROẞ: Bevor wir hier sozusagen, um ein Bild von vorhin aufzugreifen, auch noch an der Eskalationsschraube drehen (Hübner: Nein, ich drehe da nicht an der Eskalationsschraube, aber das ist ja - -!), gehen wir vielleicht weiter mit unserem Thema, und unser Thema ist ja eigentlich auch die europäische Sicherheits- und Außenpolitik und vor allem auch die Rolle Österreichs in dieser europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Da würde mich interessieren, Herr Marchetti, wie Sie diese Rolle überhaupt beschreiben würden. Auf der einen Seite sind wir sozusagen verdammt zur konstruktiven Enthaltung, und auf der anderen Seite ist sozusagen die Vermittlungstätigkeit, die immer wieder beschworen wird, letztlich auch ein Mythos aus der Vergangenheit, habe ich gerade gelernt. Was bleibt uns dann überhaupt noch?
Nico MARCHETTI (ÖVP, Mitglied außenpolitischer Ausschuss): Also zunächst einmal bin ich etwas überrascht, dass ich als Jüngster in dieser Runde anscheinend der Ruhigste und Sachlichste bin. Zumindest ist das jetzt einmal mein Anspruch.
GROẞ: Die Gelassenheit der Jugend, muss man in diesem Fall sagen.
MARCHETTI: Ja, es gibt zwar genug Probleme, aber ich glaube, Sachlichkeit bringt uns immer am weitesten.
HÜBNER: Kollege Reimon könnte das ändern.
MARCHETTI: Zu unserer Rolle auch in diesem Konflikt: Also unser Bundeskanzler Karl Nehammer war ja relativ am Anfang dieses Konflikts und dieses Krieges auch bei Präsident Putin, und das wurde ja unterschiedlich kommentiert. Die einen haben gesagt: Wahnsinn, wie kann er nur!, und kaum jemand hat das damals irgendwie als Vermittlungsversuch anerkannt oder in einer wertschätzenden Form kommentiert. Also ich glaube, dass da halt – und das stört mich ein bisschen an der Diskussion – sehr viel auch innenpolitisch, parteipolitisch aufgeladen ist. Ich glaube, es wäre wichtig, dass wir einen für den Kontinent wirklich so entscheidenden Konflikt – dieser Krieg wird über die nächsten Jahrzehnte dieses Kontinents entscheiden – auch wirklich in dieser internationalen Perspektive kommentieren. Ich glaube, auch die Neutralität können wir unter dieser Perspektive kommentieren. Wir haben ja zum Beispiel in Finnland, was die Neutralität betrifft, durchaus einen Stimmungsumschwung gesehen. Das hat aber andere Gründe: Einerseits ist der jetzt nicht originär von der Regierung gekommen, sondern von der Bevölkerung, die diese Wende wollte – auf der einen Seite –, und natürlich ist die Bedrohungslage mit einer direkten Grenze zu Russland auch eine ganz andere. Wenn wir jetzt nach Österreich schauen, jetzt auch auf die Debatte rund um die Neutralität: Es gibt hier nach wie vor in keinster Weise auch nur irgendeine Mehrheit dafür, die Neutralität abzuschaffen, und ich glaube, wir sollten uns da auch nicht gegen unsere eigene Bevölkerung stellen, sondern einfach dieses Faktum auch akzeptieren. Wir interpretieren es ja auch in diesem Konflikt so, dass wir militärisch neutral sind – was wir auch konsequent sind – und auf der anderen Seite politisch nicht neutral sind und auch ganz klar gesagt haben, auf welcher Seite wir da stehen. Ich glaube, das ist ein ganz richtiger Zugang, der sich super ausgeht mit unserer Verfassung, und ich glaube, dem können wir uns auch nicht entziehen, weil die Folgen auf den Energiemärkten und auch generell in der Wirtschaft so enorm sind, dass es ja vollkommen naiv wäre, zu sagen, man hätte da keine Position und möchte da nicht auch in der politischen Entscheidungsfindung mitwirken.
GROẞ: Vielen herzlichen Dank. Man sagt ja immer, Europapolitik ist Innenpolitik, und ich glaube, von daher ist es auch legitim, dass wir innenpolitisch durchaus emotional diskutieren, noch dazu wenn man das mit österreichischen Mandataren macht. Trotzdem wollen wir die europäische Ebene natürlich nicht außer Acht lassen, und das möchte ich jetzt machen, indem ich unsere beiden Experten hereinhole. Ich darf noch einmal herzlich willkommen heißen und nur ganz kurz vorstellen – man muss das ja ohnedies nicht, weil man sie kennt –: Raffaela Schaidreiter. Sie ist die Leiterin des ORF-Büros in Brüssel, und zwar seit ziemlich genau einem Jahr. Herzlich willkommen! Frau Schaidreiter, was hat sich denn Ihrer Einschätzung nach seit dem 24.2. in der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union geändert? Ist diese Zeitenwende – um diesen Begriff, den Scholz im Deutschen Bundestag verwendet hat, wieder einmal in Erinnerung zu rufen und aufzugreifen – auch in Brüssel spürbar und sichtbar? Sind die EU-Staaten Ihrer Einschätzung nach tatsächlich enger zusammengerückt, und wie sehr kann das auf Dauer auch so bleiben?
Raffaela SCHAIDREITER (ORF, Korrespondentin Brüssel): Eine Zeitenwende, ja, die haben wir sicher auch in Brüssel miterlebt. Das betrifft ganz klar auch die Verteidigungspolitik. Die 27 EU-Länder beraten jetzt ernsthaft darüber, wie sie zum Beispiel besser gemeinsam Material anschaffen können, sich gemeinsam besser ausrüsten können. Auch in der Sanktionspolitik sehen wir, es wurden in einer Geschwindigkeit, die beispiellos ist, Sanktionen gegen Russland verhängt. Wir sind jetzt schon beim achten Sanktionspaket. Wir sehen aber, je größer, oder sagen wir, je höher die Zahl an Sanktionspaketen wird, desto schwieriger wird es, sie auch einstimmig zu beschließen, weil diese Sanktionen natürlich teilweise wie ein Bumerang auch in den EU-Ländern wirken, wirtschaftlich wirken, hier auch wirtschaftlichen Schaden anrichten, und dementsprechend wird es immer schwieriger, sich hier auch auf Sanktionen zu einigen, um neue Pakete zu schnüren. Ich darf aber jetzt vielleicht nur aus Sicht der Berichterstatterin noch auf zwei nicht unwesentliche Details eingehen. Sie haben den heutigen Rat, das heutige Treffen der EU-Außenministerinnen und ‑minister in Luxemburg angesprochen. Österreichs Außenminister Schallenberg hat sich nämlich nur einmal bei einem Paket konstruktiv enthalten, beim zweiten hat er zugestimmt. Er hat nämlich bei der Ausbildungsmission für ukrainische Soldaten durchaus zugestimmt, hat aber gesagt, Österreich werde sich nicht daran beteiligen, Soldaten direkt an der Waffe quasi zu trainieren, sich hier einzubringen, er könne sich aber vorstellen, zum Beispiel in einigen Monaten dann auch ukrainische Soldatinnen und Soldaten zu trainieren, wenn es darum geht, zum Beispiel Entminungen vorzunehmen. Konstruktiv enthalten hat sich Österreich, hat sich heute Österreichs Außenminister Schallenberg bei der Frage, ob die EU-Länder aus diesem Geldtopf, aus dieser Friedensfazilität, wie es heißt, weiter Waffen finanzieren sollen. Da hat sich Österreich konstruktiv enthalten. Das heißt: einmal zustimmen, einmal konstruktiv enthalten – wir merken, dass da schon von den anderen Außenministerinnen und -ministern oder Vertreterinnen und Vertretern der EU-Länder teilweise etwas skeptische Blicke folgen. Einmal stimmt Österreich zu, dann enthält es sich konstruktiv, immer mit Blick auf die Neutralität, aber das wirkt teilweise schon etwas willkürlich, wie sich Österreich dann hier auch im Rat positioniert. Vielleicht ein Wort auch noch dazu – Herr Hübner hat das angesprochen –: Wie verhält sich die EU zum Beispiel mit einem Appell, was Waffenstillstand oder Verhandlungen angeht? – Wir merken, dass da hinter den Kulissen doch sehr heftig diskutiert wird. Es wird versucht, das nicht in die Öffentlichkeit dringen zu lassen, aber nicht nur im Rat der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs, zuletzt im Prag am EU-Gipfel, haben wir gemerkt, dass doch etliche Staaten – auch Österreichs Bundeskanzler hat das angesprochen – darauf drängen, dass man in einem EU-Dokument einmal festhält, dass die EU auf einen Waffenstillstand drängt oder dass sie auch Verhandlungen am Verhandlungstisch fordert. Wir wissen aber, dass vor allem die baltischen Länder und Polen, also unmittelbare Nachbarn Russlands, das nicht wollen. Sie sagen, die EU dürfe nicht das Wort Waffenstillstand in den Mund nehmen, auch nicht das Wort Verhandlungen, denn das müsse ganz klar der Ukraine vorbehalten sein. Das müsse die Ukraine bestimmen, wenn sie das will. Da dürfe sich die EU nicht einmischen. Das sei sonst, wie eine Seite einzunehmen oder Russland fast entgegenzukommen. Also wir merken, dass da jetzt in diesem Stadium, je länger dieser Krieg dauert, zunehmend auch ein Riss durch die EU-Länder geht, der sich durchaus zeigt: Auf der einen Seite die baltischen Staaten, Polen, teilweise Ungarn mit einer ganz anderen Haltung, was zum Beispiel Sanktionen angeht, und auf der anderen Seite die mitteleuropäischen und westeuropäischen Länder, die dann doch sagen, vielleicht sollen wir mehr auf Waffenstillstand und auf Verhandlungen drängen und nicht nur einen ganz harten Kurs gegen Russland fahren.
GROẞ: Vielen Dank fürs Erste, Raffaela Schaidreiter. Sie bleiben bitte dran und melden sich immer wieder, wenn Sie das Gefühl haben, etwas beitragen zu wollen, beziehungsweise ich werde Sie natürlich auch immer wieder ansprechen. Univ.-Prof. Patrick Müller von der Uni Wien beziehungsweise von der Diplomatischen Akademie sitzt direkt hier bei uns. Das, was Frau Schaidreiter gerade angesprochen hat, nämlich diese Risse, die sich in dem lange geschlossenen Auftritt gegenüber Russland einfach schon zeigen, nehmen Sie das auch wahr, beziehungsweise wie intensiv nehmen Sie es wahr? Und halten Sie es für möglich, dass auf absehbare Zeit der Zusammenhalt überhaupt bricht? Und was bedeutet das dann? Was passiert dann?
Patrick MÜLLER (Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft): Natürlich ist es so, dass die Europäische Union jetzt vor ganz großen Herausforderungen steht. Ich sehe eigentlich nicht so diese Tendenz, dass es immer größere Risse gibt. Es war von Anfang an nicht ganz einfach. Wir hatten Sanktionspakete, wo man Ungarn zum Beispiel zufriedenstellen und das dann ein bisschen aufweichen musste. Also es war eine Vielzahl von schwierigen Entscheidungen, und ich glaube, was jetzt die Zukunft anbelangt, wird das von verschiedenen Parametern abhängen. Ich glaube aber, die wirkliche Zerreißprobe steht uns ja noch bevor, denn energiepolitische Fragen werden jetzt im Winter besonders zum Tragen kommen, die Teuerung, all diese Dinge, die abgefedert werden müssen. Die Resilienz der Europäischen Union wird ja erst richtig getestet, und da kommt es auf verschiedene Dinge an: wie sich der Konflikt entwickelt, auch wie es der Ukraine weiterhin gelingt, sich zu verteidigen – all das wird eine Rolle spielen –, und natürlich auch – und da sind die Politiker gefragt –, eine Bevölkerung darauf einzustellen, dass wir eben in einem schwierigen Konflikt sind, dem man auch nicht einfach ausweichen kann. Ich möchte da schon auch ansprechen, dass es ja nicht so ist, dass man nicht von europäischer Ebene versucht hätte, zu verhandeln. Es gab schon von Anfang an von Macron verschiedene Initiativen, und der Eindruck ist gereift, dass Putin zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesprächsbereit ist und dass vielleicht erst bestimmte Realitäten entstehen müssen, damit das dann irgendwann auch funktioniert.
