Wahlen? Wahlen! – Wir bestimmen mit, Teil 2
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Wahlen sind für unsere Demokratie elementar. Wir können damit aktiv mitbestimmen, wie unser gesellschaftliches Zusammenleben sein soll. Und wer schon einmal wählen war, weiß: Es ist auch ein soziales Event. Ob der soziale Charakter von Wahlen in Zeiten von Briefwahl und Co. verloren geht, wie Wahlen im Einzelnen funktionieren, und wie Parteien eigentlich entscheiden, wen wir wählen können – das alles findet Tatjana Lukáš in zwei neuen Folgen von „Rund ums Parlament“ heraus. Rede und Antwort stehen ihr diesmal Christoph Konrath, Leiter der Abteilung für parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit in der Parlamentsdirektion, und Marcelo Jenny, Politikwissenschaftler von der Universität Innsbruck.
Teil 1 dieser Episode ist am 24. Mai 2023 erschienen. Wenn ihr diesen Teil noch nicht gehört habt, startet am besten damit: Folge 16 anhören
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Transkript
Jingle: „Rund ums Parlament”. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von rund ums Parlament, dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name ist Tatjana Lukáš und ich freue mich sehr, dass ihr wieder dabei seid. Meine neuen Gäste sind meine alten Gäste: Marcelo Jenny und Christoph Konrath. Wir haben schon in der letzten Folge miteinander über das Thema Nationalratswahlen in Österreich gesprochen, und dieses Gespräch wollen wir fortsetzen. Marcelo Jenny, Sie sind, noch einmal, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck und Forschung zu Themen wie Wahlverhalten, Wahlkampf, Parlamentarismus und politische Kommunikation. Christoph Konrath, Sie sind Teil der Parlamentsdirektion und dort verantwortlich für parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit. Was das genau ist, haben Sie uns ja bereits in der vorangegangenen Folge erklärt, aber jetzt soll es um Wahlen im Kontext vom Parlamentarismus gehen. Dazu haben wir uns neben dem Plenarsaal des Nationalrats zusammengefunden, genauer in einen Nebenraum. Wir sind jetzt also in einem sogenannten Sprechzimmer mit wunderschönem altem Mobiliar aus den 50er-Jahren, Ledersesseln, Glastischen und für die 50er-Jahre typische Wandvertäfelungen. Herzlich willkommen in dieser neuen Räumlichkeit, um weiter über unser großes Thema Wahlen zu sprechen. Wir wollen jetzt darüber reden, wie sich diese abstrakte Stimmabgabe in etwas Reales verwandelt. Das geschieht zum Beispiel in dem Moment, wo die gewählten Personen ins Parlament kommen, um hier aktiv Politik zu machen. Repräsentieren diese Volksvertreterinnen und -vertreter denn tatsächlich das Volk? Also nach Alter, Geschlecht, Berufsgruppen, Herr Jenny?
Marcelo JENNY: Ja, allerdings nicht perfekt in den relativen Stärkeanteilen in der Gesellschaft, sondern es werden immer bestimmte Merkmale im Parlament überrepräsentiert sein gegenüber ihrem Anteil in der Gesellschaft. Es ist typischerweise so, dass das Alter der Abgeordneten ein bisschen höher ist, dass vor allem der Bildungsgrad höher ist, dass sie vielleicht auch vom Einkommen her höher liegen, schon vorher. Damit ist nicht das Einkommen, das sie dann im Amt haben, gemeint, sondern schon vorher vom soziodemografischen Hintergrund. Und dann natürlich Geschlecht: Im Parlament sind typischerweise mehr Männer als ihr Anteil in der Gesellschaft ist.
LUKÁŠ: Warum ist das so, dass mehr Männer im Parlament sind als Frauen?
