Jingle: „Rund ums Parlament”. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Rund ums Parlament”, dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name ist Tatjana Lukáš, und ich freue mich sehr, dass ihr wieder zuhört. In der letzten Folge habe ich es ja schon angekündigt: Dieses Mal sprechen wir über das Fundament einer Demokratie, die Rede ist heute von der Verfassung. Das tue ich nicht irgendwo und freilich auch nicht mit irgendwem, denn ich stehe hier im Parlamentsgebäude, an dem Ort, an dem vom Frühjahr 1919 bis in den Herbst 1920 das Bundesverfassungsgesetz geschrieben worden ist. Dieser Ort war damals bekannt als das Lokal Eins. Heute sind hier drei Räume untergebracht: die Büros des Parlamentsdirektors, der Parlamentsvizedirektorin und deren Assistenzen. Mich begleiten heute auch zwei Menschen, die sich nicht nur mit der Geschichte dieser noch heute gültigen Verfassung auskennen, sondern auch mit dem, was eine Verfassung überhaupt ist. Ich begrüße ganz herzlich bei uns im Podcast die Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien, Magdalena Pöschl.
Magdalena PÖSCHL: Hallo, danke vielmals für die Einladung.
LUKÁŠ: Vielen Dank fürs Kommen. Außerdem ist bei mir der Bundespräsident und Nationalratspräsident a.D. Heinz Fischer.
Heinz FISCHER: Schönen guten Tag.
LUKÁŠ: Große Freude, dass Sie da sind, an beide vielen Dank. Wir stehen hier im ehemaligen Lokal Eins. Dürfte ich vielleicht darum bitten, dass Sie beide so eine kurze Raumbeschreibung hier abgeben. Vielleicht fallen Ihnen ja auch unterschiedliche Dinge auf. Was sehen Sie denn als erstes, wenn Sie in diesem Raum gehen? Frau Pöschl, vielleicht möchten Sie starten.
PÖSCHL: Eine fabelhaft schöne Decke mit Ornamenten, die schön und elegant sind, um ein Begriffspaar aufzugreifen, das uns vielleicht heute noch beschäftigen wird.
LUKÁŠ: Genau, mit Blättern. Und es ist wirklich herrlich. Eine herrliche Decke mit schwarzer Umrandung aus Marmor, wie in diesem Gebäude sehr häufig anzutreffen. Wir haben in den letzten Folgen schon gelernt, dass Marmor aus dem ganzen Kaiserreich hierhergebracht wurde. Und was fällt Ihnen auf, Herr Dr. Fischer?
FISCHER: Mir fällt eigentlich auf, was sich verändert hat gegen früher. Also das berühmte Lokal Eins, war ja wirklich ein Lokal, wo sehr oft Sitzungen des Verfassungsausschusses eingeteilt wurden, auch des Justizausschusses und andere. Daneben das Lokal Zwei und das Lokal Drei und der Budgetsaal, der Hauptausschusssaal und so weiter. Es ist vieles erhalten geblieben, zum Beispiel die gepolsterten Türen und die Farbe dieser Polsterung oder die Verzierungen, die Farbe des Holzes, die Farbe der Wand, die Heizungen und Lüftungen. Das ist gleich geblieben, und doch hat sich sehr viel auch verändert. Sie haben ja schon gesagt, dass der Raum geteilt oder sogar gedrittelt wurde. Das Ausschusslokal, war früher viel größer. Und es sind moderne Büromöbel, und es ist überhaupt viel moderne Technik eingezogen in das Parlament, da es früher ja nicht gerade ein Hort der Technik und der Technologie war.
LUKÁŠ: Jetzt hört man da ein bisschen raus, dass Sie schon eine lange Geschichte im Parlament haben, und auch wenn das jetzt nicht direkt etwas mit der Verfassung zu tun hat, wollen Sie mir vielleicht von Ihrem ersten Tag erzählen, den Sie im Parlament verbracht haben? Können Sie sich da noch erinnern?
FISCHER: Sie werden lachen. Den allerersten Tag im Parlament habe ich verbracht im Jahr 1954 als Gymnasiast und Redakteur der Schülerzeitung des Hietzinger-Gymnasiums in der Fichtnergasse. Es war im Herbst. Ich habe mir eine Sitzung aus der Budgetdebatte angehört und kann man mich noch erinnern: Einer der Redner war der spätere Linzer Bürgermeister Koref und ein anderer der berühmte ÖVP-, damals Finanzausschussexperte Prinke, der auch ein Wohnbauexperte war. Das war mein allererster Besuch. Beruflich habe ich dann hier zu arbeiten begonnen, am 02.01.1962, auch schon eine Zeit her. Und was viele nicht wissen, dass damals Leopold Figl Nationalratspräsident war. Er war vorher Bundeskanzler, dann Außenminister in der Staatsvertragszeit, und dann war er einige Jahre, von 1959 bis 1963, Nationalratspräsident. Er war gewissermaßen mein Chef. Ich habe von ihm meinen Dienstausweis bekommen, aber ich war damals dienstzugeteilt der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion und habe als Jurist hier gearbeitet und habe mich sehr wohlgefühlt. Habe ein kleines Zimmer gehabt, direkt beim Eingang zur Reichsratsstraße, und das war leicht zu passieren. Der Portier hat „Guten Morgen” gesagt, aber sonst nichts. Man hat noch nicht so viele Sicherheitseinrichtungen benötigt, aber die Zeiten haben sich geändert, und ich halte ausreichende Sicherheit für vernünftig.
LUKÁŠ: Ja, aber eines muss man sagen. Ich glaube, Sie waren vielleicht der einzige Mensch an diesem heutigen Tag, der nicht seinen Ausweis an der Tür zeigen musste, um das Gebäude zu betreten.