GROẞ: Welche Realitäten meinen Sie damit?
MÜLLER: Das wird sich natürlich einerseits daran entscheiden, wie seine militärischen Erfolge oder Misserfolge sind, es wird aber auch daran entschieden, wie er kalkuliert, ob Europäer irgendwann einbrechen, ob Regierungen es nicht mehr schaffen, der Bevölkerung zu vermitteln, dass das eine Sache ist, die alle europäischen Mitgliedstaaten auch direkt betrifft und angeht. Also es wird sich innenpolitisch entscheiden, und natürlich auch militärisch wird es eine große Rolle spielen.
GROẞ: Weil Sie die Bevölkerung oder die Bevölkerungen angesprochen haben: Wie sehen die Österreicherinnen und Österreicher das? – Wir haben dazu mehrere Grafiken vorbereitet. (Im Folgenden werden die Ausführungen des Moderators durch eingespielte Diagramme unterstützt.) Vielleicht zunächst einmal etwas ganz Fundamentales, nämlich: Sehen wir uns das Vertrauen überhaupt der Menschen in die Europäische Union ganz allgemein an! Das ist insgesamt, quer durch Europa gesehen, sehr niedrig, muss man sagen: Nur jeder Zweite oder jede Zweite vertraut der Europäischen Union. In Österreich ist das aber noch einmal weniger, nämlich um 5 Prozentpunkte. Wir liegen da bei 44 Prozent. Wir haben uns auch angesehen, wie die Zustimmung zu einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik in Europa verankert ist. Diese beträgt im EU-Schnitt 71 Prozent, und auch diese ist in Österreich bedeutend geringer, sie liegt nämlich nur bei 61 Prozent. Das sind einmal die nackten Zahlen und das ist die Statistik. Wenn man die Menschen direkt fragt, dann sehen sie viele Dinge natürlich differenzierter und fast immer ambivalent, muss man sagen. Auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik scheint für die meisten Menschen nämlich ein zweischneidiges Schwert zu sein. Hier eine kleine Auswahl.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Passant eins: Ich denke mir, dass es für die EU sehr schwierig ist, eine eigenständige Außenpolitik zu machen, weil einfach die Nato, gerade jetzt in dieser Krisensituation, so stark wie eine Käseglocke über die EU sozusagen drübergestülpt ist und es für die Europäer sehr schwer ist, jetzt eigenständig zu handeln.
Passant zwei: Ich glaube, wirtschaftlich ist es kein Thema. Es ist mehr das Problem, ob man eben diese gemeinsamen Einsatztruppen und so weiter schaffen kann, dass die gemeinsame Sicherheitspolitik im militärischen Sinn auch nachhaltig gesichert sein wird. Da ist noch Aufholbedarf, aber es scheitert auch da an den Nationalstaaten, nicht an der EU.
Passantin drei: Ich glaube einfach, dass man ganz vieles gar nicht mitkriegt, was da gearbeitet wird und was erarbeitet wird und was umgesetzt wird. Also ich glaube, das ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar.
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GROẞ: Drei Wortmeldungen von vielen, die aber allesamt sehr reflektiert waren, aber auch zeigen, wie schwierig es ist und wie viel Zweifel und Skepsis da natürlich auch mitschwingen. Frage an Sie, meine Herren Abgeordneten: Womit hat das zu tun und was sind eigentlich die Konsequenzen daraus? – Wer immer will. – Bitte, Herr Brandstätter.
BRANDSTÄTTER: Zuerst möchte ich Kollegen Marchetti sagen: Ich habe den Besuch des Bundeskanzlers bei Putin nicht kritisiert, nein, weil ich natürlich immer dafür bin, dass geredet wird – erstens. Aber zweitens – und das ist sozusagen mein Vorwurf an die ÖVP oder auch an die Regierung in letzter Zeit –: Man darf sich nicht wundern, wenn man regelmäßig Kritik, und zwar unsachliche Kritik, an der EU vorbringt – das gibt es in anderen Ländern auch, ich weiß schon –, aber jedenfalls bei uns, zum Beispiel bei der Covid-Unterstützung heißt es ja: Brüssel verhindert das!, et cetera, also wenn regelmäßig von der Regierung aus Kritik an der EU kommt, darf man sich nicht wundern, wenn sich das bei der Bevölkerung fortpflanzt. Deswegen ist eigentlich mein Appell, dass wir uns gemeinsam – und ich habe das jetzt schon oft gesagt, auch im Parlament, ich würde mir das so wünschen; ich weiß, mit der FPÖ geht das leider nicht, aber zumindest die anderen Parteien –, gemeinsam zumindest auf gewisse Grundsätze einigen. Und einer dieser Grundsätze ist, dass wir den Menschen gemeinsam sagen, dass wir so sehr von dieser Europäischen Union profitieren; wirtschaftlich ohnehin, und, ich sage es noch einmal, auch sicherheitspolitisch. Wir müssen wissen, dass wir uns im Fall eines klaren Angriffs alleine nicht verteidigen könnten, das ist so. Das ist kein Argument gegen die Neutralität. Ich sage noch einmal: Die Schweiz diskutiert das gerade, dass man die Neutralität behält und trotzdem kooperiert, indem man zum Beispiel ähnliche Waffensysteme wie die Nato kauft, indem man in der Cyberabwehr – ganz großes Thema, riesiges Thema – gemeinsam agiert. Ich habe das auch im Parlament gesagt: Der frühere Verteidigungsminister Starlinger, der ja nur kurz war, hat das in seiner Broschüre sehr genau erklärt, wie unsere Infrastruktur durch Cyberangriffe gefährdet ist. Und Putin ist ein Terrorist, er würde nicht zurückschrecken, alle, auch unsere Wasserversorgung et cetera durch Cyberangriffe einzuschränken. Da wünsche ich mir, dass wir das gemeinsam mit anderen europäischen Ländern machen und das aber auch gemeinsam den Österreicherinnen und Österreichern sagen: Wir sehen Vorteile in dieser gemeinsamen Aktion mit anderen Ländern. Ich weiß von vielen ÖVP-Abgeordneten, die sich auch eine Diskussion über die Neutralität wünschen. Das heißt ja nicht abschaffen, sondern weiterentwickeln, wir müssen sie weiterentwickeln. Und wenn wir eine kooperative Neutralität wie die Schweiz hätten – ist ja oft ein Vorbild –, dann wären wir ein großes Stück weiter. Diese Diskussion würde ich gerne führen.
TROCH: Ich würde da gerne einen Zusammenhang ansprechen: Neutralität und die Stimmung in Österreich. Ich glaube, es geht gar nicht darum, dass wir gegen die Österreicher, gegen die Stimmung, etwas machen sollen, sondern ich glaube einfach an die Neutralität. Es ist die geschichtliche Lektion von zwei Weltkriegen. In beiden Weltkriegen war Österreich massiv involviert – im Ersten noch mehr, die erste Kriegserklärung ist von Österreich ausgegangen – und die Österreicher haben einfach diese historische Erfahrung gemacht, in Kriege reinzugehen oder reingezogen zu werden, wie im Zweiten Weltkrieg. Und aus dem heraus gibt es einfach eine große Skepsis gegen Militärbündnisse und vor allem dieses Reinziehen. Der Erste Weltkrieg ist ein klassisches Beispiel eines Mechanismus: Wenn alle in Bündnissen sind und der Krieg losgeht, dann geht das automatisch, und im Europa des Jahres 1914, da waren fast alle in Bündnissen und daher diese Skepsis vor Militärbündnissen. Ich persönlich bin nicht erfreut, dass Schweden und Finnland der Nato beitreten. Ich glaube, es wäre besser gewesen für die politische Arbeit in Europa, hier auch andere neutrale Staaten als Bündnispartner zu haben, denn wenn alle in einem Bündnis sind, dann geht das automatisch und mechanisch und der Krieg ist da. Und genau das wollen wir nicht und daher ist auch die Stimmung so in unserem Land. Die SPÖ sagt daher ganz klar: Die Neutralität soll nicht nur erhalten bleiben, sondern wieder mit Leben erfüllt werden. (Brandstätter: In beiden Kriegen sind neutrale Länder überfallen worden – das nur zur historischen Klarheit auch!)
GROẞ: Bitte, Herr Hübner.
HÜBNER: Ich kann Kollegen Troch großteils zustimmen. Also eines darf ich noch hinzufügen: Es ist ja besonders skurril, dass zu einem Zeitpunkt oder in einem Zeitraum, wo die Neutralität tatsächlich gefährlich war – das war die Zeit des Kalten Krieges, die Zeit der Sowjetunion, wo wirklich sowjetische Truppen 45 bis 65 Kilometer von Wien entfernt gestanden sind; da war es vielleicht wirklich ein Risiko, neutral zu sein –, der neutrale Staat als erster überfallen worden wäre, aber in einer Zeit nach 1991, wo es keine Sowjetunion mehr gibt, keinen RGW, keinen Warschauer Pakt, keine Sowjettruppen, sondern kleine bis mittlere Staaten um uns herum, wo die Sowjetunion zerfallen ist in eine Vielzahl von Staaten und selbst der größte übrig gebliebene, Russland, ein Zwerg ist gegen die USA – ich darf noch einmal wiederholen: das Militärbudget der Russen ist ungefähr 80 Milliarden Dollar, nach amerikanischen Angaben, das Militärbudget der USA allein nach ihren eigenen Angaben liegt etwa bei 820 bis 830 Milliarden Dollar, also bei dem mehr als Zehnfachen –, jetzt müssen wir auf einmal alle Angst haben, jetzt müssen wir Angst haben und jetzt müssen wir die Amerikaner bitten: Bitte macht gemeinsame Waffensysteme! Jetzt muss die EU her und jetzt müssen wir eine Aufgabe der Neutralität haben, jetzt jagen Länder wie Finnland und Schweden sich selbst in ein Militärbündnis hinein. Also in einer Zeit, wo Militärbündnisse eigentlich abgeschafft hätten werden sollen, wo auch die Russen keine Nachfolgemilitärbündnisse gehabt haben, da haben wir die amerikanischen Soldaten – man kann polemisch sagen: die amerikanischen Besatzungssoldaten – in Deutschland und Italien weiter belassen, einbehalten. Da haben wir weiter dafür gesorgt, dass auf deutschem Boden die drittgrößte Atomstreitmacht der Welt steht, nämlich die amerikanische Atomstreitmacht, und haben uns dann gewundert, dass die Beziehungen mit Russland sich nicht allzu gut entwickelt haben. (BRANDSTÄTTER: Die Menschen in der Ukraine sterben! Die Menschen in der Ukraine sterben unter russischen Raketen!) – Ja, die Menschen in der Ukraine sterben, und die Frage ist, ob es diesen Konflikt je gegeben hätte, wenn es nicht Verhandlungen gegeben hätte, die Ukraine in die Nato zu integrieren. Ich stelle diese Frage. (BRANDSTÄTTER: Das ist abgelehnt worden! Hat die Nato immer abgelehnt!) – Ja, ja, ja, das hat sie immer abgelehnt. Ich sage ja, wenn es die Nato nicht gäbe, ob es diesen Konflikt jemals in dieser Form gegeben hätte. Das ist meine Frage.
GROẞ: Lassen wir bitte kurz Herrn Reimon sprechen.
REIMON: Wenn ein unabhängiges souveränes Land, wurscht welches, einen Bündnisbeitritt möchte – das müssen Sie nicht mögen und ich nicht mögen –, dann rechtfertigt das einen Überfall auf dieses Land? Also wenn wir jetzt diskutieren würden, rechtfertigt das, dass Putin es überfällt? Sie sind hier ein Verteidiger eines Menschen, der ein souveränes Land überfallen hat, völlig wurscht, was dieses Land souverän machen möchte. Sie rechtfertigen hier die Ermordung von Frauen, Kindern und unschuldigen Menschen und machen prorussische Politik. – Unfassbar!
GROẞ: Okay, aber das haben wir auch schon gehört. Ich möchte trotzdem wieder auf die Ebene zurück: Wir haben bewusst drei Wortmeldungen von Menschen ausgesucht, die sich wirklich Gedanken machen über dieses Problem, und ich möchte sozusagen da den Frust auch bei diesen Menschen nicht noch erhöhen dadurch, dass wir hier eigentlich nur auf der persönlichen Ebene streiten, sondern dass wir wirklich einfach auch darüber reden. – Wie kann man diese Menschen eigentlich mitnehmen, Herr Marchetti?