JENNY: Hat mit ihrem Anteil auf den Kandidierendenlisten zu tun. Mittlerweile haben manche Parteien schon das Prinzip, dass sie einen 50-Prozent-Anteil haben möchten auf den Listen, dass sie vielleicht sogar sowas wie ein Reißverschlussprinzip haben, dass sie abwechselnd Männer und Frauen haben. Aber das hängt von der Partei ab. Die Parteien sind völlig frei darin, wie wichtig ihnen dieses Merkmal ist, und sogar dann macht es immer noch sehr viel aus: Wo sind sie an der Spitze dieser Listen? Weil man, je nach voraussichtlichem Wahlergebnis, abschätzen kann, wo eine Partei möglicherweise ein sicheres Mandat bekommen wird, und wo die Kampfmandate sind, die man erreichen kann, wenn es gut geht und die man nicht erreicht, wenn es nicht so gut geht? Und da sieht man dann immer noch, dass tendenziell Männer einen höheren Anteil an den sicheren Mandaten haben und Frauen einen geringeren Anteil. Aber das sind die innerparteilichen Entscheidungen, wie sie es damit halten.
LUKÁŠ: Wenn wir uns den jetzt bestehenden Nationalrat anschauen, wie ist da das Männer-Frauen-Verhältnis?
Christoph KONRATH: Wir sind jetzt aktuell ganz knapp unter 40 Prozent, weil es sich immer wieder verändert, weil Abgeordnete aufhören, andere rücken nach. Aber so in den letzten Jahren ist man auf die 40 Prozent hingekommen und relativ stabil dort. Das ist, wenn man den europäischen Vergleich anschaut, relativ oberes Mittelfeld, und da hat sich auch sehr, sehr viel getan in den letzten 30, 35 Jahren in Österreich. Es gibt ja dieses berühmte Foto aus dem deutschen Bundestag, das dann die Frauenministerin Donahl auch immer prominent hatte: Jeder zweite Abgeordnete ist eine Frau und es sind nur Männer zu sehen. Wenn sie sich alte Fotos vom Nationalrat anschauen, dann sind es auch in erster Linie Männer, die darauf zu sehen sind. Also da hat sich sehr viel getan, auch zum Beispiel was Sachen betrifft wie Alter. Der Nationalrat hat tendenziell, auch wenn der Altersdurchschnitt höher ist, mehr jüngere Abgeordnete als früher. Es gibt mehr Abgeordnete, die Migrationshintergrund haben. Es gibt jetzt ganz neu sogar Abgeordnete aus vier Parteien, die eine LGBTQ-Gruppe gegründet haben. Das wäre, denke ich, vor fünf, zehn Jahren noch völlig undenkbar gewesen im Nationalrat. Da tut sich doch einiges. Wenn man sich überlegt, dass es noch sehr viele Parlamente auch in Westeuropa gibt, deren Frauenanteil knapp über 20 Prozent ist, zum Beispiel Irland, dann ist Österreich jetzt nicht so schlecht von diesen Zahlen her.
LUKÁŠ: Wenn ich mir jetzt vorstelle, im Namen unserer Hörerinnen und Hörer, deren Stellvertreterin ich ja jetzt irgendwie bin mit meinen Fragen, und ich bin gewählt, und dann komme ich in den Nationalrat: Dann stehe ich da und sehe zwar Parteikolleginnen und -kollegen. Aber was mache ich dann? Suche ich mir dann einfach einen Platz aus, setze ich mich irgendwo hin? Wohin gehöre ich? Was sind meine ersten Aufgaben? Bekomme ich irgendwelche Unterlagen? Was passiert da in diesen ersten Stunden und Tagen?
KONRATH: Es passiert schon vorher ziemlich viel, weil die Sitzordnung ist eine Sache, die zwischen den Parteien und in den Parteien eine ziemlich umstrittene Sache ist. Wie viele Plätze gibt es in der ersten Reihe, und wie verteilt man dann die Plätze in den Rängen innerhalb der Partei? Wie das genau ausgehandelt wird, das wissen wir nicht. Es ist nicht so einfach wie im norwegischen Parlament, wo einfach alle alphabetisch sitzen.
LUKÁŠ: Im norwegischen ist das so?
KONRATH: Ja. Und hier wird einfach genau geschaut zwischen den Klubs, wer welche Plätze bekommt. Für die Zuteilung der Mandate gibt es mathematische Verfahren, die nach der Wahl stattfinden, und ähnliche Verfahren werden dann angewandt, um die Sitze in den einzelnen Rängen zu verteilen.