FISCHER: Ja, weil Sie so lieb waren und mich abgeholt haben!
LUKÁŠ: Wir nämlich schon, aber ich glaube, Sie können so passieren, was auch ein schönes Privileg auf Lebenszeit ist.
FISCHER: Es gibt auch viele junge Beamte, die mich nicht kennen, also ich habe immer meinen Ausweis mit, sogar meinen Dienstausweis habe ich mit.
LUKÁŠ: Wunderbar. Frau Pöschl, ich würde jetzt zum Thema Verfassung weitergehen und eine grundlegende Frage stellen. Wie ist es, braucht jeder Staat eine Verfassung, egal ob demokratisch oder nicht?
PÖSCHL: Es hängt ein bisschen davon ab, was für einen Verfassungsbegriff man hat. Also die Prämisse, glaube ich, von der wir die Verfassung sehen müssen, ist, dass sie entstanden ist durch die Einsicht: wer in einem Staat, die Herrschaft ausübt, wird nicht von Gott entschieden, sondern von Menschen, und zwar in Form des Rechts. Also Verfassung ist eigentlich Verrechtlichung von Herrschaftsmacht. Und nachdem jeder Staat Recht braucht, Recht erzeugt, braucht er auch Regeln, wie dieses Recht erzeugt wird. Also würde ich nicht sagen, braucht jeder Staat eine Verfassung, sondern er hat sie. Wenn man aber anschaut, welche Inhalte die ersten Verfassungen, die entstanden sind, vor allem die französische, die amerikanische, hatten, so fällt auf, dass die Herrschaftsmacht demokratisch begründet und auch begrenzt war. Das heißt, das zentrale Herrschaftsinstrument war das Gesetz. Man hat ein Organ eingesetzt, das diese Gesetze erzeugt – das Parlament – und ein Verfahren vorgesehen, in dem diese Gesetze erzeugt werden. Und zusätzlich hat man die Herrschaftsmacht noch begrenzt, indem man sie auf mehrere Organe verteilt hat – Gewaltenteilung – und inhaltlich beschränkt, indem man sie an Grundrechte gebunden hat. Und das ist der Grund, warum der Begriff der Verfassung so positiv konnotiert ist, weil alle diese Zutaten bei diesen Verfassungen dabei waren. Wenn man einen engeren Verfassungsbegriff verwendet, also einen, der diese positiven Elemente beinhaltet, dann hat nur ein Staat eine Verfassung, der demokratisch ist, bei dem Gewalten geteilt sind und der Grundrechte hat. Also letztlich hängt es vom Begriff der Verfassung ab.
LUKÁŠ: Aber jeder Staat hat Regeln, braucht Regeln.
FISCHER: Und die Regeln sind normalerweise schriftlich, aber es gibt doch einige wenige Staaten, die keine geschriebene Verfassung haben, so wie Großbritannien zum Beispiel. Und das zweite, was ich vielleicht noch anmerken möchte, ist: Es gibt das Verfassungsrecht, das in Österreich sehr gut kodifiziert ist, aber es gibt auch die Realverfassung, die in manchen Punkten und in sehr wichtigen Punkten von dem, was in der Verfassung steht, abweicht. Und ich denke da vor allem an Diktaturen. Das Deutsche Reich von Adolf Hitler hat eine Verfassung gehabt, aber viele haben sich dadurch nicht schützen lassen können, weil, es hat in Wirklichkeit der Grundsatz gegolten: „Führer befiehl, wir folgen dir!”. Und die Verfassung hat zum Beispiel die jüdische Minderheit keineswegs real geschützt, sondern sie war dem Willen der herrschenden Partei entworfen. Das ist vielleicht auch noch eine wichtige Anmerkung.
LUKÁŠ: Darf ich als Anwältin unserer Hörer und Hörerinnen eine Zwischenfrage auf diese Verfassung von Großbritannien stellen oder ganz kurz darauf zurückkommen? Wenn die keine schriftliche Verfassung haben, was haben sie dann für eine Verfassung? Es kann ja wohl keine Audiospur sein.
FISCHER: Sie haben eine ungeschriebene Verfassung, Gewohnheitsregelungen und eine Staatspraxis, die fest verankert ist in der Gerichtsbarkeit, in den Köpfen der Bevölkerung. Aber Sie können nicht die Artikel der österreichischen Bundesverfassung über den Nationalrat vergleichen mit völlig korrespondierenden Bestimmungen in einer britischen Verfassung.
LUKÁŠ: Jetzt ist es ja in der österreichischen Verfassung besonders, dass sie einerseits schon sehr alt ist und auch stückweise entstanden ist. Vielleicht möchten Sie ganz kurz schildern, Frau Pöschl, wie unsere Verfassung zustande gekommen ist, und gerne dann Sie, Herr Dr. Fischer, welchen persönlichen Konnex Sie zu dieser Entstehungsgeschichte noch haben?
