Jingle: „Rund ums Parlament”. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Rund ums Parlament”, dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name, wie schon bekannt, ist Tatjana Lukáš, und ich freue mich sehr, dass ihr wieder zuhört. In dieser Folge geht es wieder um etwas, das ganz grundlegend ist für eine Demokratie, und zwar das Prinzip der Gewaltenteilung. Bei der Gewaltenteilung geht es um Macht und darum, wie sie in einem Staat verteilt werden soll. Warum eine genaue Abgrenzung der Macht und Befugnisbereiche so wichtig ist, haben uns vor allem die schlimmen Erfahrungen von Diktatur und Willkürherrschaft auch in der Geschichte Europas gezeigt, als staatliche Macht zu sehr gebündelt war. Wir fragen uns heute, was ist diese Macht des Staates überhaupt? Wie lässt sie sich in einem Staat kontrollieren und beschränken, und was hat es eigentlich mit den drei sogenannten Gewalten – Judikative, Legislative und Exekutive – auf sich? Dafür habe ich mir natürlich auch Gäste eingeladen, und zwar Gäste, die sich nicht nur theoretisch sehr gut mit dieser Frage auskennen, sondern auch schon aus Erfahrung sprechen können, denn sie haben in ihrem Leben beide schon zwei verschiedenen dieser staatlichen Gewalten angehört. Herzlich willkommen in diesem Podcast Frau Irmgard Griss und herzlich willkommen, Herr Clemens Jabloner. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
Irmgard GRISS: Gerne.
LUKÁŠ: Frau Griss, wenn ich Sie als erste vorstellen darf. Sie waren von 2007 bis 2011 Präsidentin des Obersten Gerichtshofs von Österreich, und von 2017 bis 2019 haben sie für die NEOs im Nationalrat gesessen. Sie waren also sowohl Teil der richterlichen Gewalt im Staat als auch der gesetzgebenden Gewalt. Und Sie, Herr Jabloner, Sie waren von 1993 bis 2013 Präsident des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs und von Juni 2019 bis Jänner 2020 Vizekanzler beziehungsweise Minister für Verfassung, Reformen, Deregulierung und Justiz in der Bundesregierung. Also auch Sie waren Teil nicht nur der Gerichtsbarkeit, sondern auch der vollziehenden Gewalt.
Clemens JABLONER: Gewiss.
LUKÁŠ: Zwei gewichtige Gäste heute in unserer Folge, die sich gut auskennen. Wir stehen hier im Grete-Rehor-Park, direkt zwischen Parlament und Justizpalast, ein guter Ort, um diese Folge zu beginnen. Eine Frage an Sie: Haben Sie Assoziationen zu diesem Ort?
GRISS: Ich war lange Richterin im Justizpalast, der ist mir natürlich vertraut. Das Parlament weniger, weil in der Zeit, als ich im Nationalrat war, war ja das Parlament im Ausweichquartier in der Hofburg.
LUKÁŠ: Und Sie?
JABLONER: Naja, für mich kommt es darauf an, dass das nicht einfach ein Gericht ist, sondern ein Justizpalast – palais de justice – eigentlich nach Brüsseler Vorbild, und das sollte in der Symbolik des 19. Jahrhunderts den Eigenstand und die Bedeutung der Justiz auch baulich zum Ausdruck bringen. Es ist ein Gegengewicht zum Parlament, in gewisser Weise auch ein Gegengewicht zur obersten Verwaltung und ein sehr schönes Gebäude, kein normales Gerichtsgebäude.
LUKÁŠ: Wir werden als nächsten Schritt in den Justizpalast gehen. Auf dem Weg dorthin würde ich Ihnen gerne jeweils noch drei kleine Fragen stellen, um Sie besser kennenzulernen.
JABLONER: Bitte.
LUKÁŠ: Wunderbar! Ich würde mit der Frau Griss beginnen, wenn es Ihnen recht ist: Frühling oder Herbst?
GRISS: Sowohl, als auch.
LUKÁŠ: Oh, das ist eine seltene, kaum gehörte Antwort.
GRISS: Ich habe beides gerne! Ich freue mich, wenn Frühling ist, und ich freue mich, wenn Herbst ist.
LUKÁŠ: Und ich freue mich, wenn Winter und Sommer ist. Kompromiss oder beste Lösung?
GRISS: Kompromiss.
LUKÁŠ: Gibt es dafür vielleicht eine kurze Begründung?