LUKÁŠ: Mathematische Verfahren werden angewandt, um die Sitze in den Rängen zu verteilen? Wirklich? Das finde ich einen guten Funfact über den Nationalrat.
KONRATH: Es ist eigentlich so, dass es an den Klubs und den Parteien liegt, ihre Mitglieder einzuführen und zu sagen, was passiert hier, wie wird das gemacht. Seit etlichen Jahren gibt's aber von der Parlamentsdirektion am Beginn einer Gesetzgebungsperiode und immer dann, wenn im Bundesrat sich nach Landtagswahlen die Zusammensetzung ändert, ein sogenanntes Servicecenter, wo Abgeordnete dann eine Anlaufstelle für all die Formalitäten haben, die man am Anfang braucht. Angefangen von den Bezügen, Mitarbeiter, Arbeitsplatz, ein Notebook oder Tablet und so weiter und so fort. Also da gibt es recht viel zu tun, und dafür gibt es einen Servicecenter, und da kann man auch dann zum Beispiel weitere Fragen stellen. Es wird dann auch angeboten, dass man das Gebäude kennenlernt, dass man gesagt bekommt, wie kann ich eine Führung organisieren, wie kann ich selbst hier durchführen und so weiter. Also da wird sehr viel versucht.
LUKÁŠ: Es erinnert mich ein bisschen an die Einführungstage an der Universität. Da gab es auch das Servicecenter, und das hat einmal das ganze Gebäude gezeigt und was man ausfüllen muss mit den Bezügen. Es klingt ganz ähnlich. Jetzt ist öfter schon das Wort Klub gefallen, und da stellt sich doch noch mal die Frage, das zu erklären. Ein Klub ist ja nicht die Partei, die ich gewählt habe. Was ist ein Klub und wozu dient ein Klub?
KONRATH: Klub ist ein sehr österreichischer Ausdruck. In Deutschland spricht man von der Fraktion, international von Party Groups oder Parliamentary Party Groups, wo dann auch vielleicht der Bezug zur Partei viel stärker da ist, als in Österreich. Aber im Endeffekt ist es so, dass der Klub die Partei im Parlament ist. Das heißt, alle Abgeordneten, die auf einer Parteiliste gewählt wurden, auf derselben, schließen sich in der Regel zu einem Klub zusammen. Dafür haben sie 30 Tage Zeit, und es gibt organisatorisch, inhaltlich und so weiter eine sehr enge Verbindung zwischen den Klubs und auch den politischen Parteien in Österreich.
LUKÁŠ: Also, ich kann zwar für die Partei gewählt worden sein, aber dann zum Beispiel innerhalb der 30 Tage sagen, dem Klub schließe ich mich nicht an, ist das eine Möglichkeit?
KONRATH: Na ja, jeder und jede Abgeordnete, das macht es ein bisschen kompliziert, hat ein freies Mandat. Das heißt, sie kann nicht an einen Auftrag gebunden werden, dass zum Beispiel eine Wählergruppe sagt, hier stimmst du so ab, und niemand kann ihr eigentlich Vorschriften machen, wie sie in einer Sitzung redet, wie sie hier abstimmt und so weiter. Gleichzeitig ist gerade der Nationalrat ein Parlament, das sehr stark auf Parteigruppen ausgerichtet ist. Das heißt, auch die Verfahrensregeln stellen darauf ab, dass jemand Mitglied in einem Klub ist. Die ganze Koordinierung und Organisation knüpft an den Klub an, und der oder die einzelne Abgeordnete kann alleine relativ wenig machen. Jetzt ist es aber so, das kommt dann immer wieder mal vor, dass ein Abgeordneter und der Klub, in dem er oder sie drinnen ist, nicht mehr zusammenkommen, dass man sich zerstreitet, dass man die politische Linie nicht mehr mitträgt. Dann kann man auf jeden Fall aus dem Klub austreten oder ausgeschlossen werden oder kann sich dann auch einem anderen Klub anschließen, wenn der bereit ist, einen aufzunehmen.
LUKÁŠ: Einem anderen Klub aus einer anderen Partei? Obwohl man zum Beispiel, ich sage mal, man ist für die SPÖ gewählt worden, könnte man sich dann dem Grünen Klub anschließend?