MARCHETTI: Ich würde die These von Herrn Brandstätter nicht unterstützen, dass man sagt, man darf die EU nicht kritisieren. Ich glaube, man kann und muss sogar, wenn man pro Europa ist, pro EU ist, die EU kritisieren, weil es auch Dinge zu kritisieren gibt. Ich glaube, wenn man das adressiert, wenn man das auch redet, dann ist das ein konstruktiver Vorgang. Ich glaube, man sollte das nicht nur in die Kategorie schwarz und weiß einteilen. Wenn ich mir anschaue, was die EU auch in den vergangenen Krisen richtig und falsch gemacht hat, muss ich halt schon zur Feststellung kommen, dass die EU als Institution ja nie ursächlich verantwortlich für irgendeine dieser Krisen war. Man kann kritisieren, wie sie damit umgegangen ist, aber sie war nie schuld im engeren Sinne. Ich glaube, das ist einmal eine wichtige Feststellung. Ich habe das Gefühl, dass eigentlich eher die EU als Krise assoziiert wird, weil wir sie immer in diesem Zusammenhang auch adressieren. Deswegen wollte ich das auseinanderhalten. Aber wenn ich mir zum Beispiel die aktuelle Situation anschaue, was Asyl und Migration betrifft, dann muss man auch die EU kritisieren. Also dass der Außengrenzschutz nicht so funktioniert, wie er eigentlich sollte, dass auch jeder Flüchtling, der jetzt zum Beispiel in Österreich ankommt, eigentlich laut EU-Recht hier gar nicht so einfach ankommen sollte und hier Rechtsbruch einfach zum Alltag gehört, das sind Dinge, die man kritisieren kann und aus meiner Sicht auch muss. Aber gleichzeitig sage ich genauso, dass ich total überzeugt bin von diesem Projekt der Europäischen Union und ich es total richtig finde, dass wir uns gemeinsam auf Sanktionen geeinigt haben, gemeinsam auch die Ukraine unterstützen – das geht sich alles, beides aus. Ich glaube, wenn ich die Wortmeldungen auch richtig deute, da ist sehr viel an Differenzierung drinnen gewesen, und ich würde es auch so verstehen. Diejenigen, die die EU als Ganzes ablehnen oder auch, wenn ich das bei Herrn Hübner ein bisschen heraushöre, einfach so einen gelebten Antiamerikanismus in sich haben - - – das ist eine ganz andere Diskussion, das ist mehr schon eine Glaubensfrage. Ich muss sagen, auch von meinen Werten und auch von den Werten, die die EU für mich hat, ist das natürlich ein Bündnis, das auf Rechtstaatlichkeit, auf einer liberalen Demokratie, auf den Werten des Westens aufbaut, und deshalb halte ich es auch für legitim, dass wir mit Amerika zusammenarbeiten, ohne jetzt alles super zu finden, was dort passiert.
GROẞ: Okay.
BRANDSTÄTTER: Darf ich da noch einhaken? Ja, völlig einverstanden. Was mich stört, ist, wenn man für eigene Unzukömmlichkeiten – und das war in der Covid-Sache so – dann als Ausrede die EU nimmt. Die EU kritisieren – einverstanden, aber wenn man hier nicht in der Lage ist, die richtigen Formulare auszufüllen, dann ist nicht die EU schuld. Also das ist das, was mich stört, dass man die EU kritisiert; aber selber, also wir sind die EU, wir kritisieren uns, ist in Ordnung.
GROẞ: Ganz kurz Herr Reimon, und dann möchte ich Herrn Müller wieder fragen.
REIMON: Ich finde, schon in den Formulierungen sieht man, was da quasi falsch läuft. Was heißt: Haben Sie Vertrauen in die EU?, in der Frage? Fragen Sie einmal: Haben Sie Vertrauen in Tirol? Oder: Haben Sie Vertrauen in Österreich? Man kann der Landesregierung vertrauen, dem Landeshauptmann, dem Bundeskanzler, der Kommissionspräsidentin oder sonst etwas, aber doch nicht der EU oder Österreich. Ich vertraue ja nicht Österreich nicht, wenn es eine blau-schwarze Regierung gibt, und ich vertraue nicht Österreich, wenn es eine andere gibt. Das sind Sympathiefragen in Wahrheit. Wo wir hinkommen müssten, ist, dass wir wirklich europäische Politik als Innenpolitik diskutieren. Die Mechanismen kennen wir doch alle: Wie oft erleben wir, dass die neun Landeshauptleute sich etwas ausschnapsen und dann ist Wien schuld? Und jetzt schnapsen sich 27 Außenminister etwas aus oder 27 Staats- und Regierungschefs, und dann ist die EU schuld. Das spricht ja nicht einmal gegen die EU, so wie es nicht gegen Österreich spricht, dass sich die neun Landeshauptleute etwas ausschnapsen. Letzter Satz: Ich merke, das ist eine Generationenfrage durch unseren Beitrittsprozess. Leute, die das gar nicht anders kennen, junge Leute, die sozialisiert sind in der Europäischen Union, für die ist das Innenpolitik und wie zu Hause, und in Deutschland ist das schon bei allen so. Wir haben diesen Schnitt mit dem Beitrittsprozess.
GROẞ: Vielleicht nur ganz kurz, weil Sie die Fragestellung unserer Grafiken auch angesprochen haben: Natürlich kann man über die diskutieren und ginge das natürlich auch noch konkreter, und das gibt es ja auch im Eurobarometer. Es geht letztlich aber auch um diesen Unterschied zwischen dem europäischen Durchschnitt und Österreich, und ich glaube, das verdeutlichen diese Grafiken doch sehr klar. Herr Müller, kommen wir zurück zur eigentlichen Frage, nämlich: Wie gelingt es der Politik – und damit meine ich jetzt die europäische Politik, aber auch die nationalstaatliche Politik –, die Bevölkerungen jeweils auch mitzunehmen, gerade in dieser schwierigen Situation? Dass das alles extrem komplex ist und nicht wirklich ein Spaziergang, da, glaube ich, sind wir uns auch alle einig. Aber wie gut gelingt es, die Bevölkerung mitzunehmen? Und mitnehmen heißt sehr wohl auch, der Bevölkerung oder den Bevölkerungen reinen Wein einzuschenken. Gelingt das in ausreichendem Maße? Passiert das in ausreichendem Maße?
MÜLLER: Das ist eine Frage, die wird die Zukunft weisen. Ich möchte vielleicht ganz kurz noch auf einen vorherigen Punkt eingehen, das ist, dass wir jetzt hier doch schon seit einiger Zeit über die Neutralität sprechen. Ich denke, die sicherheitspolitische Debatte in Österreich steht vor einer Situation, wo sich weltpolitisch sehr viel geändert hat, wo sich in der europäischen Nachbarschaft sehr viel geändert hat und wo sich in der europäischen Sicherheitspolitik sehr viel geändert hat. Deutschland hat einen Schwenk oder eine Neuorientierung, wenn man so will, in wesentlichen Bereichen gemacht. Wir haben Finnland und Schweden schon angesprochen, und Österreich steht jetzt vor der Frage, welchen Beitrag es leisten möchte, welche Rolle es spielen möchte. Und das ist nicht rein eine Frage von: Wie gehen wir mit der Neutralität um?, sondern erst einmal eine Frage: Wo möchte Österreich denn hin? Und: Welche Rolle spielt dann die Neutralität? – Man sollte erst einmal das Ziel definieren. Ich glaube, da gibt es ganz wichtige Dinge zu klären: Wie können wir die Resilienz Österreichs stärken? Diversifizierung ist ein ganz wichtiger Punkt, und auch die Frage der Energiepolitik und einer stärkeren Unabhängigkeit von fossiler Energie und welche Rolle Erneuerbare spielen. Also das ist eine viel vielschichtigere Debatte, die dann oft eben einfach schnell in die Neutralitätsfrage driftet. Ich glaube, da fehlen wichtige Elemente. Zu dem Punkt: Wie können wir die Bevölkerung mitnehmen? – Ja, ich glaube auch, dass erst einmal klar Position bezogen werden muss, und ich glaube, das hat der Außenminister eigentlich gemacht. Man hat gesagt, man ist – politisch hat man eine Wertegesinnung – militärisch neutral, das heißt, man ist dann auch in diesen Konflikt, weil es ja auch ein Konflikt zwischen Systemen und Werten ist, mit eingebunden. Und natürlich, wenn man da auch beteiligt ist, dann muss man auch der Bevölkerung vermitteln, dass das nicht einfach ist, dass das in so einer Situation einfach kein Business as usual ist. Es ist eine schwierige Situation und man muss natürlich auch versuchen, der Bevölkerung zu vermitteln, dass man auch alles tut, um die Kosten abzufedern; gut möglich, dass man auch solche Maßnahmen so steuert, dass man besonders vulnerable Gruppen auch besonders schützt. All diese Dinge sind wichtig. Und ich glaube, eine qualitativ hochwertige sicherheitspolitische Debatte ist auch etwas, was eine Bevölkerung überzeugen kann und Sicherheit schaffen kann, auch was jetzt diese Umfragen angeht, die Sie da aufgezeigt haben.
GROẞ: Vielen herzlichen Dank. Raffaela Schaidreiter, jetzt wissen wir alle, dass es diese notorischen Quertreiber – ich nenne es jetzt einmal so und setze diesen Begriff vielleicht unter Anführungszeichen – gibt: Wie schwerwiegend wirken sich denn die Probleme mit ihnen auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aus? Und um es ein bisschen konkreter zu machen: Ich meine damit ja nicht nur Staaten wie Ungarn zum Beispiel, sondern auch die teilweise stark antieuropäischen und oft prorussischen Kräfte in manchen Mitgliedstaaten. Letztlich sind ja dann doch immer wieder Wahlen zu schlagen in den Mitgliedstaaten, und wir haben uns angesehen, wie die Wahlen in Italien ausgegangen sind, zum Beispiel. Also wie schätzen Sie das ein für die unmittelbar nächste Zukunft?
SCHAIDREITER: Wobei man sagen muss im Fall Italien: Giorgia Meloni hat sich immer klar für Hilfe für die Ukraine ausgesprochen, hat sich auch hier von Matteo Salvini dann distanziert, der immer sehr prorussisch gegolten hat und weiter gilt. Aber jetzt im größeren Kontext – Sie haben Ungarn angesprochen –: Wir haben bei den Verhandlungen für die vergangenen Sanktionspakete immer wieder gesehen, dass sich Ungarn hier Ausnahmen heraushandeln konnte, schlussendlich aber doch dann immer auch zugestimmt hat. Wir wissen, dass in Ungarn Regierungschef Orbán auch immer wieder spielt mit einer etwas vielleicht prorussischen Haltung, dann wieder doch eher pro EU. Also er versucht ja auch immer, bei den Sanktionen etwas für sich herauszuverhandeln. Ich denke auch, wie Herr Müller schon angedeutet hat, dass es die nächsten Monate hier ausschlaggebend sein wird, dass die Regierungen der EU-Länder es schaffen, gerade die Energiekrise, die Teuerung, also Inflation für die Bevölkerung abzufedern – wir haben ja nicht nur in Österreich knapp 10 Prozent, wir haben in Bulgarien zum Beispiel fast 20 Prozent, das ist wirklich auch innerhalb der EU sehr unterschiedlich. Ich glaube, der Grad, an dem sich dann die Regierungen messen lassen müssen, ist auch, inwiefern sie es schaffen, hier auch quasi die Menschen zu unterstützen. Das wird wohl dann auch für den Rückhalt in der Bevölkerung für die Sanktionen sehr ausschlaggebend sein. In dem Zusammenhang ist auch immer wieder zu sehen, wie auch die, sagen wir, Deutungshoheit, also das Narrativ über den Krieg in den EU-Ländern ankommt. Wir sehen das schon – das ist nicht nur in Österreich, aber, wie ich finde, im Vergleich zu anderen EU-Ländern in Österreich doch sehr ausgeprägt –, dass hier immer wieder ein bisschen ein Verständnis für die russische Aggression gezeigt wird, ein Verständnis dafür, dass sich, sehr salopp gesagt, Putin ja auch nur verteidigen musste, weil die Nato immer näher an Russland herangerückt sei. Man muss das aber, glaube ich, ganz klar auch einordnen: Es ist nicht so, dass die Nato das immer hinter dem Rücken Russlands gemacht hat, sondern es hat seit den 2000er-Jahren einen eigenen Nato-Russland-Rat gegeben, also regelmäßige Treffen. Es hat Russland eine eigene Botschaft zum Beispiel hier in Brüssel nahe des Nato-Hauptquartiers. Also ich glaube, das sind oft wirklich wesentliche Details, auf die man oft zu wenig eingeht, die aber durchaus, glaube ich, ausschlaggebend sind, um diesen Konflikt auch zu verstehen.