GRISS: Weil ein Kompromiss auch Frieden bringt zwischen den Streitparteien oder in einer kritischen Frage. Und was ist die beste Lösung? Das ist eine schwierige Frage. Woran misst man das? Und daher ist ein Kompromiss, der eben diese Befriedungswirkung hat, finde ich, vorzuziehen. Außerdem, in der Demokratie ist das das Mittel der Wahl, einen Kompromiss zu finden zwischen den verschiedenen Interessen.
LUKÁŠ: Womit wir schon bei der letzten Frage sind. Wo beginnt für Sie Demokratie?
GRISS: In der Familie.
LUKÁŠ: Vielen Dank, dann ist es jetzt Ihr Turn, Herr Jabloner. Frühling oder Herbst?
JABLONER: Herbst, eindeutig.
LUKÁŠ: Und was gefällt Ihnen so gut am Herbst, dass Sie ihn dem Frühling bevorzugen?
JABLONER: Das Wetter wird schlechter, und man kann gut gelaunt sein, muss aber nicht.
LUKÁŠ: Verstehe. Kompromiss oder beste Lösung?
JABLONER: Auf der Zeitachse zuerst die beste Lösung, die anzustreben ist, am Ende zufrieden mit dem Kompromiss sein.
LUKÁŠ: Und wo beginnt für Sie Demokratie?
JABLONER: Beim Menschenbild, beim Erkennen des anderen in sich selbst und von sich selbst dem anderen.
LUKÁŠ: Vielen Dank, wunderbar! Wir sind jetzt im Justizpalast und bevor wir weiter zu unserem Thema Gewaltenteilung gehen: Sie beide haben ja hier schon einige Zeit verbracht, Erlebnisse gehabt, Menschen getroffen. Dürfte ich Sie beide fragen, ob Sie uns eine persönliche Erinnerung schenken?
JABLONER: Also, meine Erinnerung ist die, dass die zweite Staatsprüfung hier stattgefunden hat und dass ich genau so am Fuß dieser Stiege stehe und ein etwas beklommenes Gefühl habe. Ich war da nicht besonders glänzend, aber es ist doch gut gegangen. Und dann war ich einige Zeit als Rechtspraktikant auch hier und später dann immer wieder zu verschiedenen Gelegenheiten.
GRISS: Also, ich war von '87 bis Ende 2011 als Richterin hier, zuerst fünf Jahre am Oberlandesgericht und dann am Obersten Gerichtshof, und daher bin ich oft durch die Halle gegangen. Das ist mir schon vertraut.
LUKÁŠ: Und gibt es einen Lieblingsraum, den Sie hier haben?
GRISS: Also Lieblingsraum ist zu viel gesagt. Aber ich finde die Halle schon sehr schön, und wenn wir ausländische Besucherinnen und Besucher hatten, waren die immer sehr beeindruckt. Vor allem Besucherinnen und Besucher aus den Nachfolgestaaten der Monarchie haben dann die Wappen da oben angeschaut. Also das war immer sehr schön. Es ist schon ein wirklich eindrucksvolles Gebäude, und ich finde, es ist auch noch immer jetzt in einem sehr guten Zustand. Es ist lange renoviert worden, ich glaube 16 oder 17 Jahre bei laufendem Betrieb. Das war nicht ganz lustig. Sehr schön ist auch die Säulenhalle des Obersten Gerichtshofs, also es gibt einige sehr schöne Räume. Auch die Richterzimmer sind groß, geräumig, und es ist ein schönes Gebäude.
LUKÁŠ: Und es gibt auch ein Café für Jeden und Jede.
GRISS: Noch nicht so lange, seit der Renovierung. Da war ja der Plan, so wie beim Handelsgericht in der Riemergasse, die Gerichte auszusiedeln in den dritten Bezirk, dort zu bauen. Das war so diese Zeit, wo man gedacht hat, man kann all diese Gebäude in der Innenstadt bestmöglich verwerten.
JABLONER: Ja, für Casinos zum Beispiel.
GRISS: Genau. Und da war hier der Plan, den Justizpalast zu verwerten. Dann gab es einen Protest der Richterinnen und Richter dagegen, und die haben dafür gekämpft, dass die Gerichte hier bleiben. Sowohl das Oberlandesgericht als auch der Oberste Gerichtshof, Generalprokuratur ist auch da. Und die haben auch erreicht, dass aufgestockt wurde. Das, was aufgestockt wurde, der vierte Stock, das ist ein Dachrestaurant, ein sehr schöner Blick über die Innenstadt. Jetzt gibt es die Konkurrenz im Parlament, aber früher war das das Einzige, und da kommen viele Besucherinnen und Besucher. Es ist sehr schön da oben.