KONRATH: Ja.
LUKÁŠ: Wirklich? Und passiert das?
KONRATH: In den 1990er-Jahren sind recht viele Abgeordnete aus dem FPÖ-Klub ausgetreten und haben das liberale Forum gegründet. Dann gab es zwischen 2011 und 2013 relativ viele Austritte. Und es hat sich auch noch einmal ein Klub gegründet, das hieß das Team Stronach. Man hat das aber dann soweit geändert, dass man einen Klub nur zu Beginn einer Gesetzgebungsperiode gründen kann, aber nicht während einer Gesetzgebungsperiode. Aber sie können nach wie vor während einer Gesetzgebungsperiode zu einem anderen Klub gehen. Das Team Stronach hatte dann auch Auflösungserscheinungen, und da gingen zum Beispiel Abgeordnete zum ÖVP-Klub.
JENNY: Alles in allem ist der österreichische Parlamentarismus auf Bundesebene genauso wie auf Landesebene einfach sehr stark in der Form eines Gruppenparlamentarismus. Es ist nicht der einzelne, die einzelne Abgeordnete im Vordergrund in ihrer Tätigkeit im Parlament, sondern die Gruppe, der man als Abgeordneter angehört, die eben auch gedacht ist von der Art und Weise, wie Wahlkampf geführt wurde. Dass es dominant eine Parteiwahl war, dass es eine Gruppe von Gleichgesinnten ist, die versucht, ihre Anliegen umzusetzen, und nicht eine Ansammlung von Einzelkämpfern und Einzelkämpferinnen im Parlament, die jeweils jene Dinge, die ihnen ganz persönlich wichtig sind oder ihren persönlichen Wählern ganz besonders wichtig sind, versuchen, durchzubringen. Manchmal gibt es natürlich die normative Vorstellung, dass es so sein sollte. Es gibt immer wieder mediale oder auch Kritik aus der Gesellschaft, dass die Gruppenbildung und der Gruppenzusammenhalt zu stark sei. Aber andererseits glaube ich, es ist vollkommen logisch, was da passiert. Man versucht parlamentarische Erfolge zu erzielen, und dazu brauche ich Mehrheiten. In der Gruppe ist es immer leichter, als wenn man das alleine versucht. Daher wird es auch zu einer Gruppenbildung kommt.
KONRATH: Das führt uns ja auch zurück zum Wählen. Das Interessante ist, dass, wenn im Nationalrat abgestimmt wird, dann wird nicht das Stimmverhalten der einzelnen Abgeordneten dokumentiert in der Regel, sondern das Stimmverhalten der Klubs.
LUKÁŠ: Außer es stimmt jemand im Klub gegen den Klub.
KONRATH: Nein, dann würde dort nur stehen zum Beispiel: „Teilweise SPÖ”. Ich wüsste jetzt, wenn es nicht eine namentliche Abstimmung ist, wo genau erfasst wird, wer wie gestimmt hat, nicht, wer anders gestimmt hat. Und in einem Parlament, das nach Mehrheitswahlrecht oder mit Elementen des Mehrheitswahlrechts gewählt wird, ist es oft viel wichtiger das Stimmverhalten eines jeden einzelnen Abgeordneten, einer jeder einzelnen Abgeordneten zu dokumentieren. Also im englischen Parlament ist sehr häufig das genaue Stimmverhalten dokumentiert, aber auch zum Beispiel in der Schweiz. Es gibt auch in Deutschland viele Abstimmungen, das heißt, dann können sie, wenn sie wählen gehen, sich auch anschauen, wie hat sich denn der Abgeordnete oder die Abgeordnete, die ich wählen möchte, bei bestimmten Abstimmungen verhalten? Das ist in Österreich praktisch nicht möglich.
LUKÁŠ: Schade eigentlich, weil im Sinne der Transparenz wäre das eigentlich sehr spannend. Nach einer Nationalratswahl, wenn die Karten wieder neu gemischt sind, kommt ja meistens nur ein Drittel neuer Abgeordneter ins Parlament, und zwei Drittel bleiben wiedergewählt im Schnitt. Was bedeutet das für die Arbeit des Nationalrates?