PÖSCHL: Die Stammurkunde der österreichischen Verfassung ist das Bundesverfassungsgesetz, das 1920 erlassen wurde. Wie oft in Österreich ist die Verfassung entstanden vor dem Hintergrund einer Niederlage. Die Monarchie ist zerfallen, und das kleine Österreich musste sich jetzt aus den Trümmern, die da herum gelegen sind, durchaus auch aus den Rechtstrümmern, eine neue Verfassung schaffen. Und die Entscheidung, die man damals getroffen hat, war, bestimmte Dinge ganz neu zu machen: die Demokratie, die Republik auf der einen Seite. Das ist eine deutliche Abkehr zu dem, was in der Monarchie war. Auf der anderen Seite war es aber auch das Bestreben des Architekten unserer Verfassung, Hans Kelsen, das, was sich bewährt hat in der Monarchie zu übernehmen, die Kontinuität möglichst zu wahren. Ein Beispiel dafür ist das Staatsgrundgesetz aus 1867, das Grundrechte enthält. Man konnte sich 1920 nicht auf einen eigenen Grundrechtskatalog einigen und hat deshalb einfach dieses Gesetz übergeleitet und mitgenommen in die demokratische Republik. Man hat auch die Grundelemente übernommen. Die Monarchie war kein Bundesstaat, aber es gab eben doch die Kronländer und die haben, als die Monarchie zerfallen ist, dann mehr oder weniger den Staat durchgetragen. Das war ein Grund, warum man sich auch dazu entschieden hat, einen Bundesstaat Österreich als Bundesstaat zu konstituieren. Die Gewaltenteilung, den Rechtsschutz, das Reichsgericht hat man übernommen, aber innovativ weiterentwickelt zum Verfassungsgerichtshof – Kelsens liebstes Kind, sagt man. Das heißt, man hat mehr oder weniger aus dem, was hier vorhanden war, eine neue Verfassung gebaut. Der Dreh- und Angelpunkt der parlamentarischen Demokratie war das Parlament, es war das Zentrum der Herrschaft, wie sie das B-VG 1920 konstituiert hat, und das ist dann in der Folge schrittweise modifiziert worden. Insbesondere mit der B-VG-Novelle 1929 und dann mit vielen weiteren Entwicklungsschritten.
LUKÁŠ: Da drängt sich mir sofort die Frage auf: Funktionieren die Grundrechte von 1867, haben Sie gesagt, 2023?
PÖSCHL: Ja, die funktionieren noch, und zwar deshalb, weil wir in der zweiten Republik eine ganze Reihe von weiteren Grundrechtsentwicklungen wahrgenommen haben. Ganz wichtig ist, wir haben die europäische Menschenrechtskonvention 1958 ratifiziert, seit 1964 ist sie auch explizit im Verfassungsrang. Das heißt, da ist ein Grundrechtskatalog aus dem 19. Jahrhundert ergänzt worden durch einen Grundrechtskatalog aus dem 20. Jahrhundert. Und da gibt es eine Reihe von weiteren Gesetzen, die Grundrechte normieren und in Zusammenspiel sind diese Grundrechte außerordentlich wirksam. Es ist zwar schwer zu unterrichten, darf ich als Lehrerin sagen, die Studierenden freuen sich nicht, dass es so zersplittert ist. Aber wenn man sich den Grundrechtschutz anschaut, der dadurch vermittelt wird, dann gibt es gerade durch das Zusammenspiel dieser vielen heterogenen Quellen aus unterschiedlichen Schichten – zum Teil völkerrechtlich determiniert, zum Teil national, zum Teil tatsächlich noch aus der Monarchie stammend – in Summe einen ziemlich hohen Grundrechtschutz.
LUKÁŠ: Das heißt, die Verfassung passt sich auch immer wieder den gesellschaftlichen Wandlungen und der Zeit an?
FISCHER: Das ist kein so monokausaler Zusammenhang – die Verfassung passt sich den gesellschaftlichen Veränderungen an –, sondern beide bewegen sich. Das heißt, die gesellschaftliche Veränderung hat auf die Verfassung Einfluss. Kein Zweifel, das hat man ja schon im Jahr 1848 gesehen. Das hat man nach den Niederlagen im Krieg 1866 gesehen, wo dann eine Reformphase 1867 mit den Staatsgrundgesetzen gekommen ist. Das hat sich 1918 ausgewirkt. Das hat sich aber auch bei der Abschaffung der österreichischen Verfassung oder bei der grundlegenden Änderung im Jahr 1934 ausgewirkt. Die gesellschaftlichen Veränderungen haben Einfluss auf die Verfassung. Aber die Verfassung ist wiederum der Rahmen, in dem sich gesellschaftliche Veränderungen abspielen können. Ich glaube, es ist ein ganz gutes Bild, zu sagen, die Verfassung muss flexibel genug sein, um gesellschaftliche Veränderungen nicht unmöglich zu machen. Aber sie muss stark genug sein und fest genug sein, um diesen Prozess in Grenzen oder in einem Rahmen zu halten, der eben nicht verfassungssprengend ist. Sonst geht die Verfassung kaputt, um das ein bisschen banal auszudrücken. Das heißt, sonst kommt es zum Verfassungsbruch, und den wollen wir vermeiden, und den kann eine etwas flexiblere Verfassung besser vermeiden, als eine völlig starre, wo es nur ein Entweder-oder gibt.
LUKÁŠ: Lieber Herr Dr. Fischer! Sie haben ja sogar den Verfassungsarchitekten Kelsen persönlich kennengelernt. Wie war denn das?