LUKÁŠ: Es ist ein Geheimtipp in Wien.
GRISS: Ja, ich meine es steht auch in allen Führern. Da ist es mit dem Geheimsein nicht mehr so weit her.
LUKÁŠ: Unter den Wienern, die lesen ja seltener die Führer. Wir kommen zurück zu unserem Thema. Herr Jabloner, zum Einstieg würde ich Sie gern fragen: Gewalt, Macht, das, was da geteilt und voneinander getrennt wird, in einem demokratischen Stadt – was ist das eigentlich?
JABLONER: Es handelt sich in rechtlicher Terminologie um Rechtsfunktionen, um die Ausübung von rechtlichen Ermächtigungen. Dieser Prozess ist arbeitsteilig. Es gibt also Organe, die allgemeine Regelungen erzeugen, das sind die Parlamente. Und es gibt Organe, die diese allgemeinen Regelungen individualisieren und konkretisieren, und die zerfallen wieder. Einerseits in die Verwaltung, die von der Regierung gesteuert wird, und andererseits in die Justiz, wo unabhängige Richter und Richterinnen tätig sind.
LUKÁŠ: Ich glaube, es ist vielen Hörerinnen bekannt, dass es die Judikative, die Exekutive und die Legislative gibt. Aber, dass sie wirklich verstehen, was dahinter steht: Vielleicht könnte man das ein bisschen auseinanderdividieren, ein bisschen klarer benennen, damit wir aus diesem Fachjargon rauskommen und vielleicht mehr zu der Art, wie die Menschen sprechen. Frau Griss, ein Versuch?
GRISS: An sich leuchtet es ja völlig ein. Der Staat hat ein Gewaltmonopol. Das ist das Kennzeichen des modernen Staates. Wenn Sie mir etwas schuldig sind, dann kann ich nicht hingehen und ihnen das wegnehmen, sondern ich kann sie klagen und ich muss zu Gericht gehen. Vollstreckt wird so ein Urteil auch nicht privat, indem ich Ihnen was wegnehme, sondern wenn, ist es ein staatliches Verfahren. Das ist ganz einfach erklärt dieses Gewaltmonopol, das besonders stark sichtbar wird im Strafrecht. Der Staat kann ein Verhalten gegen das Strafgesetzbuch bestrafen, das heißt, Menschen, die jemanden ausrauben, die jemanden umbringen oder was auch immer, die werden eingesperrt. Der Staat kann sagen, die nächsten 20, 30 Jahre kommst du nicht in Freiheit. Und das ist natürlich eine Befugnis, die extrem weitreichend ist. Es gibt den schönen Spruch: „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.” Das heißt, Macht muss kontrolliert werden, Macht muss beschränkt werden. Und im modernen Verfassungsstaat ist das wesentliche Kennzeichen, dass die Gewalt, dieses Gewaltmonopol, aufgeteilt ist. Da sind die einen, die sagen, das sind die Gesetze, das gilt. Wir haben es jetzt in der Pandemie erlebt, die sagen dann, das Epidemiegesetz, das novellieren wir jetzt, und da gilt jetzt das und das. Das ist die gesetzgebende Körperschaft, das Parlament gegenüber. Dann gibt es die zweite, die Vollziehung. Das ist die Regierung, das ist die öffentliche Verwaltung, und die müssen das umsetzen. Die machen das mehr oder weniger geschickt, haben wir auch in der Pandemie erlebt. Aber die sind von der Gesetzgebung getrennt. Die müssen schauen, dass das funktioniert, dass der Staat funktioniert, dass das, was vom Recht geschaffen wird im Parlament, lebt. Dass das auch wirklich unser Leben gestaltet. Das ist Recht. Recht ist ja nichts anderes als Regeln, die wir uns geben, wie wir miteinander umgehen wollen. Und dann haben wir als dritte Gewalt, und das brauchen wir unbedingt, eine Institution, die sagt: Das ist in Ordnung, was ihr gemacht habt oder das passt nicht. Da gibt es den Verwaltungsgerichtshof, der das für die öffentliche Verwaltung sagt: Also, das können Sie nicht machen. Diese Strafen zu verhängen, obwohl es eigentlich gar keine Norm gibt, bei den Verkehrsstrafen zum Beispiel. Das macht der Verwaltungsgerichtshof. Der Verfassungsgerichtshof, eine ganz