GROẞ: Vielen Dank. Weil Sie jetzt die Sanktionen noch einmal explizit angesprochen haben: Wir haben uns auch da angesehen, wie hier der Zugang beziehungsweise die Haltung zu diesen Sanktionen ist. Da zeigt sich nämlich auch eine ziemlich klare Kluft zwischen dem EU-Durchschnitt und dem Österreich-Schnitt. Diese Frage polarisiert sehr stark. (Im Folgenden werden die Ausführungen des Moderators durch eingespielte Diagramme unterstützt.) Die Sanktionen gegen Russland unterstützen 78 Prozent EU-weit, aber nur 64 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher. Und noch eine andere Frage haben wir hier anzubieten. Die Zustimmung zur Finanzierung und Lieferung militärischer Ausrüstung für die Ukraine befürworten EU-weit 68 Prozent, aber in Österreich nur 50 Prozent, also nur jede Zweite und jeder Zweite. – Wie unumstritten, Frau Schaidreiter – da möchte ich gleich mit Ihnen fortsetzen –, ist denn die harte Haltung gegenüber Moskau hinter der Fassade? Wir haben Sie ja heute eingeladen und in diese Sendung gebeten, weil Sie natürlich behind the scenes, also hinter der Fassade, einfach sehr viel mitkriegen. Vordergründig werden die Sanktionen weitgehend mitgetragen, aber gibt es im Hintergrund auch so eine klare Einigkeit?
SCHAIDREITER: Grundsätzlich lautet der Tenor auch bei den verschiedenen Treffen der EU-Ministerinnen und -Minister oder bei den Staats-und Regierungschefinnen und -chefs, wir müssen reagieren, die Sanktionen sind richtig, denn es könne nicht sein, dass ein Land einfach mit Gewalt Grenzen verschiebt. Da gilt einfach immer wieder die Sorge, oder sie wird artikuliert, dass, wenn Russland es jetzt schafft, in der Ukraine quasi gewaltsam und mit purer Gewalt den Willen durchzusetzen, vielleicht dann die baltischen Staaten oder zum Beispiel Moldau oder Georgien einfach die nächsten sein werden. Insofern habe ich schon den Eindruck, dass über die Tatsache, dass es Sanktionen geben muss, auf wirtschaftlicher Ebene – denn militärisch will sich die EU ja quasi nicht direkt einmischen; man kann darüber diskutieren, ob sie das nicht indirekt schon tut, indem sie einfach auch Waffen liefert und damit natürlich auch dazu beiträgt, dass dieser Krieg weiter geführt werden kann, aber das ist, glaube ich, eine andere Diskussion –, darüber, glaube ich, dass die EU wirtschaftlich versucht, sich hier einfach einzumischen, um die Wirtschaft Russlands einbrechen zu lassen, damit auch der Krieg nicht weiter geführt werden kann, gibt es kaum große Diskrepanzen oder nicht wirklich Diskussionen mit Ausnahme einiger Staaten, die wir schon angesprochen haben, zum Beispiel Ungarn. Wobei Ungarn, glaube ich, da auch immer – durchaus zu Recht vermutlich – als Beispiel genannt wird, aber es gibt auch viele andere Länder, die sich bei den Sanktionen immer wieder irgendwelche Ausnahmen heraushandeln, wie Belgien zum Beispiel, Stichwort: großer Diamantenumschlagplatz Antwerpen. Belgien konnte sich nach wie vor einfach dagegen wehren, dass zum Beispiel der Import von Diamanten in die EU verboten wird. Da gibt es also immer verschiedene Interessen. Ich habe es zuvor auch angesprochen: Jetzt, glaube ich, nach den vielen Sanktionspaketen – denn es gibt eigentlich salopp gesagt keine großen Fische mehr, die die EU in ein Sanktionspaket schnüren kann; denn es ist relativ unwahrscheinlich, dass russisches Gas sanktioniert wird, da würden sich einfach Länder wie Österreich, aber auch Ungarn weiter dagegen sperren, weil sie einfach noch zu abhängig sind von russischem Gas, und solche Sanktionen müssen einfach einstimmig beschlossen werden –, unabhängig davon, wie es mit den Sanktionen weitergeht, wird sich die EU einfach die Frage stellen müssen: Wie geht es weiter mit den Waffenlieferungen? Da gibt es also schon auch Diskussionen, ob man diesen Geldtopf für Waffenlieferungen weiter aufstockt. Und es wird um die Frage der Formulierungen gehen. Also sollte es wirklich einmal zu Verhandlungen kommen oder sollten sich ernsthafte Verhandlungen anbahnen: Was will die EU tun, wie will sie sich in ihrer Formulierung positionieren? Wobei die Frage natürlich auch auf dem Tisch liegt: Wird die EU überhaupt etwas zu sagen haben – denn wir haben ja auch von Russlands Präsidenten Putin gehört, dass, wenn er mit jemandem verhandeln will, das dann eigentlich die USA sind? Die EU ist also in gewisser Weise geografisch natürlich mittendrin in dem Konflikt, ob sie aber geostrategisch dann auch etwas mitzureden hat, ist momentan noch unklar.
GROẞ: Herr Müller, ganz kurz vielleicht nur: Ich weiß, das ist ein vielleicht unwissenschaftlicher Zugang zu diesem Thema, trotzdem frage ich Sie als Experten: Haben Sie sich auch manches Mal die Frage gestellt, wie eigentlich andere handelnde Persönlichkeiten auf europäischer Ebene mit diesem Konflikt umgehen würden. Man muss nicht zurückgehen bis zur Gründergeneration der Europäischen Union, aber denken wir nur an Politiker wie zum Beispiel, ich weiß nicht, Mitterrand, Kohl, meinetwegen auch Blair, oder bis hin zu Merkel. Glauben Sie, dass die anders reagiert hätten in dieser Situation als die jetzige Generation, die Persönlichkeiten, die jetzt an der Spitze sind? Worauf ich hinauswill, Sie merken das schon, ist die Frage des Leaderships, die man manches Mal vielleicht auch ein bisschen vermisst auf nationalstaatlicher Ebene.
MÜLLER: Also ich habe nicht das Gefühl, dass wir in der Europäischen Union momentan ein Leadershipproblem haben in dieser Frage. Wie andere Generationen an diese Thematik herangegangen wären, ist eine interessante, eine hypothetische Frage. Ich denke, dass, wenn wir Menschen wie Helmut Kohl nehmen, diese Leute ja sehr stark an der Nachkriegserfahrung dran waren, und die haben sich wirklich vorstellen können, was es bedeutet, Krieg in Europa zu haben, und die waren eigentlich beseelt von diesem Projekt Europäische Union – nicht als ein wirtschaftspolitisches Projekt, wie wir sie ja jetzt weitgehend oft wahrnehmen, sondern als ein friedensstiftendes Projekt, wodurch man Konflikte in Europa nicht mehr gewaltpolitisch lösen muss, was wir ja lange Zeit auch unter Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Laufe der Geschichte hatten. Ich denke, dass das schon etwas ist, was der jetzigen Politikergeneration abging, diese Vorstellung, dass das möglich ist. Ich glaube, dass wir uns auch so weit in die Abhängigkeit von russischem Gas begeben haben, hat mit vielen Dingen zu tun, auch mit externen Einflüssen – die man in dieser Sendung auch thematisieren kann –, aber auch mit einem Mangel an Vorstellungskraft, diese Option wirklich so weit zu denken, also in dieser Größenordnung. Und das ist schon ein Erwachungsmoment für die jetzige Politikergeneration, auf die sie sich einstellen musste, vielleicht immer noch ein Stück weit muss, und, ja, das wird auch das Weltbild prägen, denke ich.
GROẞ: Und das gilt auch für die europäische Ebene, also ich meine jetzt zum Beispiel die Kommission beziehungsweise den Rat beziehungsweise das dazwischen. Wenn wir den Hohen Vertreter zum Beispiel hernehmen, der gewissermaßen so ein bisschen zwischen den Stühlen sitzt oder beide Hüte irgendwie aufhat. Ich habe heute im privaten Umfeld einen kleinen Test gemacht und einmal gefragt, wie der jetzige im Moment heißt, und das Ergebnis ist ernüchternd. Jemand wie Javier Solana zum Beispiel war zumindest noch vielen Europäerinnen und Europäern bekannt, und heute ist nicht einmal das der Fall. Wenn wir davon reden, dass Europa mit einer Stimme spricht – welche Stimme ist es dann, nämlich wirklich, sozusagen auch personifiziert?
MÜLLER: Ja, aber da muss man doch immer auch die Dinge irgendwo richtig gewichten. Javier Solana war Nato-Generalsekretär, bevor er dieses Amt angetreten hat. Natürlich war er einer großen Öffentlichkeit dadurch schon bekannt, aber das Amt des Außenbeauftragten ist gestärkt worden. Er ist jetzt einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission. Ich glaube, dass schon auch in europäischen Institutionen ein starker Wandel der Sicht auf die internationale Politik stattgefunden hat. Es gibt einen Grund, warum von der Leyen von der geopolitischen Kommission gesprochen hat. Es gab unter Juncker schon viele Initiativen, verschiedene auch verteidigungspolitische Komponenten in Europa zu stärken. Also man hat schon gemerkt, wir sind in einer Welt im Wandel. Diese Vorstellung der internationalen Beziehungen, die ja stark aus dem Ende des Kalten Krieges kommt, dass wir jetzt mehr oder weniger Wirtschaftspolitik machen können, die Nato eigentlich fast schon obsolet ist und eine neue Rolle finden muss, all diese Debatten hatten wir ja in den Jahren nach dem Kalten Krieg. Und jetzt ist man an einem Moment, in dem man wirklich sagt: Wir müssen uns auf eine veränderte geopolitische Situation einstellen. Und die Institutionen haben das natürlich schon seit einiger Zeit auf dem Radar.
GROẞ: Vielen Dank. Übrigens heißt der Außenbeauftragte Josep Borrell, nur damit wir das jetzt auch gesagt haben. Herr Brandstätter hat sich gemeldet, aber auch Herr Marchetti – ja, also eh fast alle. – Bitte
BRANDSTÄTTER: Ich würde beim Herrn Professor gerne anschließen, weil ich ja 1989, 1990, 1991 wirklich sehr viele Hintergrundgespräche mit Helmut Kohl erlebt habe. Es war für mich faszinierend, wie Kohl vorher, also vor 1989, schon immer wichtig war, dass Deutschland innerhalb einer Europäischen Union eingebunden ist. Das war nachher noch viel wichtiger, weil ja Deutschland auf einmal viel größer war und Kohl als wirklich historisch bewusste Persönlichkeit auch wusste, was der Rapallo-Komplex ist, nämlich die Angst, die Deutschen tun sich mit den Russen wieder einmal zusammen. Diese Angst gab es nach dem Ersten Weltkrieg. Und dann dieser Begriff, der ja von Gorbatschow und Kohl gekommen ist, das gemeinsame Haus Europa, in dem alle eine Wohnung haben – das ist wirklich entwickelt worden. Und Kollegin Schaidreiter hat ja auch auf die Kooperation mit der Nato aufmerksam gemacht. Es war ja so, dass Russland gesagt hat: Ja, wir wollen. Es ging ja nicht um einen Beitritt, aber Kooperation war auch vorgesehen. All das hätte weitergehen können, wenn dann nicht dann dieser KGB-Mann gekommen wäre. Dessen Problem war ja das: Am Anfang, ab 2000, ist das Wirtschaftswachstum Russlands gewachsen, weil der Ölpreis gestiegen ist, und irgendwann hat er gemerkt, das funktioniert nicht mehr. Und wenn wir heute von einem Fehler des Westens sprechen, dann sehe ich den Fehler nicht darin, dass die Nato sich ausbreiten wollte – das ist ja blanker Unsinn, denn wenn ein Volk wie die Esten, die Letten oder die Polen sagen, wir wollen uns durch die Nato schützen, dann ist es deren Selbstbestimmungsrecht; Kollege Reimon hat es gesagt –, den Fehler habe ich eher darin gesehen, dass der Westen hätte verstehen müssen, dass das, was da an Oligarchenreichtum in Russland entstanden ist, eben nicht zu einer Mittelschicht in Russland geführt hat und deswegen die wirtschaftliche Entwicklung Russlands nicht so war, wie wir es uns erwartet haben, und das hat dann Putin die Radikalisierung ermöglicht. Ich möchte nur den Schriftsteller Jerofejew zitieren, der gestern bei „Anne Will“ gesagt hat: Putin hat jetzt in Russland die Gewalt eines Hinterhofschlägers verbreitet und dafür Anerkennung gefunden. – Da hätte man früher reinmüssen, dass der Westen gesagt hätte: Wenn wir diesen Partner Russland wollen, dann muss es eine Mittelschicht geben, dann müssen wir die stärker entwickeln! Vielleicht würde sich dann Putin mit seinen Gewaltfantasien schwerer tun. Nach Putin, glaube ich, wird das Wesentliche nicht das sein, ob jemand bei der Nato ist oder nicht, sondern dass, wie der Westen organisiert, dass wir bessere Wirtschaftsverhältnisse haben, damit auch in Russland irgendwann Wohlstand entsteht.