FISCHER: Also, wenn Sie sagen „Verfassungsarchitekt”, fällt mir die lustige Geschichte ein, dass er erzählt hat, dass sein Bruder ihm, Hans Kelsen, ein Geburtstagsgeschenk hat machen wollen, und es ist ihm nichts Gescheites eingefallen. Und dann hat er ihm schließlich eine Türtafel geschenkt, und da ist draufgestanden: Professor Hans Kelsen, Verfassungsmacher. Darüber hat er sich sehr gefreut und sehr gelacht. Aber im Ernst, ja, ich habe Professor Kelsen recht gut kennengelernt, weil ich eine Amerikareise Anfang der 60er-Jahre gemacht habe, und da habe ich mir auch einen Besuch bei Professor Kelsen als einen der Programmpunkte gewünscht. Das ist ermöglicht worden, weil der damalige Justizminister Broda mir ein Empfehlungsschreiben für Kelsen gegeben hat. Mit diesem Empfehlungsschreiben bin ich also empfangen worden, und wir haben viel Zeit gehabt, zu reden über Österreich. Er hat sich für vieles interessiert, und ich habe mich auch für manches interessiert, und einige Zeit später ist er dann vom Justizminister nach Österreich eingeladen worden. Das war ein einwöchiger Besuch mit einem schönen Programm, wie er es sich gewünscht hat. Besuch beim Bundespräsidenten, Bundeskanzler, beim Wiener Bürgermeister Jonas und natürlich im Parlamentsgebäude und beim Nationalratspräsident, und da habe ich ihn begleitet. Da war er schon ein älterer Herr, sage ich jetzt, und das war eine für mich natürlich sehr spannende Woche, und wir haben uns dann am Flughafen sehr herzlich verabschiedet. Er hat einen Spaß gemacht, hat gesagt, ich würde Sie auch nach USA mitnehmen als Assistent. Und ich habe gesagt, ich hab hier eine sehr schöne Aufgabe, ich bleibe lieber in Österreich. Und er ist aber dann langsam älter geworden und schwerfälliger, aber er hat mir einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.
LUKÁŠ: Das klingt sehr schön, und Sie haben auch erzählt, eine kleine Brieffreundschaft hat Sie beide verbunden.
FISCHER: Nein, er war kein fleißiger Briefschreiber, aber wir haben uns hier und da geschrieben, und er hat immer sehr kurz geantwortet. Und an was ich mich noch gut erinnern kann, ist, dass ich ihm einmal, ich weiß nicht, ob es Weihnachten war, eine Kiste mit Zigarren geschickt habe. Er hat sich bedankt und besonders hervorgehoben, dass er nicht einmal Zoll zahlen musste. Offenbar habe ich das im Vorhinein irgendwie geregelt, und ich nehme an, er hat die Zigarren mit Vergnügen geraucht.
LUKÁŠ: Sehr schön! Vielen Dank für die kleine Anekdote und den Ausflug zum Verfassungsarchitekten, Verfassungsmacher Kelsen. Wenn man jetzt die österreichische Verfassung zur Diskussion freigibt, da gibt es ja unterschiedlichste Meinungen darüber. Einige Juristen sprechen von Flickwerk, der Verfassungsrechtler Hans R. Klecatsky spricht von einer Ruine. Sie haben bei ihm habilitiert. Wahrscheinlich hat er Ihnen gegenüber das auch mal erwähnt oder über die Ruine Verfassung gesprochen. Alexander Van der Bellen spricht hingegen von Eleganz und Schönheit. Die Wahrheit, schätze ich mal, wird in der Mitte liegen. Frau Pöschl, wie sehen Sie das?
PÖSCHL: Es ist eine Frage des Standpunktes. Also mit dem Begriff Ruine und auch Flickwerk wird versucht einzufangen, dass die österreichische Verfassung sehr zersplittert ist. Ich habe vorhin schon erwähnt, dass es eine Stammurkunde gibt, das B-VG, dass aber rund um diese Stammurkunde herum eine ganze Reihe von weiteren Verfassungsgesetzen, Staatsverträgen im Verfassungsrahmen und auch Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen und in Staatsverträgen existiert. Das heißt, anders als zum Beispiel in Deutschland, wo die Verfassung in einer Urkunde versammelt ist, ist sie bei uns in Österreich verstreut über die ganze Rechtsordnung. Das macht sie aber noch nicht zu einer Ruine, würde ich sagen. Ich finde das Bild, bei allem Respekt für Hans R. Klecatsky, deshalb nicht richtig, weil es suggeriert, die Verfassung sei kurz vorm Einstürzen. Davon kann aber keine Rede sein. Die Funktion, Konflikte friedlich abzuleiten, erfüllt sie ganz ausgezeichnet. Sie ist natürlich unübersichtlich. Sie ist für uns Lehrende manchmal etwas schwer zu unterrichten, sie erschwert dem Rechtsstaat die Übersicht. Es ist auch nicht ganz einfach für die Bürgerinnen und Bürger, sich mit so einer zersplitterten Verfassung zu identifizieren, das ist zugestanden, aber in ihrer Funktionalität ist sie nicht beeinträchtigt. Das Bild von der Ruine stimmt aber vielleicht insofern, als die Verfassung eine Art Ruinenbaumeisterei war in dem Sinn, den ich vorhin beschrieben habe, weil man eben aus den nach der Monarchie herumliegenden Rechtstrümmern das zusammengebaut hat, und zwar in einer sehr kunstvollen und klugen Weise. Deshalb bin ich mit dem Begriff des Flickwerks auch nicht einverstanden, weil das ja suggeriert, dass das nicht fachgerecht gemacht ist. Das kann man vom B-VG in keiner Weise sagen, auch nicht vom vorhin erwähnten Staatsgrundgesetz aus 1867, das ist ein legistisch exzellent gemachter Grundrechtskatalog.
LUKÁŠ: Ich liebe das Wort Ruinenbaumeisterei.
PÖSCHL: Leider nicht von mir, sondern von Clemens Jabloner.
LUKÁŠ: Dieses Wort existiert wirklich? Ich dachte, das war jetzt eine Wortneuschöpfung im Gespräch.
PÖSCHL: Nein, ich würde gerne das Copyright für mich in Anspruch nehmen, kann es aber nicht. Wir Verfassungsjuristinnen und -juristen waren aber, das muss ich jetzt schon dazu sagen, schon überrascht, dass der Herr Bundespräsident die Verfassung schön und elegant genannt hat. Vermutlich hat er nicht den äußeren Zustand gemeint, obwohl Ruinenbaumeisterei, nicht nur das Wort, sondern auch die Sache etwas sehr Ästhetisches sein kann. Sondern die Situation, in der er das gesagt hat, spricht dafür, dass unsere Verfassung sehr umsichtig verschiedenste Konstellationen regelt und dadurch es auch ermöglicht, dass in großen politischen Spannungen ein Weg gezeigt wird, auf dem man wieder aus diesen Spannungen herauskommt und sie friedlich ableiten kann. Und das ist tatsächlich schön und elegant, wenn man nicht ins Chaos und nicht in die Krise gerät.