JENNY: Dass wir eine Mischung haben aus erfahrenen Parlamentarier:innen, die eben vielleicht schon zwei, drei, vier Perioden drin sind, dann jene, die in die zweite Periode gekommen sind und schon eine Periode hinter sich haben und sehr viel gelernt haben. Und dann haben wir die Kohorte der Neulinge, die sehr vieles an Abläufen erst lernen müssen, und da hängt dann sehr viel davon ab: Was ist ihre politische Vorerfahrung, die ja auch sehr breit gestreut sein kann? Da gibt es welche, die kommen aus der Landespolitik, aus der Gemeindepolitik, haben solche Körperschaften und die Abläufe und die Regeln, die es dazu gibt, schon kennengelernt und internalisiert. Und es gibt andere, die sind erst relativ frisch in der Politik und lernen sehr viele dieser Vorgänge erst kennen. Das ist genauso, wie es bei Ministern ist, wenn sie in eine exekutive Funktion kommen. Man braucht schon eine gewisse Zeit lang, um in diese Abläufe reinzukommen. Dass Abgeordnete von sich sagen: „Die erste Periode habe ich gebraucht, um kennenzulernen, wie der Laden läuft. So richtig effizient bin ich erst in meiner zweiten und meiner dritten Periode geworden, als ich wusste: wenn ich das will von einer anderen Fraktion, dann mache ich das auf diese Art und Weise besser, als wenn ich es so mache.” Man wird besser im Suchen nach parlamentarischen Mehrheiten, je länger man drin ist. Natürlich gibt es dann immer jene Argumente, die sagen, aber man braucht Auffrischung, man braucht neue Ideen, man braucht den politischen Nachwuchs. Die sich also dagegenstemmen, dass man dieser politischen Erfahrung einen zu hohen Stellenwert gibt. Ich würde sagen, man unterschätzt allgemein in der Wahrnehmung, wie sehr der Turnover im österreichischen Nationalrat ist. Der ist nicht niedrig im internationalen Vergleich.
LUKÁŠ: Was meinen sie mit Turnover?
JENNY: Der Wechsel von Periode zu Periode. Wir hatten vorhin die Merkmale, wonach sich die Abgeordneten von der Gesellschaft unterscheiden. Worauf ich immer auch noch gerne hinweisen würde, ist, wir hatten früher mal auch alte Abgeordnete im Nationalrat, und diese Gruppe ist fast völlig verschwunden. Irgendwo hat sich das Dienstalter der Abgeordneten dem Pensionsalter in der Gesellschaft angenähert. Wenn ich 65 bin, dann habe ich es innerparteilich extrem schwer, dass ich nochmal durchkomme mit meiner Vorstellung, „ich will aber weiter dienen”. Da drängt der Nachwuchs, da sagen die Regeln „Nein, Schluss aus! Die politische Karriere ist zu Ende, jetzt kommt die politische Pension”, was ich durchaus auch spannend finde, weil unsere Gesellschaft wird älter. Gleichzeitig haben wir aber für dieses Segment nicht die politische Entsprechung in unserem Parlament.
LUKÁŠ: Ganz junge Menschen fehlen eigentlich und ganz alte Menschen fehlen, es gibt nur die Mitte.
KONRATH: Also wir haben doch jetzt relativ viele zwischen 20 und 30 im Vergleich zu früher. Der älteste Abgeordnete ist 70.
LUKÁŠ: Da ist der amerikanische Präsident zum Beispiel älter.
JENNY: Ja, ich glaube, wir wollen nicht ins extrem des US-Kongress kommen, wo wir auch schon Hundertjährige hatten. Wo das Phänomen, dass Abgeordnete im Amt verstorben sind, durchaus geläufig war. Aber ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir gerne darauf schauen und gerne das Argument machen, dass die Jungen stärker vertreten sein sollten, dass wir bei den Frauen das Argument machen „Sollte dem Anteil in der Gesellschaft entsprechen”. Gut, das Argument kann ich für die gesamte Altersstruktur analog machen.