GROẞ: Herr Marchetti.
MARCHETTI: Nur um das auch festzuhalten, zu dieser Erzählung, dass die angestrebte – nicht einmal wirklich, aber theoretisch angestrebte –Nato-Mitgliedschaft jetzt ein Kriegsgrund wäre, den man rechtfertigen kann: 2014 war es die Annäherung zur Europäischen Union, jetzt war es die Annäherung zur Nato –also ich habe das Gefühl, dass da eigentlich ganz andere Dinge dahinterstecken und da nur Vorwände gesucht werden, um solche Schritte zu rechtfertigen, und ich glaube auch in erster Linie bei der eigenen Bevölkerung, erst in zweiter Linie nach außen. Mir ist das Bild, das da gezeichnet wurde, von der Europäischen Union, viel zu düster, also dass man da jetzt an dem aktuellen Personal akute Zweifel hegt oder ähnliche Befürchtungen hat. Warum ist die EU ein friedensstiftendes Projekt? –Weil es dort eben nicht eine starke Person gibt, sondern weil uns bewusst ist, auch aufgrund unserer Geschichte, dass wir aus ganz unterschiedlichen Kulturen sind, ganz unterschiedliche Prägungen haben – also von Frankreich über Deutschland über die osteuropäischen Länder –, jeder hat seine Geschichte und wir sind vereint in dieser Unterschiedlichkeit und in diesen unterschiedlichen Kulturen. Es wäre ganz unnatürlich und es würde diese Friedensstiftung ja auch nicht stattfinden, wenn wir versuchen würden, einheitlich zu sein. Deswegen, glaube ich, ist das keine Schwäche, sondern eine Stärke. Ich halte es ausdrücklich für eine Stärke, dass wir trotz dieser Unterschiedlichkeit und diesen vollkommen, auch energiepolitisch unterschiedlichen Interessen diese Sanktionspakete zusammengebracht haben. Und ja, da gab es unterschiedliche Interessen, da hat man Dinge abgetauscht, aber das sind unterm Strich starke Pakete an Sanktionen, auf die sich alle geeinigt haben, und ich halte das für ein starkes Signal. Jetzt zu sagen: Okay, da hat halt der eine oder andere das herausverhandelt! – Das ist das Wesen der Europäischen Union, und das Ergebnis ist stark. Auch dass man sagt: In Österreich sind „nur“ 64 Prozent davon überzeugt, dass die Sanktionen sinnvoll sind. – Also bei welchem Thema sind wir uns in Österreich zu 64 Prozent einig, dass es gut ist? Das ist ja kein schlechter Wert. Ich glaube, wir sollten aufhören, so ein düsteres Bild zu zeichnen und eigentlich darauf stolz sein – ich bin es zumindest –, wie sich die Europäische Union und auch die österreichische Bundesregierung und auch die österreichische Bevölkerung in diesem Konflikt verhalten haben und was wir zusammengebracht haben. Es hat auch der österreichischen Bundesregierung niemand zugetraut, dass wir die Versorgungssicherheit in dem Ausmaß sicherstellen, mit einem Füllstand von 80 Prozent in den Speichern. Das hat auch jeder belächelt, und wir haben es geschafft. Ich glaube, wenn wir mit ein bisschen mehr positiver Energie und auch dem Kommunizieren dieser Erfolge diese Debatte führen würden, dann würden wir auch für mehr Überzeugung und Sicherheit sorgen.
GROẞ: Absolut, aber die 64 Prozent, auf das möchte ich auch noch einmal hinweisen, auf diesen Gap zwischen dem europäischen Durchschnitt und eben dem österreichischen Durchschnitt, also das muss man schon - -
MARCHETTI: Es sind trotzdem 64 Prozent Zustimmung, ein guter Wert.
GROẞ: Ja, ja, das ist schon richtig, aber offensichtlich ist der europäische Durchschnittswert doch einfach höher, nämlich um 14 Prozentpunkte.
MARCHETTI: Ja, das ist aber der Durchschnittswert, den man anschaut. Aber den Satz noch: Zum Beispiel Polen, dass die natürlich ganz massiv mehr Zustimmungswerte bei circa jedem Thema, das wir da diskutieren, haben, wenn es gegen Russland geht, ist auch klar. Also ich glaube, man sollte auch nicht diesen Durchschnittswert irgendwie überbewerten.
GROẞ: Okay. –Bitte, Herr Troch.
TROCH: Ich würde gern wieder zum eigentlichen Thema zurückkommen (Groß: Ja, das ist gut!), die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, das ist eigentlich im Zentrum des heutigen Abends: Ich finde es sehr, sehr verständlich und sinnvoll, dass die Europäische Union eine zurückhaltende Außenpolitik betreibt. Also ich wäre sowieso generell gegen eine offensive Militärstrategie. Ich glaube, dass diese Bedeutung der Nato, die sie einmal hatte, in der Konfrontation mit dem Kommunismus, auch geschrumpft ist und eine andere geworden ist. – Das zum einen. Ich würde mir für Österreich wünschen, dass wir auch diskutieren sollten: Was sind die österreichischen Sicherheitsbedürfnisse? – Und da, glaube ich, ist die Sicherung der gemeinsamen Außengrenze Europas eine ganz zentrale Frage. Und ich kann natürlich der ÖVP und der FPÖ nicht den Vorwurf ersparen: Als Österreich die EU-Präsidentschaft unter Kurz hatte, ist zu dem Thema Sicherung der Außengrenze nichts weitergegangen. – Gut, das ist jetzt vergebliche Mühe, darüber zu weinen, denn wir sollten in die Zukunft blicken, aber ich glaube, das ist ein wesentlicher Punkt, die gemeinsame - - (MARCHETTI: Sehr verkürzte Darstellung!) – Na ja, ich muss es ja auf den Punkt bringen, ich habe keine Stunde Zeit zum Referieren. (MARCHETTI: Ja, aber es sollte dann richtig auch sein!) Ich sage, da ist nichts weitergegangen, und diese gemeinsame Sicherung der Außengrenze hat aber nichts mit der Nato zu tun. Das brauchen wir und das ist auch der klare Wille in der österreichischen Bevölkerung, wo es ein ganz klares Ja gibt – das haben Sie jetzt wahrscheinlich nicht abgefragt –, ein ganz klares Ja zu: Die gemeinsame Außengrenze Europas soll geschützt sein. Das heißt, wir sollten mehr in den europäischen Sicherheitsgedanken investieren als in die Nato. Da gibt es ein unglaubliches Handlungsfeld, und da hänge ich gleich an, auch etwas, was in Österreich auch nicht so populär ist, dass wir eigentlich ein Bundesheer haben sollten, das funktionieren soll, und ich sage jetzt einmal, das österreichische Bundesheer funktioniert nicht – nicht einmal bei der Miliz. Bei den Übungen ist das Bundesheer in einem Zustand, dass die Milizeinheiten nicht gescheit und schnell transportiert werden. Das heißt, wir würden auch eine Modernisierung des österreichischen Bundesheers betreiben. Wir haben auch Auslandsmissionen, und da geht es ja darum, dass unsere Soldatinnen und Soldaten gescheit und sicher ausgerüstet sind. Ich unterstütze die Auslandsmissionen. Da ist auch ein neutrales Land glaubwürdig, wenn wir neutral sind – wir sind ja auf keiner Seite bei den Konfliktparteien –, und daher lassen sich auch eine Auslandsmission und der Schutz der Außengrenzen – und jetzt komme ich schon zum Schluss – mit der Neutralität spielend leicht vereinbaren.
GROẞ: Herr Reimon und dann Herr Hübner.
REIMON: Mir ist teilweise diese Diskussion einfach zu defensiv und zu wenig, also jetzt nicht unsere, sondern die österreichische. Bei der Neutralität muss man nicht nur darüber diskutieren, ob man sie quasi irgendwie behalten will, sondern auch darüber, wie setzt man sie wirklich sinnvoll ein, finde ich. Wir haben die Situation, dass es sich Europa, und zwar alle Mitgliedstaaten der Union, sehr bequem macht. Die Amerikaner haben mit Abstand das größte Militärbudget, und die einen Nato-Mitglieder haben kein Interesse, eine eigene europäische Struktur aufzubauen, weil es eh die Amerikaner gibt, die anderen - - Man muss sagen, in unserer Neutralität machen wir es uns auch wahnsinnig bequem, umgeben von Nato-Ländern, denn man muss einmal an der Nato vorbei, bis man uns angreifen kann. Das hat dazu geführt, dass jetzt 40 Jahre lang nicht ins Heer investiert wurde und jetzt das erste Investitionspaket überhaupt wieder kommt. Wenn man ehrlich damit umgeht, dann haben wir aus dieser Krise hoffentlich gelernt, dass in einem wichtigen Bereich, von einem einzigen unzuverlässigen Partner abhängig zu sein, gefährlich ist. Wir haben es jetzt bei der Gas- und Energiefrage von Russland gelernt. Wir lernen das hoffentlich rechtzeitig in der Chip- und Technologiefrage gegenüber China, denn sonst schauen wir in einigen Jahren ziemlich blöd, wenn wir unsere Computer nicht mehr ausrüsten und reparieren können. Da habe ich das Gefühl, das Bewusstsein dafür ist schockartig gewachsen und es kann sich etwas entwickeln, und ich hoffe, das passiert. Wir haben das Problem auch in der militärischen Frage in Europa. Ich meine, ich möchte mir nicht vorstellen, dass Trump jetzt US-Präsident ist, während Putin dort einmarschiert, und dann, keine Ahnung, machen sich die zwei aus, wie sie es haben wollen. Wir müssen, und das ist eine neutrale Aufgabe, finde ich, darüber reden, wie Europa selbständig wird, sich von den Amerikanern auch in dieser Frage löst, eine eigenständige europäische Politik machen kann, und wenn dann Europa selbstständig agiert, dann kann man eine akademische Diskussion darüber führen, ob dann ganz Europa neutral ist oder als solches ein Militärbündnis ist. Das muss aber langfristig die Vision sein. Deswegen wäre ich schon aus diesem Grund vollkommen dagegen, dass wir jetzt quasi auch der Nato beitreten, weil dann bleibt das für immer so – im Gegenteil: Nutzen wir unsere Sonderposition und drängen wir in die Richtung, dass Europa sich selbstständig macht!
TROCH: Nur eine Korrektur: Das erste massive Investitionspaket wieder ins Bundesheer war unter einem sozialdemokratischen Verteidigungsminister, nämlich Doskozil. (HÜBNER – erheitert –: Vor allem Massivität!)
GROẞ: Herr Hübner.