FISCHER: Ja, ich bin auch ein wirklich überzeugter Anhänger der Österreichischen Bundesverfassung. Ich habe immer, wenn es darum gegangen ist, einen Eid auf die Verfassung abzulegen, das mit Freude und mit innerer Überzeugung getan. Und es ist wahrscheinlich ein Zufall, dass zwei Spitzenpersönlichkeiten so extreme Formulierungen im Bereich Verfassung gewählt haben, obwohl sie vielleicht inhaltlich gar nicht so weit entfernt waren. Denn eines muss man schon sagen: unsere Verfassung ist sehr oft verändert worden. Meistens zum positiven, manchmal ist es nicht so gut geglückt. Eine Verfassung kann ja nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden und man soll mit Änderungen sehr sparsam sein. Die große Koalition, die nach 1945 Jahrzehnte lang bequem über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt hat, war relativ rasch bei der Hand. Wenn ein Problem aufgetaucht ist, hieß es: Naja, dann müssen wir halt die Verfassung ändern. Das ist ein bisschen zu rasch manchmal über die Bühne gegangen. Ich habe nie die Worte gezählt, aber wenn ich den Verfassungstext von 1920 in die Hand nehme, zum Beispiel den Kommentar Kelsens zur Bundesverfassung aus '22 oder '23, einerseits und den heutigen Verfassungstext andererseits, dann bin ich überzeugt, dass der heutige Verfassungstext zu weniger als der Hälfte identisch ist mit dem Verfassungstext von 1920. Das heißt, dass das, was dazugekommen ist, was verändert wurde in diesen 100 Jahren – EU-Beitritt und neue Institutionen, wie Volksanwaltschaft und Zivildienst und Kompetenzverschiebungen, Ergänzungen und Veränderungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Wahlrecht zum Beispiel – alle diese Änderungen in Summe machen fast eine, ich sage nicht neue, aber eine wirklich stark veränderte Verfassung aus. Aber sie ist sehr klug durchdacht und sie hat sich in vielen Situationen, wo man unter Umständen hätte streiten können, als eine klare Richtlinie und als ein vernünftiger Schiedsrichter erwiesen. Und darum bin ich der Meinung, dass die Verfassung das Prädikat verdient: Wir haben eine bewährte Verfassung, wir haben eine Verfassung, die wirklich in ganz Österreich akzeptiert ist, wenn es auch da oder dort Vorschläge zur Änderung gibt. Ob sie elegant ist, das ist so sehr ein subjektiver Begriff, dass ich glaube, Eleganz ist nicht ganz der richtige Maßstab für eine Verfassung, aber ich bin stolz auf unsere Verfassung.
LUKÁŠ: Ich glaube, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen der Verfassung einen unglaublichen...
FISCHER: Er wollte ein Kompliment machen.
LUKÁŠ: Er wollte ein Kompliment machen, und das Volk hat es ja vielfach übernommen. Das hört man ja seitdem immer wieder, weil, das Volk hat von der Verfassung an sich ja wenig Ahnung, denn wer liest die Gesetzestexte? Aber das hallt nach, diese Formulierung, und das Volk ist stolz auf die Verfassung, oder sich dessen bewusster, als es vor dieser Aussage war, ist jetzt mein persönlicher Eindruck, den ich davon habe. Insofern hat er der Verfassung damit einem Gefallen getan, und sei es darum. Da ich jetzt was Persönliches gesagt habe, hätte ich eigentlich gerne eine kurze persönliche Stellungnahme von Ihnen: gibt es einen Lieblingsteil in der Verfassung? Sie beide kennen sich sehr gut aus, offensichtlich, in diesem Schriftwerk. Gibt es eine Stelle, die so ganz besonders beeindruckend, schön, nicht, dass sie Witz hat, aber gibt es irgendwas, was heraussticht und Ihnen persönlich nahe ist?
FISCHER: Also in der Menschenrechtsdeklaration ist es der berühmte Artikel 1 mit: „Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und haben einander in Brüderlichkeit zu begegnen.” In der österreichischen Verfassung ist es auch Artikel 1, dieser Satz: „Österreich ist eine demokratische Republik, ihr Recht geht vom Volk aus”. Meine Lieblingstexte sind natürlich auch um den Artikel 26 herum: das Wahlrecht, das Verhältniswahlrecht, das demokratische Wahlrecht. Und dann habe ich mir natürlich sehr genau angeschaut und schätze sie und und halte sie für unglaublich klug balanciert: Die Bestimmungen über das Amt des Bundespräsidenten, die wirklich ursprünglich wahnsinnig umstritten waren. Die Frage, wie die Aufgabe des Bundespräsidenten geregelt sein soll. Das war ja eine der umstrittensten Themen bei der Beschlussfassung der Verfassung Jahr 1920, ob es überhaupt einen Bundespräsidenten geben soll, was ja 1918 zunächst nicht der Fall war. Ob er Rechte haben soll, von wem er gewählt sein soll, wie sein Verhältnis zum Parlament sein soll. Das war alles umstritten, das ist in einem ganz großen Streit 1929, wo es zum Bürgerkrieg fast gekommen wäre, noch mal diskutiert und glücklicherweise verändert worden, und heute halten wir das alle für eine sehr vernünftige Regelung. Also Artikel 1, 26, Bundespräsident.