wesentliche Institution für den Verfassungsstaat, der schaut, ob die Gesetze, die das Parlament macht, mit der Verfassung übereinstimmen, ob sie die Grundrechte respektieren. Das haben wir auch erlebt in der Pandemie. Oder jetzt vor wenigen Tagen oder gestern, diese Sozialhilfebeschränkungen, die eingeführt werden. Da wird gesagt: Das geht nicht! Ihr müsst den Leuten so viel geben, dass sie leben können. Einfach ausgedrückt. Und es gibt die ordentliche Gerichtsbarkeit und jetzt auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit schon seit mehreren Jahren. Aber die ordentliche Gerichtsbarkeit – und hier im Justizpalast befindet sich mit dem Obersten Gerichtshof die Spitze der ordentlichen Gerichtsbarkeit – ist dazu da, um Konflikte zwischen Einzelpersonen zu lösen oder zwischen Unternehmen und Personen. Konflikte in der Wirtschaft zu lösen, dafür ist die ordentliche Gerichtsbarkeit da. Und die ist völlig unabhängig von der Gesetzgebung und von der Vollziehung. Eine Kontrolle der Gerichtsbarkeit durch die Gesetzgebung und die Vollziehung gibt's nicht, kann es ja nicht geben. Wir erleben das jetzt in Israel. Da strebt die Regierung an, eine Kontrolle der Entscheidungen des obersten Gerichts durch das Parlament zu haben. Mit einfacher Mehrheit sagt das Parlament: Nein, interessiert uns nicht, gilt nicht. Das geht nicht. Und die Gerichtsbarkeit hat diese interne Kontrolle. Wir haben einen Instanzenzug, und da rechnen wir damit, und da hoffen wir darauf, dass die dann gescheit genug sind, um eben richtig zu entscheiden. Das ist etwa im Groben und etwa einfach gesprochen die Struktur unseres Staates, unseres Rechtsstaates.
LUKÁŠ: Und die Struktur unseres Rechtsstaates wird dann, wie Sie eben schon kurz erwähnt haben, mit Leben gefüllt, indem Menschen aus Fleisch und Blut diese Positionen besetzen, welche auch immer, und dann amtshandeln.
GRISS: Natürlich. Anders geht es noch nicht. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt, das wissen wir noch nicht. Diese Algorithmen, die da entwickelt werden und die dann gewisse Tätigkeiten vollziehen, braucht es dann keine Menschen mehr? Das wissen wir nicht. Aber noch brauchen wir Menschen.
LUKÁŠ: Jetzt waren Sie beide ja in zwei Gewalten aktiv. Wie stark ist da der Unterschied oder wie viel besser versteht man das Gegenüber, wenn man schon mal die Gegenseite erlebt hat?
JABLONER: Ich war Präsident des Verwaltungsgerichtshofes und in dieser Funktion eigentlich doppelt beschäftigt, weil ich einerseits als Richter an richterlichen Entscheidungen mitgewirkt habe, dann aber eigentlich fast ein kleines Ministerium geführt habe, also einen Geschäftsapparat. Und diese Aufgaben waren schon sehr ähnlich denen eines Ministers. Also, ich habe das nicht so radikal erlebt, weil ich doch mit einem Bein jeweils im anderen Bereich gestanden bin.
LUKÁŠ: Aber kommt es da manchmal zu einer Konfliktposition, wo man sich denkt, aus dieser Position heraus würde ich so entscheiden, aber aus der anderen stellt sich das Problem anders da?
JABLONER: Naja, als Präsident des Verwaltungsgerichtshofes hat man die Richter des Verwaltungsgerichtshofes zunächst einmal als Gegenüber. Das sind, wenn man so will, 56 Sektionschefs, die man irgendwie steuern muss und die ein starkes Eigenleben entfalten können. Und das ist das Geschick des Präsidenten dann damit auszukommen und gleichzeitig das Gericht in seiner Gesamtheit gegenüber dem Finanzministerium, gegenüber dem Bundeskanzleramt, zu vertreten. Das ist diese ganz spezifische Funktion.
LUKÁŠ: Und bei Ihnen? Hat es bei Ihnen irgendwann mal Konfliktpotenzial gegeben oder ist das Verständnis dadurch befeuert worden, dass Sie auf beiden Seiten der Medaille mal waren?