HÜBNER: Ja, es ist interessant, dass es auch von den Grünen, den früheren Friedensbewegten, auf einmal diese Großmachtsfantasien gesponnen werden. Alle meinen jetzt, Europa muss mit einer Stimme sprechen und muss stark werden, wir brauchen eine neue Großmacht: Es gibt anscheinend zu wenig Großmächte und zu wenig Konfliktpotential – je mehr Großmächte, desto mehr Wirbel gibt es traditionellerweise –, und dann gibt es solche Modelle wie die Schweiz, das ist offenbar ein absoluter Fehlschlag. Solche Staaten wie die Schweiz haben es in den letzten 200 Jahren ganz schlecht gehabt, oder Staaten wie beispielsweise Singapur oder Mauritius, die nicht in Militärbündnissen dabei sind, denen geht es ganz schlecht, aber wenn man in einer Großmacht ist, die mit einer Stimme spricht und die auf der Weltbühne selbständig auftritt, dann geht es uns gut. Das sollte man einmal hinterfragen, um das schöne Wort zu verwenden, und darüber kann man diskutieren, ohne antieuropäisch zu sein und ohne sanktioniert zu werden, weil man vielleicht aus irgendwelchen Dingen ausschert. Dann kann man sich auch überlegen, ob die Europäische Union selber so rechtsstaatlich ist, wie sie sich gibt, ob es zum Beispiel rechtsstaatlich ist, ein Mitgliedsland wie Ungarn mit 7,5 Milliarden zu sanktionieren, nur wenn einem die politische Richtung nicht passt, oder – zur ÖVP gesprochen – ob es gescheit war, Österreich im Jahr 2000 zu sanktionieren, nur weil einem die Koalition nicht passt – ob das rechtsstaatliche Prinzipien sind und ob wir eine Supermacht wollen, die nach diesen Prinzipien agiert.
GROẞ: Ganz kurz Herr Brandstätter, und dann gehen wir wieder zur Frau Schaidreiter nach Brüssel.
BRANDSTÄTTER: Ich habe gedacht, dass wir das geklärt haben. Die Schweiz ist neutral, ja, aber die Schweiz entwickelt ihre Neutralitätspolitik gerade weiter, und in diesen Programmen steht drinnen, dass sie sich alleine nicht verteidigen kann, dass sie Partner braucht. Das ist genau der Punkt, und deswegen stimme ich da mit Kollegen Reimon überein, dass wir auch Partner brauchen, und ich möchte auch, dass es europäische Partner sind, weil wir gemeinsame Interessen haben. Putin will das Gegenteil. Putin sagte, er möchte mit den Amerikanern verhandeln, was mit der Ukraine ist. Dann wird er vielleicht mit den Amerikanern über das verhandeln, was der FPÖ-Freund Dugin will, nämlich in Europa ein paar kleine Staaten als Puffer zwischen Ost und West zusammenzufassen: Das macht dann irgendeine amerikanische Präsidentin, ein Präsident mit Putin aus, und wir stehen in der Mitte und können uns nicht wehren? –Nein, wir brauchen dieses starke, einige, rechtsstaatliche Europa, dieses gemeinsame Europa, wo wir aufeinander aufpassen; und wenn jemand korrupt ist, dann kriegt er kein Geld, und das ist das, was Ungarn halt passiert, tut mir leid. Das hat überhaupt nichts mit Großmachtfantasien zu tun, sondern – letzter Satz – hat sehr wohl etwas mit China zu tun. Ich habe mir die Zahlen rausgesucht: 2008 haben die Chinesen ein Drittel so viel für Forschung ausgegeben wie die Amerikaner, 2014 haben sie bereits die EU überholt. Sie sind weit vor uns und sind fast dort, wo die Amerikaner sind, und wenn es um künstliche Intelligenz geht, können wir Europäer nicht einmal mehr mitreden, weil wir es nicht gemeinsam machen. Das heißt, wenn wir als Europa – nicht militärisch, sondern im Kräftemessen von Forschung und Wirtschaft – mithalten wollen, können wir das nur gemeinsam und nicht wir als kleines Österreich.
GROẞ: Zurück zu unserem eigentlichen Thema, und da möchte ich mit Ihnen, Frau Schaidreiter, auf ein Spezialthema oder auf einen ganz speziellen Aspekt zu sprechen kommen, den ich schon in der Begrüßung angesprochen habe, nämlich das Einstimmigkeitsprinzip, das der deutsche Kanzler Olaf Scholz in der europäischen Außenpolitik ja jetzt in Frage gestellt hat. Können Sie uns einfach einen Überblick geben, wie da der Stand der Diskussion in Brüssel ist?
SCHAIDREITER: Das Einstimmigkeitsprinzip ist ein großes Streitthema, immer wieder ein Diskussionsthema. Es gibt gewisse Bereiche in der EU, gewisse Vorhaben und Pläne, welche die EU-Länder einstimmig verabschieden müssen – zum Beispiel bei Steuerfragen, zum Beispiel auch bei Sanktionsfragen, sehr oft eben bei außenpolitischen Vorhaben –, und es gibt immer wieder, vor allem auch aus dem EU-Parlament, Bestrebungen, zu sagen: Heben wir dieses Einstimmigkeitsprinzip auf, gehen wir hin zu einem Mehrheitsbeschluss! – sprich: dass eine Mehrheit von EU-Ländern reicht, um ein gewisses Vorhaben auf den Weg zu bringen, denn dieses Einstimmigkeitsprinzip hat einfach zur Folge, dass Länder immer wieder ein Veto einlegen und sagen können: Nein, wir machen nicht mit!, und das blockiert dann das ganze Vorhaben. Jetzt haben Sie gesagt, Olaf Scholz, der deutsche Bundeskanzler, hat zuletzt gemeint: Überlegen wir uns das mit dem Einstimmigkeitsprinzip! Was er aber nicht gesagt hat, ist, von welchen Bereichen er spricht. Man kann sagen: Gehen wir weg vom Einstimmigkeitsprinzip, wenn es um außenpolitische Entscheidungen geht, wenn es zum Beispiel auch um Fragen der Sanktion geht! – Da bin ich sehr, sehr skeptisch, ob das wirklich durchgeht, denn um die Einstimmigkeit aufzuheben, muss man quasi einstimmig zustimmen, und es sind ja gerade kleinere Länder, auch Österreich zum Beispiel, die – das sagen auch immer wieder Expertinnen und Experten – von diesem Einstimmigkeitsprinzip eigentlich profitieren. Es gibt große Zugpferde wie Deutschland und Frankreich, die sich auf etwas einigen, was zum Beispiel für deren Wirtschaft, für deren Volkswirtschaft ganz gut sein kann, aber da haben dann kleinere Länder immer wieder die Möglichkeit, das auch quasi in ihrem Sinne von sich zu weisen und zu sagen: Nein, wir können da einfach nicht mit! Das ist natürlich auch jetzt gerade ein Thema in der Verteidigungspolitik. Sehr, sehr zugespitzt formuliert: Sollte sich die Europäische Union auch wirklich militärisch enger zusammenschließen, sollte Österreich dann als Teil der Europäischen Union, obwohl es neutral ist, auch Teil dieser EU-Verteidigungspolitik, auch Teil einer EU-Eingreiftruppe, die gerade im Entstehen ist, sein, dann ist natürlich die Frage: Was würde das bedeuten, wenn Österreich überstimmt wird, wenn es um verteidigungspolitische Fragen geht? Es reicht also nicht, einfach zu sagen: Einstimmigkeit aufheben! – Ich glaube, da muss man schon wirklich auch nuancieren und akzentuieren, in welchen Bereichen, und ich bin da sehr skeptisch, dass es gerade in Sanktionsfragen geht. Beispiel Österreich: Österreich könnte dann überstimmt werden, wenn es zum Beispiel darum geht, Gas aus Russland weiter einzukaufen, und das, glaube ich, ist gerade im aktuellen Zustand und in der aktuellen Lage eigentlich undenkbar.
GROẞ: Sie haben ja unsere Diskussion hier im Studio verfolgt, da ist jetzt zuletzt auch sehr viel über die Nato und die EU gesprochen worden: Die militärische Unterstützung der Ukraine läuft ja in erster Linie auf bilateraler Ebene beziehungsweise über die Nato, einmal abgesehen davon, dass der größte Teil der Hilfe ja von den USA kommt. Wie würden Sie denn die Stimmen beschreiben oder wahrnehmen, wie laut sind die, die auch auf militärischer Ebene mehr EU und weniger Nato fordern?
SCHAIDREITER: Wir sehen seit Ende Februar, dass sich die EU, dass sich die EU-Länder durchaus mehr Gedanken darüber machen – viele sagen auch, das ist jetzt ein Aufwachen nach Jahrzehnten des Tiefschlafs –: Wie kann sich die EU auch militärisch verteidigen? Es hat bis jetzt einfach nie wirklich quasi das Bedürfnis oder einen Grund gegeben, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen, und – Sie haben es auch zuvor schon angesprochen – die EU hat sich da doch, weil natürlich auch bisher 20 der 27 EU-Länder Nato-Mitglieder waren – bald sollen es 22 sein, wenn Schweden und Finnland beitreten –, natürlich immer sehr auf die USA verlassen. Man hat dann unter Donald Trump gesehen: Das war vielleicht nicht so eine gute Idee. Wir haben aber jetzt auch aus EU-Sicht noch etliche EU-Länder, gerade Polen, gerade auch die baltischen Länder, die etwas zögern, wenn es darum geht, sich militärisch in der EU mehr zusammenzuschließen, auch aus Sorge, damit die USA, quasi den wichtigsten Nato-Partner, etwas zu vergraulen. Grundsätzlich ist die Notwendigkeit, glaube ich, den EU-Ländern aber schon klar. Das liegt momentan nicht zuletzt auch an einem Österreicher: Robert Brieger, ehemaliger Generalstabschef, ist zurzeit der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, das heißt, er berät auch den EU-Außenbeauftragen Josep Borrell, dessen Name zuvor schon gefallen ist; er leitet auch den Zusammenschluss der höchsten Generäle der EU-Länder, um quasi auch einen einheitlichen Weg der EU-Länder zu koordinieren, wenn es darum geht, gemeinsam Ausrüstung zu beschaffen, damit es da nicht zu Doppelgleisigkeiten kommt. Also ich habe da schon den Eindruck, dass sich die EU-Länder, was zum Beispiel eine gemeinsame Verteidigung oder eine gemeinsame Strategie angeht, mehr und mehr zusammenschließen. Natürlich gibt es immer wieder die Gefahr, der Nato irgendwie zu signalisieren: Wir wollen da jetzt einen eigenen Weg beschreiten! Allerdings war es schon auffällig, dass gerade Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei all den Treffen der EU-Verteidigungsministerinnen und -minister jetzt immer anwesend war – also ich habe den Eindruck, da wird schon sehr auf Kooperation gedrängt, damit alles parallel geht und sehr transparent abläuft.
GROẞ: Vielen Dank. Herr Müller, vielleicht auch an Sie noch die Frage: Soll sich die EU eigentlich stärker von der Nato emanzipieren?
MÜLLER: Also ich glaube erst einmal, dass diese Debatte sich ja auch entwickelt hat und verschieden geführt wird, und ich glaube, dass den Europäern nicht erst seit Donald Trump klar sein sollte, dass es in Washington eine klare Erwartungshaltung gibt, dass sich die Europäer stärker für die eigene Sicherheit engagieren sollen, sondern das sind Dinge, die schon sehr lange artikuliert worden sind und auch sehr deutlich artikuliert worden sind. Es geht den Amerikanern darum, dass sie sich immer mehr auch im pazifischen Raum stärker gefragt fühlen und denken, dass die Europäer, die ein Bruttosozialprodukt haben, das dem amerikanischen sehr ähnlich ist, durchaus in der Lage sein sollten, da eine größere Aufgabe zu schultern. Da geht es dann immer um diese 2 Prozent, aber für Europäer geht es natürlich auch darum: Wie verwenden wir die Mittel, wie viel Synergien schaffen wir? – Es gibt unglaubliche Verdoppelungseffekte, es ist sehr ineffizient, 27 Mitgliedsstaaten mit unterschiedlichen Verteidigungspolitiken et cetera; also da, glaube ich, gibt es eine andere Erwartungshaltung. Ich denke, dass es gerade in der jetzigen Situation ja schon fast fahrlässig wäre, sich zu überlegen, ob wir uns von der Nato abkoppeln sollen. Weil wir hier darüber diskutiert haben: Wie schwach ist Russland eigentlich militärisch? – Natürlich ist jetzt offenbar geworden, dass es da große Schwierigkeiten gibt, aber die Stärke der Ukraine hat ja auch sehr viel damit zu tun, was die Amerikaner, auch andere Länder, davor an Unterstützung geleistet haben. Das ist nicht von ungefähr gekommen, und dadurch spielt die Nato weiterhin eine wesentliche Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Also ich denke, es geht nicht um Entkoppeln, sondern es geht darum, wie man jetzt den europäischen Beitrag in Kooperation mit der Nato definiert.