LUKÁŠ: Wunderbar, ein sehr persönlicher Konnex. Und bei Ihnen, Frau Professor Pöschl? Was ist Ihr persönlicher Konnex?
PÖSCHL: Ich würde auch Artikel 1 nennen. Erstens, weil es schön formuliert ist. Zweitens würde ich nennen den Artikel 7 B-VG, das ist der Gleichheitssatz, eines der ganz wenigen Grundrechte, die es ins B-VG geschafft haben. Ich würde nennen den Artikel 18, das Legalitätsprinzip: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze ausgeübt werden”. Das halte ich auch für eine Schlüsselbestimmung. Und eine Lieblingsbestimmung von mir ist nämlich auch der Artikel 140 B-VG, also die Gesetzesprüfung durch den VfGH. Und ich bin auch eine Anhängerin des Staatsgrundgesetzes, das mich durch seine Schönheit und durch seine sozusagen legistische Perfektion immer sehr begeistert hat.
FISCHER: Die werden am 21.Dezember 1867, als das Staatsgrundgesetz beschlossen wurde, gar nicht gewusst haben, dass eine Frau Professor Pöschl im Jahr 2023 eine riesige Freude daran hat!
PÖSCHL: Dass ich eine Anhängerin werde! Es ist ein einfach wunderschönes Gesetz, finde ich.
LUKÁŠ: Herrlich! Vielleicht versuchen wir diese Gesetze, diese Paragraphen in unsere Shownotes zum Nachlesen reinzugeben, damit jeder die Schönheit der Formulierungen genießen kann. Die Verfassung ist ja in Zeiten der Krise entstanden. Das ist jetzt schon öfter genannt worden. Bürgerkriegsähnliche Zustände am Horizont auf der einen Seite, diese politische Krise mit dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie, auf der anderen Seite die spanische Grippe. Wir sind alle gerade durch eine Pandemie gegangen und wissen, wie toll es ist, wenn eine Pandemie ein Land fest im Griff hat. Ist das Bundesverfassungsgesetz durch diese Entstehungsumstände besonders krisenfest? Hat das darauf Einfluss genommen?
FISCHER: Ich glaube, es ist krisenfest erst geworden später, insbesondere in der zweiten Republik. Die Verfassung war in der ersten Republik nicht krisenfest. Sie ist 1920 beschlossen worden, und neun Jahre später, im Jahr 1929, war sie schon enorm umstritten. Und da hat es die berühmten Heimwehren gegeben, und ein steirischer Heimwehr-Fanatiker, der Herr Pfrimer, hat sogar versucht, einen Putsch gegen die Verfassung zu machen, im Jahr 1929.
LUKÁŠ: Wie das? Was hat er probiert?
FISCHER: Einen Marsch auf Wien mit Heimwehrsoldaten, er wollte die Macht erobern. Er wollte den westlichen Parteienstaat davonjagen und ein autoritäres Regime einführen. Er hat keine Chance gehabt, das ist nach Stunden oder wenigen Tagen erstickt worden. Aber die Geschichte ist ein Symbol, wie umstritten die Verfassung war und die Sozialdemokraten waren auch nicht glücklich mit der Verfassung in allen Punkten. Die Stellung der Stadt Wien ist in Frage gestellt worden. Und im Jahr '34 ist sie überhaupt entsorgt worden, und im Jahr '45 hat es einen sehr spannenden Moment gegeben. Denn ursprünglich am 27.April '45, als die zweite Republik gegründet und die Verfassung wieder in Kraft gesetzt wurde, hat man ja auf die Verfassung von 1920 zurückgreifen wollen, Karl Renner wollte das zunächst. Und das wäre eine Verfassung mit einer viel schwächeren Stellung des Bundespräsidenten gewesen. Man hat sich dann aber wenige Tage später doch geeinigt, nicht auf die Verfassung 1920, sondern auf die Verfassung 1929 zurückzugreifen und zu sagen, die gilt jetzt für die zweite Republik. Das war eine wichtige und kluge Entscheidung. Die zweite wichtige und kluge Entscheidung damals war, dass zum Beispiel Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg gesagt hat, wir brauchen eine neue Verfassung, und das hat sehr lange gedauert. Das Bonner Grundgesetz ist heftig umstritten gewesen. Die Kommunisten wollten im Jahr 1945 auch in Österreich eine neue Verfassung schaffen, und da haben sich die Sozialdemokraten und die Volkspartei gesagt, wir wollen jetzt nicht in diesen dramatischen Zeiten mit russischer Besatzungsmacht im Land womöglich einen Verfassungsstreit auslösen, weil wir keinen Konsens finden. Wir bleiben bei der Verfassung von 1929. Das war eine Sternstunde, diese Entscheidung und hat viel dazu beigetragen, dass die zweite Republik von Anfang an stabil war und dass die Wahlen, die es in Österreich noch im November 1945 – ich glaube, es war der 25. November – gegeben hat, die ersten freien Wahlen nach '45 in einem Land waren, in dem sowjetische Besatzungssoldaten gestanden sind. Kein Ungarn, kein Polen, kein Tschechien, Tschechoslowakei, kein Rumänien, kein Ostdeutschland hat freie Wahlen gehabt. Und Österreich, obwohl Besatzungsmächte im Land waren und russische Besatzungsmächte im Land waren, hat dennoch schon im Jahr '45 frei wählen können, und dabei ist es bis heute geblieben.
LUKÁŠ: Jetzt stelle ich der Frau Pöschl auch nochmal die Frage: Ist sie besonders durch diese Entstehungszeit, durch die Prägung, besonders widerstandsfähig?