LUKÁŠ: Interessantes Detail. Ich würde jetzt zum Abschluss gerne noch ganz kurz auf ein paar aktuelle Tendenzen blicken. Zum Beispiel ist es ja so, dass in den europäischen Staaten über die vergangenen Jahrzehnte eine Abnahme der Wahlbeteiligung zu beobachten ist. Auch in Österreich ist der Wert bei der letzten Nationalratswahl auf den zweitniedrigsten in der gesamten zweiten Republik gefallen. Woher kommt das und was bedeutet das für eine Demokratie, wenn immer weniger Menschen an dem Wahlen teilnehmen?
JENNY: Man wünscht es sich nicht, man möchte eine möglichst hohe allgemeine Beteiligung, weil Wahlen der wichtigste Vorgang in einer Demokratie sind, dass alle am politischen Geschehen teilhaben können. Von daher sieht man es nicht gern. Wie sehr es ein Problem ist, da gibt es sehr weit variierende Interpretationen. Die einen sagen – sozusagen die Kriseninterpretation – sinkende Wahlbeteiligung ist auf jeden Fall ein Warnsignal. Es gibt die wohlwollendere Interpretation: Naja, es ist nur so was wie ein Trittbrettfahrer-Phänomen. Die Dinge laufen gut, und wenn sich ein gewisser Teil beteiligt, dann darf ich mich zurücklehnen und muss nichts machen und es läuft immer noch gut. Und das andere, das dritte, worauf ich hinweisen will: Jedes Land, jedes politische System macht diese Interpretation immer vor dem Hintergrund der eigenen bisherigen Entwicklung. Gleichzeitig sind die nationalen Niveaus aber sehr unterschiedlich. Wir machen die Kriseninterpretation bei 75 Prozent, zweitniedrigster Wert. Gut, gehen wir in der Schweiz, da sind wir bei 40 Prozent. Völlig anderes System, starke direkte Demokratie, sehr viele häufige direktdemokratische Abstimmungen, die dazu führen, dass sehr viele sich zurücklehnen und sagen, ich darf jetzt mal Pause machen, und beim nächsten Mal bin ich vielleicht wieder dabei. Wir haben Belgien mit über 80 Prozent, wo der Staat eben nachhilft mit der Wahlpflicht. Wenn wir es allgemein als gravierendes Problem empfinden würden: Okay, es gäbe Mittel, um vielleicht leicht nachzuhelfen. Aber das würde wahrscheinlich dann wieder in der Wahrnehmung sein, nein, die Freiheit, die wir als Bürger haben, ist auch die Freiheit nicht wählen zu gehen.
LUKÁŠ: Also alles eine große Sache der Interpretation, und wie dann wirklich die Auswirkungen sein werden, kann nur die Geschichte zeigen?
JENNY: Ich sage es jetzt für mich persönlich: Ich halte es noch nicht für ein Krisensignal, wenn wir jetzt beim nächsten Mal bei 73 oder bei 70 Prozent landen würden. Im internationalen Vergleich ist das immer noch eine respektable Beteiligung.
LUKÁŠ: Und jetzt meine letzte Frage, die würde ich an den Herrn Konrath richten, und zwar betrifft die das Thema Wahlgeheimnis. Es kommt jetzt immer wieder vor – wir haben vorhin schon kurz die Digitalisierung gestreift –, dass Wählerinnen und Wähler ihren Stimmzettel in der Wahlkabine abfotografieren, auf Social-Media posten. Ist das in Ordnung oder ist das eine Gefahr für die demokratische Wahl mit der Möglichkeit des Stimmkaufs im Hintergrund?