GROẞ: Mich würde auch noch Ihre Position betreffend die Diskussion, die wir vorhin so leidenschaftlich geführt haben, interessieren, nämlich: Wie viel Europa braucht es – mehr oder weniger oder gar eine Supermacht Europa? Was ist da Ihr Zugang?
MÜLLER: Schauen Sie, ich denke, dass man Europa ja auch nicht kleinreden muss. Wenn wir von Einstimmigkeit reden, reden wir ja von wenigen Bereichen, in denen man das noch braucht: in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Finanzpolitik. Die meisten Bereiche, auch ganz viele interne Politiken der EU, die eine außenpolitische Dimension haben, sind mittlerweile über qualifizierte Mehrheiten zu entscheiden. In der Handelspolitik ist die Europäische Union stark, in vielen anderen Sachen auch, und da glaube ich, dass man sich in der Welt, in der wir jetzt leben, schon auch bewusst machen muss, dass, wenn man sozusagen den European Way of Life bewahren will, die Europäische Union da schon ein Vehikel ist, ja, weil man sich ja nicht nur sicherheits- und verteidigungspolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch – Sie haben es angesprochen –, forschungspolitisch, in ganz vielen Bereichen durchsetzen muss. Ich denke schon, dass man da gut aufgestellt ist. Denken Sie daran, wenn es um Fragen geht, wie darum, Datenschutz und Internetfirmen zu regulieren: Glauben Sie, dass Österreich das alleine machen kann? – Also das ist doch eigentlich offensichtlich.
GROẞ: Okay, vielen Dank. Michel Reimon hat sich noch kurz gemeldet.
REIMON: Es gibt noch einen Punkt, den wir nicht angesprochen haben, der aber wirklich wichtig ist, und das ist die atomare Bedrohung, denn ohne die kann man, glaube ich, die ganze Logik nicht verstehen. Die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland, Litauen, Finnland dazu, auch die Polen und die Schweden fühlen sich – das kann man in Österreich so nicht nachempfinden, wenn man nicht mit Politiker:innen von dort gesprochen hat – wirklich seit zehn, 15 Jahren von Putin bedroht. Die haben das schon vor zehn, 15 Jahren gesagt und fühlen sich jetzt natürlich durch diesen Angriff bestätigt. Die wollen unter dem Schutzschirm der Amerikaner sein, deswegen treten die Finnen jetzt sogar extra der Nato bei. Die Logik dahinter ist auch eine atomare: Putin sitzt auf 6 500 Atomsprengköpfen. Deswegen ist auch die ganze Erzählung, er wäre durch das Näherrücken der Nato bedroht, völliger Nonsens. Niemand greift ein Land an, das sich auf Knopfdruck mit 6 500 Atomsprengköpfen wehrt, das ist völliger Nonsens, dass Russland angegriffen werden könnte. Die Union hat aber keine Atomsprengköpfe, Frankreich hat als einzige verbliebene Atommacht 300 gegen die 6 500 der Russen. Die Amerikaner haben auch über 6 000. Das Einzige, was dieses Gleichgewicht zu Putin aufrechterhält, sind jetzt – aus Sicht von Estland, Lettland, Litauen, Finnland – die Sprengköpfe der Amerikaner. Deswegen geht Finnland unter den Schutz dieser über 6 000 amerikanischen Atomsprengköpfe. Das kann ja bitte aus österreichischer Sicht auch nicht die Zukunftskonstruktion sein. Wir werden jetzt hoffentlich nicht selbst 6 000 aufbauen wollen. Die Antwort kann ja nur sein, dass man an einer Zeit nach Putin arbeitet und diese 6 000 russischen Atomsprengköpfe wegkriegt, damit wir eine europäische Sicherheitspolitik machen können, die über so etwas in der unmittelbaren Bedrohung nicht einmal nachdenken muss – da muss man dann auch wieder über China reden, da waren wir vorhin in der Pazifikdiskussion, aber das sprengt jetzt diesen Rahmen hier. Wir können das jedenfalls nicht aus der österreichischen Position diskutieren, sondern müssen das aus Sicht der Nachbarländer Putins tun, und da ist das eine direkte atomare Bedrohungsfrage.
GROẞ: Vielen Dank.
TROCH: Ich möchte nur einen Punkt aus Sicht Österreichs einbringen: Also ich kann mir nicht vorstellen, dass wir der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips bei der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik zustimmen. Für mich wäre das eine massive Einschränkung der österreichischen Neutralität. Die SPÖ hat da eine klare Position. Die Geschichte der Europäischen Union ist eine Geschichte der Einschränkung der Einstimmigkeit: 1986 die Einheitliche Europäische Akte, 2009 Vertrag von Lissabon – immer mehr wird mehrheitlich entschieden. 66 Prozent, glaube ich, der Bevölkerung Europas leben in den großen Staaten, die großen Länder Europas geben damit jetzt schon bei den qualifizierten Mehrheiten den Ton an. Die Volksabstimmung in Österreich über den EU-Beitritt war vor Lissabon. Jetzt durch die Hintertür auch noch die Einstimmigkeit bei der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik abzuschaffen, wäre ein Hinterslichtführen der Bevölkerung, vor dem Hintergrund, über welche Bedingungen wir 1994 abgestimmt haben und unter welchen Bedingungen wir 1995 beigetreten sind. Daher: ein klares Nein, da weiter die Einstimmigkeit einzuschränken.
GROẞ: Vielen Dank dafür. Ein letztes Thema habe ich noch. Ich weiß, es ist auch gefährlich, das jetzt noch aufs Tapet zu bringen, aber ich möchte diese Sendung nicht beenden, ohne auch darüber gesprochen zu haben, nämlich über das Thema EU-Erweiterung, neue Mitglieder, von Ukraine über Moldau, Georgien bis hin natürlich zu den Staaten am Westbalkan. Herr Müller, ganz kurz: Würden Sie uns da noch für eine Schlussrunde einen Impuls zu diesem Thema geben?
MÜLLER: Ich glaube, die Debatte wird jetzt wieder an Leben gewinnen, man sieht es schon, aber sie ist doch, auch vom deutschen Bundeskanzler, dann immer mit der Frage verknüpft: Wie reformieren wir die EU, um sie für so eine Erweiterungsrunde fitzumachen? Da ist man dann auch bei Fragen der Einstimmigkeit in bestimmten Bereichen, aber man ist natürlich auch bei Fragen, die dann wieder auch Themen betreffen, die wir angesprochen haben: Ungarn und Polen, Staaten, die sich im Artikel-7-Verfahren befinden, Staaten, die sich auch in einem Verfahren befinden, in dem es jetzt konkret um die Rechtsstaatlichkeit und die angesprochenen Zurückhaltungen von EU-Geldern, weil die eben dort nicht gesichert verwendet werden, geht. Dann ist die Frage, wenn wir von den Mitgliedern reden, von denen wir jetzt reden, was es bedeuten würde, wenn die jetzt in einem schnellen Prozess aufgenommen werden würden: Dann bräuchte man sicher Mechanismen in der EU, damit man, wenn sich Staaten nicht mehr wertekonform verhalten, auch starke Instrumente hätte. Damit würde man diese Konditionalität, die eigentlich im Erweiterungsprozess angelegt ist, fast in die Gemeinschaft mit hineinnehmen. Ich kann mir bei einer Europäischen Union, wie sie jetzt verfasst ist, nicht vorstellen, dass sie schnell Länder aufnehmen könnte, viele von diesen Ländern aufnehmen könnte, die jetzt Beitrittskandidaten sind, weil dort ganz bestimmte, ganz wichtige Rahmenbedingungen nicht stimmen und man jetzt am Beispiel Ungarn und Polen gesehen hat, was einem das dann in der Folge für Schwierigkeiten bereiten kann.
GROẞ: Helmut Brandstätter.
BRANDSTÄTTER: Ich habe mit Gio Hahn, also unserem Kommissionsvizepräsidenten, vor zwei Jahren über das Thema gesprochen und er hat damals gesagt: Ja zu Aufnahmegesprächen, das erste Kapitel muss Rechtsstaatlichkeit sein, dann machen wir alles andere und dann noch einmal Rechtsstaatlichkeit! – Ich finde, das ist richtig gesagt. Zweitens, weil das Thema Ukraine aufgetaucht ist: Ich habe viel Kontakt mit Abgeordneten dort, und alle sagen sie: Ja, wir haben ein Korruptionsproblem, und deswegen wollen wir auch kein Fast-Track-Verfahren in die Union hinein, sondern wir wollen – tolle Abgeordnete, Männer und Frauen, die mir das sagen – auch diese Beitrittsgespräche nutzen, um Korruption abzubauen, unmöglich zu machen, als Teil eben der gemeinsamen, einer gemeinsamen Europäischen Union! – Das muss man, glaube ich, auch anerkennen. Was den Balkan betrifft, sind wir aber wieder in der Weltwetterlage: Natürlich wissen wir, dass die Chinesen dort massiv mit Geld hineingehen – aber um diese Staaten abhängig zu machen, nicht um sie zu unterstützen. Da müssen wir hinein, und deswegen ist das ein wesentlicher Punkt: dass es natürlich auch schon vor dem Beitritt Zwischenstationen geben muss, damit diesen Staaten klar ist, sie gehören natürlich zu Europa, wir wollen natürlich zusammenarbeiten, aber es muss Reformen geben. Ich möchte nicht in einer EU von – ich weiß nicht, wie viel dann – 35, 36, 37 sein, in der der Nachfolger von Herrn Vučić bei irgendetwas aufsteht und Nein sagt, und damit ist das Thema vorbei. Natürlich brauchen wir da Reformen, aber dann muss es dieses gemeinsame Europa geben, und wir wissen, dass die Menschen dort daran glauben. Wir wissen auch, dass wir – wenn ich zum Schluss noch etwas Positives sagen darf – alle das Glück hatten, dass wir hier aufgewachsen sind, weil uns – allen Antiamerikanern sage ich das auch gern – der Marshallplan geholfen hat, den die Tschechen oder Ungarn nicht annehmen durften. Wir haben hier Wohlstand aufgebaut. Wir haben die Verantwortung dafür, dass wir das in ganz Europa machen können.
GROẞ: Vielen Dank. Herr Hübner hat sich gemeldet, dann Herr Marchetti.
HÜBNER: Kollege Brandstätter, wir haben hier einen Wohlstand, weil wir, im Gegensatz zu den Tschechen, Ungarn und so weiter, keinen Kommunismus gehabt haben. Deswegen haben wir einen Wohlstand aufgebaut, und nicht wegen dem Marshallplan. (BRANDSTÄTTER: Mithilfe der Amerikaner!) – Ganz Westeuropa hat diesen Wohlstand aufgebaut. (BRANDSTÄTTER: Ja, weil es überall den Marshallplan gegeben hat!) – Ja schon (BRANDSTÄTTER: Na, also!), aber das war ja nicht der Grund (BRANDSTÄTTER: Ein wichtiger Handelspartner!), warum hier Wohlstand herrscht und warum im Osten kein Wohlstand herrscht. Der Marshallplan verfügte nach heutigen Begriffen über geringfügige Mittel, aber das führt jetzt zu weit. Ich möchte nur eines sagen – zum Herrn Reimon noch einmal –: Wir können nicht nur die ganze Diskussion aus österreichischer Sicht führen, sondern in dieser Runde müssen oder sollen wir die Diskussion aus österreichischer Sicht führen und nicht aus baltischer oder polnischer Sicht. Das ist eine Sicht, die sehr merkwürdig ist, dass man sagt: Wir können aus österreichischer Sicht nicht mehr diskutieren! – Aus österreichischer Sicht, das hat der Herr doch richtig gesagt, wäre es ja geradezu Hochverrat, eine Lösung, die das Einstimmigkeitsprinzip auch in den wenigen noch verbliebenen Sachgebieten aufgibt, anzuvisieren. Das in entscheidenden Fragen wie zum Beispiel Außenpolitik, Sanktionen, kriegerische Handlungen, Truppenentsendungen zu machen, das wäre für einen Staat von der Größe Österreichs etwas, was ich mit den Worten unseres Bundespräsidenten gesprochen als Hochverrat ansehen würde. Etwas Letztes noch – und dann bin ich schon fertig –, noch einmal zur Rechtsstaatlichkeit: Es ist ganz wichtig, dass die Rechtsstaatlichkeit hier in der EU einzieht. Die existiert ja nicht, es existiert ja Rechtswillkürlichkeit. Es werden ja nicht die Staaten verfolgt, die von Korruption geplagt sind, wie Griechenland, Süditalien, Rumänien oder Bulgarien – das weiß ich ja aus der Anwaltschaft, wie es da wirklich zugeht –, sondern es werden Staaten verfolgt, die in der Rechtsstaatlichkeit nicht perfekt sind, wo Korruption herrscht, aber die Gold sind gegen andere Staaten, die in den Rechtsstaatlichkeitsberichten nicht einmal erwähnt werden, weil sie politisch korrekte, gewünschte Regierungen haben – und da sind wir wieder zurück beim Problem 2020, Sanktionen gegen Österreich, wenn eine nicht politisch korrekte oder nicht gewünschte Regierung eingesetzt wird: Sanktionen. Das ist ein zentrales Problem, und da brauchen wir von weiteren Stärkungen der EU oder von Rechtsstaatlichkeit nicht zu reden, wenn wir diese Grundsätze vor unseren Augen mit Füßen getreten sehen. – Danke.