PÖSCHL: Ich stimme allem zu, was gesagt worden ist. Bestimmte Qualitäten, die die Verfassung 1920 hatte, nämlich durch ihre Flexibilität und durch ihren Realismus, die sind schon darauf zurückzuführen, dass sie aus einer Krise entstanden ist, und die haben sich dann ab der zweiten Republik auch bewährt. In der ersten Republik waren die Gräben so tief, und es waren alle Beteiligten überhaupt noch nicht Demokratie gewohnt und geübt. Aber in der zweiten Republik hat sich dann die Flexibilität der Verfassung, die Tatsache, dass sie keine großen Werte beschwört, sondern sich sehr darauf konzentriert, ganz formal den politischen Prozess zu regeln, als Qualität bewährt und die hat auch geholfen, durch gewisse schwierige Situationen zu kommen.
LUKÁŠ: Es gibt ja jetzt immer wieder die Stimmen, die eine direktere Demokratie fordern und mehr Möglichkeiten zur direkten Teilhabe fordern. In Wirklichkeit gibt es ja aber natürlich Instrumente zur direkten Teilhabe. Wollen wir die nur mal ganz kurz für unsere Hörerinnen und Hörer beschreiben, damit die auch wissen, was sie eigentlich tun können, um gehört zu werden?
FISCHER: Ja, es gibt vor allen drei Instrumente der direkten Demokratie, zusätzlich zu allen Wahlrechten und so weiter. Nämlich das Volksbegehren, wo eine Initiative ergriffen werden kann, um einen Akt der Gesetzgebung einzuleiten. Früher war man gezwungen, gleichzeitig einen Gesetzesentwurf vorzulegen. Das ist vor ein paar Jahren geändert worden, dass ein Volksbegehren über einen Gesetzentwurf, aber auch über ein in dem Bereich der Bundesgesetzgebung fallenden initiativen Wunsch durchgeführt werden kann. Das ist das Volksbegehren. Wenn es eine gewisse Anzahl von Unterschriften erzielt, muss sich der Nationalrat damit beschäftigen. Das zweite ist die Volksabstimmung. Über ein Gesetz, das vom Nationalrat beschlossen wird, kann eine Volksabstimmung durchgeführt werde. Und die Volksabstimmung ist zwingend, wenn es sich um ein Baugesetz der Bundesverfassung, also um eine Gesamtänderung der Bundesverfassung handelt, wie das zum Beispiel beim Beitritt zur europäischen Union mit allen damit verbundenen Verfassungsänderungen der Fall war. Die hat auch stattgefunden. Diese Volksabstimmung hat zwei Drittel Ja-Stimmen, ein Drittel Nein-Stimmen gebracht. Und das dritte ist die Volksbefragung, wo man eine Fragestellung, wiederum aus dem Bereich der Bundesgesetzgebung, der Bevölkerung zu einer Ja-Nein-Entscheidung vorlegen kann. Ich erinnere mich, das letzte Mal war das, glaube ich, während der Regierungszeit von Alfred Gusenbauer, wo eine Volksbefragung gemacht wurde, ob man ein Berufsjahr statt der Wehrpflicht einführen soll. Ich habe damals öffentlich gesagt, ich bin gegen das Berufsjahr und für die Beibehaltung der Wehr-Pflicht, und zu meiner Freude war das auch die Meinung der Mehrheit der Abstimmenden. Das sind die drei Formen der direkten Demokratie auf Bundesebene.
LUKÁŠ: Meine letzte Frage bezieht sich auf die Jahre 2003 bis 2005. Da hat ja der Österreich-Konvent getagt, der über Vorschläge für eine grundlegende Staats- und Verfassungsreform beraten hat. Am Ende wurde ein langer Bericht veröffentlicht. Meine Frage jetzt, hat das irgendwelche Veränderungen bewirkt? Wurde irgendetwas Grundlegendes aus diesem Bericht umgesetzt?
PÖSCHL: Durchaus. Als Folge des Konvents gab es eine ganz umfassende Verfassungsbereinigung. Das heißt, es sind zum einen die Bestimmungen in der Verfassung geändert worden, die bis dahin aus gutem Grund immer wieder durchbrochen worden sind durch Verfassungsrecht. Mit der Folge, dass neues Verfassungsrecht für die Zukunft verhindert wird und dass Verfassungsbestimmungen, die auf diesen Grund zurückzuführen waren, heruntergestuft werden konnten auf einfache Gesetze. Außerdem wurde die Verfassung durchforstet und bereinigt, entrümpelt gewissermaßen, und insgesamt sind an die 1000 Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen entfernt worden und auch einige Verfassungsgesetze. Das finde ich keine Kleinigkeit.
LUKÁŠ: Eine große Freude für die Studenten und Lehrenden.
PÖSCHL: Ja, möchte man meinen, aber das waren eben die Dinge, die den Lehrer gar nicht so interessiert haben.
LUKÁŠ: 1000 Dinge weniger.
FISCHER: Mit Entrümpelungen sind die Studenten eher einverstanden, als mit neuen Verfassungsbedingungen!
PÖSCHL: So ist es! Und zum zweiten hat durch den Verfassungskonvent die Einführung der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte einen kräftigen Impuls bekommen, das kam dann später, die Verfassungsbereinigung war 2008. Nicht geschaffen worden ist durch den Konvent eine neue Verfassungsurkunde. Das war ja eigentlich das Ziel oder der Auftrag des Konvents. Aber manchmal wird dann gefragt, ist der Konvent gescheitert? Meine Antwort wäre nein. Erstens, weil diese zwei anderen Reformen ja geglückt sind, und zweitens glaube ich, dass es doch eine wichtige Lehre war für uns alle, dass wir, nachdem wir eineinhalb Jahre lang über eine neue Verfassung diskutieren, nicht zu einem Text kommen, der konsensfähig ist und der der bestehenden Verfassung überlegen wäre. In meiner Wahrnehmung hat das das allgemeine Bewusstsein gestärkt oder überhaupt erst geschaffen, dass die Verfassung, die wir haben, ziemlich klug ist und ziemlich gut ist und dass sie im Großen und Ganzen ein sehr gutes Fundament ist für den Staat Österreich. Das Gerede von der Ruine habe ich nach dem Konvent nicht mehr gehört.