KONRATH: Man kann es jetzt einmal ganz einfach beantworten und sagen, es ist nicht verboten. Es hat sich der Verfassungsgerichtshof schon in den 60er-Jahren damit auseinandergesetzt, dass Menschen gesagt haben, ich habe so und so gewählt. So, wie wir ein Wahlgeheimnis haben, gibt es aber auch die Meinungsfreiheit bei uns, die sagt, ich kann auch meine politische Meinung äußern. Ich kann genauso sagen, wie ich und was ich gewählt habe. Das war auch bei den Bundespräsidentenwahlen 2016 ein Thema, die wiederholt werden mussten. Da gab es ja ein Thema, dass schon während die Wahl noch im Gange war, in Medien berichtet wurde, wie die Stimmenverteilung sein könnte. Man hat dann gesagt, das ist etwas, was beeinflusst, weil da könnte jetzt jemand denken: „Ich gehe nicht wählen, weil es wird schon werden”. Oder es könnte jemand denken: „Ich gehe vielleicht trotzdem, und der andere hat dann keine Chance mehr.” Da würde man die Wahl beeinflussen, hat man überlegt. Beim Fotografieren, das es auch schon 2016 gegeben hat, hat man kein Problem gesehen. Es ist, denke ich, auch noch in einem Rahmen gewesen, der sehr niedrig ist und wo man auch noch nicht diese Dynamik, die vielleicht auf Social-Media passieren kann, im Blick gehabt hat. Und ich denke, dass man da aufpassen muss, wie sich das weiterentwickelt und ob das zum Beispiel zu einem Phänomen wird, das dann bei einer Wahl sehr stark ist. Da könnte man dann schon fragen: Wer kontrolliert einander? Aber es ist bislang in Österreich noch nicht als Problem gesehen worden. In Deutschland ist es anders, da ist es aber mehr oder weniger verboten, das zu tun. Es war bei Wahlen in Italien schon ein ganz großes Thema, dass man die Stimmzettel fotografiert hat, und ich glaube, da kommt es auch darauf an, sich wirklich genau auseinanderzusetzen damit, wie beeinflussen solche Fotos Wahlen? Die schwierigere Frage ist vielleicht auch noch, wie beeinflusst das, dass jemand dahinter versucht, am Wahltag Stimmung zu machen. Da sind wir dann bei der schwierigen Frage. Wenn der Verfassungsgerichtshof sagt, Medien dürfen nicht darüber berichten vor Wahlschluss. Dann könnte auch keine Hochrechnungen machen, bevor nicht 17 Uhr ist. Aber was ist dann, wenn es so konzertierte Aktionen gibt und man plötzlich das Netz schon zum Mittag flutet und sagt, wir haben hier ganz viele Fotos von Leuten, die ihren Stimmzettel fotografiert haben?
LUKÁŠ: Gab es das schon oder sind wir im Reich der Theorie?
KONRATH: Das ist jetzt theoretisch, aber ich würde das als zukünftige Entwicklung nicht ausschließen. Ich denke, das ist etwas, worüber diskutiert werden wird. Ab wann sollen Medienunternehmen, ab wann soll das Fernsehen eine Hochrechnung veröffentlichen dürfen, ob es da unter Umständen nicht auch andere Regeln brauchen wird? Aber im Moment ist es noch keine Diskussion.
LUKÁŠ: Wahrscheinlich, weil, wie so oft, wer soll es kontrollieren? Die sozialen Medien, ob da jemand ein Wahlfoto veröffentlicht? Also das ist ja eine extreme Mammutaufgabe am Wahlsonntag.
KONRATH: Die andere Herausforderung dabei wäre dann, ob man sowas dann zum Beispiel unter Strafe stellt, was auch einzelne Staaten tun.
LUKÁŠ: Aber darüber wurde in Österreich noch nicht nachgedacht.
KONRATH: Nein.
JENNY: Ich glaube auch, man muss da aufpassen, weil, wenn man auf die Idee kommt, da wirklich sehr rigoros dagegen vorzugehen, dann ist das gleichzeitig ein Einfallstor für Obstruktion. Dann weiß ich eine sichere Methode, wie ich Wahlen blockieren kann, indem ich genau das mache. Also wenn ich jetzt eher extremistisch unterwegs bin, dann zeigt mir genau das den Weg. Wenn sozusagen dann sofort die Wahlanfechtungen daherkommen, weil das passiert ist. Auf irgendeine Art und Weise schaffe ich es über Social-Media immer, so etwas zu machen. Wenn das dann zu einem Prozess führt, dass die Wahl insgesamt delegitimiert wird, wäre es kontraproduktiv.