GROẞ: Bitte, Herr Marchetti.
MARCHETTI: Ich glaube, Sie haben mit einer Analyse fundamental unrecht, und zwar mit diesem Vergleich mit den Sanktionen gegen Schwarz-Blau im Jahr 2000. Damals wurde wirklich tatsächlich – und das kritisiere ich –, ein demokratisches Wahlergebnis sanktioniert. Wenn wir über Ungarn reden, werden da konkrete politische Handlungen sanktioniert, die massivst gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sind, und zwar in der Gerichtsbarkeit. (HÜBNER: Und nur in Ungarn, ja!) Und das ist ein wesentlicher Unterschied, der es unmöglich macht, diese beiden Dinge zu vergleichen. Unabhängig davon, um zurückzukommen zum Thema: Also ich glaube, dass man als österreichischer Abgeordneter – und da gebe ich Ihnen recht – tatsächlich nicht für eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips sein kann, weil Österreich - und die Kollegin hat es auch gesagt – enorm davon profitiert. Wir haben nicht diese informelle Macht wie Deutschland. Wäre ich Olaf Scholz, würde ich das auch fordern, aber wir haben diese informelle Macht, diese Größe und diesen wirtschaftlichen Einfluss nicht, dass wir das kompensieren könnten. Ich glaube, wir würden uns damit massiv schwächen, und deswegen halte ich es auch für wichtig, dass wir das nicht tun. Zur Erweiterung – unsere EU-Ministerin Karoline Edtstadler sagt das immer, und ich kann das nur unterstützen –: Ich glaube, dass die EU ohne den Westbalkan nicht komplett ist. Ich halte es für geostrategisch extrem wichtig, dass wir diese Region nicht vollkommen links liegen lassen, sondern sie – und sie wollen ja auch – integrieren. Ich glaube nur, man sollte das nicht überstürzen, sondern sehr wohl auch an die ganzen Bedingungen knüpfen, die wir auch klar geregelt haben. Wir müssen aber diese Blockadehaltung, die zum Beispiel Frankreich gegen Nordmazedonien und Albanien hat, lösen, weil ich glaube, dass das wirklich eine Zukunftsfrage für die Europäische Union ist.
TROCH: Zum Westbalkan: Ich glaube, als Kommissionspräsidentin von der Leyen rausgegangen ist und der Ukraine sofort quasi einen Blankoscheck für den EU-Beitritt ausgestellt hat, war das eine Watschen ins Gesicht der Westbalkanländer, denn die Westbalkanländer – da gebe ich dir vollkommen recht – warten schon seit Langem auf konkrete Verhandlungen. Da gibt es einen Beitrittskandidatenstatus, aber es wird über die wesentlichen Dinge nicht gesprochen. Auch über den Status des Kosovo, der ein komplexer ist, wird auch nicht gesprochen. Da gibt es wirklich Handlungsbedarf. Ich sage: Zuerst der Westbalkan! Das ist auch für uns Österreicher, für die starke Migration aus den Westbalkanländern sogar ein innenpolitisches Thema. Der Westbalkan hat ganz klar Vorrang vor der Ukraine. Die Ukraine ist im Moment als Beitrittsland überhaupt nicht finanzierbar.
GROẞ: Vielen Dank. Michel Reimon war noch nicht dran in der Schlussrunde. – Bitte.
REIMON: Kurze Sache noch: Also ja, ich glaube, da gibt es einen breiten Konsens: Westbalkan ist ein österreichisches Interesse, die Länder gehören nahe herangeführt. Ich teile aber auch die Einschätzung, die Union selbst ist kaum erweiterungsfähig. Es gibt jetzt eine Landeshauptleutekonferenz mit 27 Landeshauptleuten, und wenn es 32 sind, geht noch weniger weiter. Da muss also einmal reformiert werden. Genau damit sind wir dann bei der Einstimmigkeitsdebatte. In der Außen- und Sicherheitspolitik ist es mit Abstand mit Sicherheit das Allerletzte, wo das fallen kann, gerade durch den Neutralitätsstatus mancher Länder. In anderen Bereichen können wir politikfähiger werden und das aufgeben und müssen weniger machen. Ein Letztes muss ich noch sagen: Es gab keine Sanktionen der Europäischen Union gegen Österreich unter Schwarz-Blau (HÜBNER: Ja sicher!), die hätten eine Einstimmigkeit erfordert – und dafür hätte man selber zustimmen müssen. Deswegen konnte es sie gar nicht gegeben haben, was es aber gegeben hat, ist, dass Regierungen souveräner Staaten selber entschieden haben, dass sie nicht mit Rechtsextremen zusammenarbeiten wollen. Das steht jeder Regierung frei.
GROẞ: Okay, vielen Dank. Raffaela Schaidreiter, zum Schluss noch einmal nach Brüssel: Ich weiß nicht, ob Sie zum Thema Erweiterung noch etwas sagen wollen.
SCHAIDREITER: Kann ich gerne, ja. – Wenn ich mir die Beiträge angehört habe: Ja, es hat auch in Brüssel oder unter den EU-Ländern, unter den Vertreterinnen, Vertretern der Regierungen durchaus für viel Unmut gesorgt, dass Ursula von der Leyen mit diesem Wink des Beitrittskandidatenstatus an die Ukraine so vorgeprescht ist. Da haben etliche auch wirklich Unmut geäußert, weil einfach der Tenor war: Was soll dieser Status jetzt für das Land? – Ja, es kann natürlich eine symbolische, eine moralische Unterstützung sein, aber man verpflichtet sich dementsprechend natürlich auch ganz stark. Und dann gibt es auch noch den Kandidatenstatus für Moldau, Georgien hat ihn ja nicht bekommen. Die EU hat sich da also den Ländern gegenüber durchaus quasi committet und verpflichtet, wobei natürlich völlig undenkbar ist, dass die Ukraine in absehbarer Zeit der EU beitritt. Was dieser Kandidatenstatus aber natürlich schon mit sich bringt, ist gewisses Fördergeld, das die Ukraine dadurch beziehen kann, wenn sie diesen Status hat. Angesprochen auch auf die Konsequenzen, sollte sich die EU erweitern, sollten noch mehr Länder in die EU aufgenommen werden: Gerade im Fall Ukraine dürfen wir nicht vergessen, das ist ein Land mit einer riesigen Agrarwirtschaft. Allein Agrargelder machen ja ein Drittel des gesamten EU-Budgets aus. Das heißt, da muss es einfach eine gewisse Strukturänderung geben, denn sonst kann man davon ausgehen, dass vermutlich 80 Prozent des gesamten EU-Budgets für Agrargelder quasi nur in die Ukraine gehen – also so viel zum Zusammenhang, was eine EU-Erweiterung angeht.
GROẞ: Helmut Brandstätter ist inzwischen noch ein Satz eingefallen, aber bleiben Sie bitte noch dran, Frau Schaidreiter, ich komme noch zurück zu Ihnen.
BRANDSTÄTTER: Ich möchte wirklich nur den einen Satz noch sagen: Außenpolitik ist so wichtig geworden, weil es Sicherheitspolitik geworden ist. Deswegen würde ich auch wirklich zumindest die Vertreter der Regierungsparteien und dann die Regierung auffordern: Machen wir da mehr gemeinsam! Ich glaube, dass wir so dann auch mehr Verständnis bei der Bevölkerung für die eine oder andere schwierige Maßnahme bekommen. Ich wäre sehr dafür, dass wir da mehr gemeinsam machen.
GROẞ: Vielen Dank. Frau Schaidreiter, noch einmal zurück, wie angekündigt: Wir haben heute sehr viele Fakten diskutiert, hoffentlich zumindest. Ich möchte zum Schluss Sie um eine sehr persönliche Einschätzung bitten. Sie leben nämlich seit vielen Jahren in Brüssel, sind seit einem Jahr Büroleiterin des ORF-Büros in Brüssel. Wie hat sich denn aus Ihrer Sicht, einfach auch aus Ihrer Wahrnehmung Brüssel oder das Getriebe, die Arbeit, die Atmosphäre und das Klima in Brüssel seit dem Feber des heurigen Jahres verändert?
SCHAIDREITER: Ganz persönlich: Für unseren Arbeitsalltag stellt es sich so dar, dass wir uns jetzt auch mit Themen beschäftigen, mit denen wir uns einfach in den vergangenen Jahren eigentlich überhaupt nicht beschäftigt haben oder nicht beschäftigen mussten. Ich bin zum Beispiel jetzt auch wöchentlich oder beinahe tagtäglich mit Vertreterinnen, Vertretern der Nato für Hintergrundgespräche, für einschätzende Gespräche in Kontakt, weil wir als EU-Korrespondenten hier in Brüssel auch die Nato abdecken. Herr Brandstätter hat es aber auch schon angesprochen, was sich in der EU halt schon als Erkenntnis breitgemacht hat: Nicht nur Außenpolitik ist Sicherheitspolitik, sondern auch Energiepolitik ist Sicherheitspolitik. Die Vertreterinnen und Vertreter der EU-Länder müssen sich momentan einfach mit Dingen und mit Themen beschäftigen, die auch die Bevölkerung jetzt jahrzehntelang nicht beschäftigt haben, und das sind sehr – so hätte man es einmal gesagt – triviale Dinge wie Lebensmittelversorgung, Preise auf Lebensmittel, Energiepreise, die Fragen: Wo bekommen wir unsere Energie her? Wo bekommen wir das Gas her? Droht uns ein Blackout? Da merken wir schon, dass sich gerade jetzt auch die EU-Kommission und deren Beamtinnen und Beamte, wenn es darum geht, einen Gaspreisdeckel auszuarbeiten, sehr, sehr schwertun, denn es versteht nicht nur jedes EU-Land unter einem Gaspreisdeckel etwas ganz anderes, sondern es sind jetzt einfach Prozesse im Laufen, wo in kürzester Zeit Strukturen aufgebaut werden müssen. Das ist insofern einfach noch nicht da gewesen. Natürlich auch bezüglich der Bedrohungen, Sie haben es angesprochen, der atomaren Bedrohung auf dem europäischen Kontinent: Das sind momentan einfach sehr lebensbedrohliche Themen, mit denen sich die EU, mit denen sich die EU-Länder beschäftigen müssen, natürlich auch die Bevölkerung beschäftigen muss, die natürlich für eine ganz andere Stimmung, für eine ganz andere Dynamik auch hier in Brüssel sorgen.
GROẞ: Vielen Dank, dass Sie dabei waren, Frau Schaidreiter, und liebe Grüße von Wien nach Brüssel. Danke.
BRANDSTÄTTER: Danke für die Arbeit, denn das ist wirklich wichtige Information aus Brüssel, möchte ich als ehemaliger Korrespondent sagen.
GROẞ: Genau, danke schön.
SCHAIDREITER: Danke sehr.
GROẞ: Vielen herzlichen Dank aber auch an Sie, Herr Prof. Müller, dass Sie uns zur Verfügung gestanden sind und dabei waren, natürlich Ihnen, meine Herren Abgeordneten, und ganz besonders Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihr Interesse und fürs Dabeisein. Ich freue mich, wenn wir uns in einem Monat wiedersehen. Bleiben Sie bis dahin gesund und machen Sie es gut! Auf Wiedersehen.