LUKÁŠ: Höre ich da raus, dass sie Teil des Konvents waren?
PÖSCHL: Nein!
LUKÁŠ: Aber Sie waren Teil des Konvents?
FISCHER: Ich war sogar stellvertretender Vorsitzender des Konvents. Der Vorsitzende war der Rechnungshofpräsident Fiedler und ich war sein Stellvertreter. Ich glaube auch, dass der Konvent nicht nur einige Kurzzeitwirkungen, sondern doch beachtliche Langzeitwirkungen gehabt hat, also dass auch manches, was so innerhalb der nächsten zehn Jahre gemacht wurde noch durch den Konvent einen Impuls bekommen hat. Ein bisschen vergleichbar mit der Grundrechtskommission, die Bundeskanzler Klaus in den frühen 60er-Jahren eingesetzt hat. Da hat er auch eine Grundrechtskommission eingesetzt zur Überarbeitung oder zur Erarbeitung eines neuen Grundrechtskataloges. Das ist nicht geglückt, aber eine Reihe von Einzelentscheidungen im Grundrechtsbereich sind da auch angestoßen worden durch diese Grundrechtskommission, die damals unter dem Vorsitz des berühmten Sektionschefs Loebenstein, Chef des Verfassungsdienstes und dann Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, gestanden ist.
LUKÁŠ: Wunderbar! Bevor ich jetzt zur Abmoderation dieser sehr interessanten Folge komme, stehen noch drei persönliche Fragen an jeden von Ihnen, die wirklich sehr kurz beantwortet werden können. Aber ich beginne höflichkeitshalber trotzdem mit der Frau Professor Pöschl, die die erste Frage zu beantworten hat: Frühling oder Herbst?
PÖSCHL: Frühling.
LUKÁŠ: Weil?
PÖSCHL: Frühling, weil es hell wird und weil es warm wird, und vielleicht auch, weil ich im Frühling geboren bin. Meine These ist, man hat eine Präferenz für die Jahreszeit, in der man geboren ist, das könnte eine Rolle spielen.
LUKÁŠ: Das glaube ich auch. Und Sie, Herr Dr. Fischer?
FISCHER: Auch Frühling, weil, wenn man vom Frühling auf den Sommer zugeht, was mir gefällt, während man vom Herbst auf den Wind zugeht, was mir weniger gefällt und die Tage länger werden und nicht kürzer.
LUKÁŠ: Ja, das gefällt nur den Tirolern und Salzburgern, weil dort scheint dann ja jeden Tag die Sonne und der Schnee glitzert. Hier in Wien haben wir einen anderen Leidensdruck vom Wetter.
PÖSCHL: Dann müssen wir uns auf den Sommer freuen.
LUKÁŠ: Da müssen wir uns auf den Sommer freuen, stimmt. Die zweite Frage: Kompromiss oder beste Lösung?
PÖSCHL: Eine Neigung zur besten Lösung, aber...
FISCHER: Ich bin vorlaut und sage, die beste Lösung ist der Kompromiss.
LUKÁŠ: Sehr gut! Nehmen wir.
PÖSCHL: Nehmen wir, bin ich einverstanden.
LUKÁŠ: Und, jetzt aber nicht vorlaut sein, wo fängt Demokratie an?
PÖSCHL: Im Grunde in der Kommunikation und im Verhalten anderen gegenüber. Also in Empathie, im Zuhören, in der Bereitschaft, nicht ständig die beste Lösung zu wollen, sondern Kompromisse zu schließen. Ich würde wirklich sagen, im Alltag.
PÖSCHL: Gute Antwort! Und Sie?
FISCHER: Also, ich beantworte es formell: Demokratie fängt dort an, wo man nach Regeln lebt, an deren Zustandekommen alle mitwirken können.
LUKÁŠ: Auch eine schöne Antwort. Vielen Dank fürs dabei sein, und das war es jetzt auch schon wieder mit dieser Folge. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen. Danke, Frau Professor Pöschl, und auch bei Ihnen, Herr Dr. Fischer. Wenn euch diese Folge gefallen hat, dann haben wir natürlich nichts dagegen, wenn ihr diesen Podcast weiterempfehlt oder abonniert. Das geht überall, wo es Podcasts gibt. Ob auf Spotify, Apple Podcast, Deezer oder Amazon Music. Einfach abonnieren und dann verpasst ihr garantiert keine Folge mehr. Das kann ich euch nur empfehlen, denn in den kommenden Episoden geht es um so wichtige Themen wie Gewaltenteilung, die Wahlen und die Frage, wie eine Demokratie von innen heraus bedroht werden kann. Es wird also spannend, und ich freue mich schon sehr darauf. Jede Menge Informationen und Angebote rund um das österreichische Parlament und zu unserer Demokratie findet ihr auf unserer Website www.parlament.gv.at und den Social-Media-Kanälen des Parlaments. Falls ihr Fragen, Kritik oder Anregungen zum Podcast habt, dann schreibt uns gerne eine E-Mail an podcast@parlament.gv.at. Ich würde mich freuen, euch in der nächsten Folge wieder mit dabei zu haben. In diesem Sinne sage ich vielen Dank fürs Zuhören. Mein Name ist Tatjana Lukáš. Wir hören uns.
Jingle: „Rund ums Parlament“. Der Podcast des österreichischen Parlaments.