KONRATH: Das führt ja auch noch darauf zurück, dass Wählen relativ aufwendig ist, im Sinne von: Was braucht es alles rundherum, wem ermöglichen wir es, zur Wahl zu gehen, wie genau wird alles gemacht, um die Stimmen auszuzählen? Und da wird von den Gesetzen in Österreich her sehr viel verlangt, das die Integrität einer Wahl sicherstellt, und zwar schon sehr lange. Von Beginn des demokratischen Österreichs wurde ganz viel Wert darauf gelegt, wie Wahlen organisiert werden. Einfach auch, weil man die schlechten Erfahrungen aus der Monarchie hatte, und weil man das Anliegen gehabt hat, Wahlen möglichst demokratisch zu organisieren. Nicht nur zugänglich für alle, sondern auch in der Abwicklung demokratisch zu organisieren. Da gibt's eigentlich die ganz großen Herausforderungen, nämlich ob man für jede Wahl noch genügend Menschen zusammenbringt, die diesen Wahlprozess in Wahlkommissionen und Wahlbehörden begleiten und leiten können. Das hat man ja schon in den letzten Jahren gesehen. Das ist eine große Herausforderung, und da gibt es oft gar nicht so viele Debatten darüber. Wir haben unser Gespräch im Innenministerium begonnen, und es ist vielleicht so diese Vorstellung bei vielen Menschen da: Es gibt das Ministerium, das dafür zuständig ist, und die werden schon schauen, dass das alles passt. Aber in den Gemeinden, in den Bezirken, in den Bundesländern, da sind überall auch Vertreterinnen und Vertreter der politischen Parteien drinnen, die dafür die Verantwortung tragen, dass die Wahl korrekt und integer durchgeführt wird. Da sind hunderte Menschen an einem Wahltag in Österreich damit befasst. Das heißt aber auch, Sie müssen für jede Wahl Hundertschaften an Menschen zur Verfügung haben, die das machen und die damit auch sicherstellen und gegenseitig kontrollieren, dass alles korrekt durchgeführt wird.
LUKÁŠ: Womit wir eigentlich einen schönen Bogen haben zu unserem Beginn im Innenministerium. Vielen Dank für das Gespräch und dass Sie sich die Zeit genommen haben, so ausführlich in dieser Podcastfolge über Wahlen zu sprechen. Danke für ihr Fachwissen und Danke fürs Kommen.
JENNY: Herzlichen Dank für die Einladung.
KONRATH: Danke für die Einladung.
LUKÁŠ: Und damit entlassen wir euch wieder in euren Alltag aus diesem Hinterzimmer, in dem sicher schon zahlreiche Entscheidungen für unser Land vorbesprochen wurden. Wenn euch die Folge gefallen hat, dann empfehlt den Podcast doch gerne weiter. Ihr dürft „Rund ums Parlament” natürlich auch abonnieren. Das geht überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört, also auf Spotify, Apple Podcasts, Google Podcasts, Deezer oder Amazon Music. Dann könnt ihr die nächste Folge auf gar keinen Fall verpassen, denn das wäre sehr schade. Wir haben nämlich Irmgard Griss und Clemens Jabloner über das Thema Gewaltenteilung eingeladen. Und Frau Griss, wie in Österreich allgemein bekannt ist, war nicht nur Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und Nationalratsabgeordnete, sie hat auch 2016 bei der Bundespräsidentenwahl kandidiert. Clemens Jabloner, die meisten kennen ihn vermutlich noch als Vizekanzler und Justizminister, war ebenfalls Präsident am Verwaltungsgerichtshof und unterrichtet heute an der Universität Wien Rechtstheorie. Jede Menge Informationen und Angebote rund um das österreichische Parlament und zu unserer Demokratie findet ihr auf unserer Webseite www.parlament.gv.at und unseren Social-Media-Kanälen. Falls ihr Fragen, Kritik oder Anregungen zu unserem Podcast habt, dann schreibt uns gerne eine E-Mail an podcast@parlament.gv.at. Also, ich würde mich freuen, euch in der nächsten Folge wieder dabei zu haben. In diesem Sinne sage ich vielen Dank fürs Zuhören. Mein Name ist Tatjana Lukáš. Wir hören uns.
Jingle: „Rund ums Parlament“. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
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