GRISS: Also, das Parlament hat bei mir zwei Dinge bewirkt. Das eine war, mein Respekt vor den Politikerinnen und Politikern ist gewachsen. Da gibt es viele Leute, die wirklich was Gutes erreichen wollen, und das ist extrem schwierig. In einer Gesellschaft, in der die Medien, vor allem die sozialen Medien, so einen Einfluss und so eine Macht haben, ist das nicht einfach, wirklich sachlich zu sein und wirklich dem Gemeinwohl zu dienen. Das ist nicht einfach.
LUKÁŠ: War das früher, vor den sozialen Medien, einfacher?
GRISS: Das weiß ich nicht.
JABLONER: Ich glaube schon. Ich glaube schon, dass durch die sozialen Medien ein sehr starker Zug ins Persönliche eingetreten ist. Man hat sich doch früher, glaube ich, verstanden auf persönlicher Ebene, auch zwischen den politischen Lagern, mehr, als das heute der Fall ist. Es herrscht ein Freund-Feind-Denken, das es in dieser extremen Form früher nicht gegeben hat.
GRISS: Und das zweite war schon, wie schwierig es ist, Gesetze zustandezubringen. Da haben wir ein gewaltiges Defizit bei uns im Parlament. Das heißt, wir haben keine wirklich leistungsfähige Legistikabteilung. Wir haben auch in Ansätzen nur, leider, eine Legistikausbildung an der Uni. Es gibt zwar Bemühungen, aber das ist eher ein Nischenfach. Das ist noch nicht so ins Bewusstsein auch der Juristinnen und Juristen eingesickert, wie wichtig es ist, zu verstehen, wie ein Gesetz gemacht wird. Und man braucht ja als Legist oder Ligistin eine Liebe zur Sprache, ein Verständnis für die Sprache, ein Verständnis für die Rechtsordnung. Man braucht auch ein Beurteilenkönnen, was ist wichtig: Wie kann ich das erreichen? Wie kann ich das umsetzen? Wie ist es dann auch umsetzbar? Wie weit muss so eine Norm gefasst werden, wie konkret ist die Norm zu fassen? Das ist eine gewaltige Herausforderung, da haben wir ein Defizit.
JABLONER: Wir haben allerdings auch ein stark gewaltenverbindendes Element, weil, das sieht die Verfassung so vor, die meisten Gesetze von der Verwaltung vorbereitet werden und als Regierungsvorlage ins Parlament kommen. Je stärker die rein sachliche Seite ist, also wenn es um veterinärrechtliche Regelungen und dergleichen geht, desto stärker ist der Einfluss, den die Verwaltung nimmt. In Justizsachen ist es schon anders, da spricht das Parlament intensiver mit, aber der Großteil kommt doch aus der Verwaltung in der Form von Regierungsvorlagen.
LUKÁŠ: Weil die die Spezialisten für das jeweilige Thema sind eigentlich, aber halt keine Juristen, oder?
JABLONER: Ja, natürlich, die haben legistische Dienste, die sind vielleicht nicht mehr so kräftig wie sie früher waren. Aber es gibt noch immer exzellente Einheiten wie den Verfassungsdienst, das Bundeskanzleramt oder das Völkerrechtsbüro.
GRISS: Der aber oft nicht beigezogen wird, der Verfassungsdienst. Das haben wir auch in der Pandemie gesehen, dass man den Verfassungsdienst nicht konsultiert hat, dass man nicht wirklich fähige Legistinnen und Legisten im Gesundheitsministerium zum Beispiel hat, was dazu führt, dass das oft ausgelagert wird. Dann kriegt eine Anwaltskanzlei einen Auftrag: Machen Sie einen Gesetzesentwurf. Und das ist eine Fehlentwicklung.
LUKÁŠ: Outsourcing.
GRISS: Ja, das gehört abgestoppt.
LUKÁŠ: Gut zu wissen. Wer in diesen Bereich gehen will, beruflich möglicherweise, da gibt es gute Chancen als Legist oder Legistin eine Karriere anzustreben?
GRISS: Erst muss man das Bewusstsein dafür wecken, in der öffentlichen Verwaltung und auch im Parlament, wie wichtig das ist. Und das Parlament braucht vor allem ein Budget dafür, dass wir eine Legistikabteilung aufbauen. Das ist bisher nicht verhandelt.
JABLONER: Ein Legist muss natürlich auch ansonsten sein juristisches Handwerk verstehen, weil er sozusagen die Auslegung der Gesetze vorwegnehmen muss. Er muss sich überlegen, was kann eine solche Bestimmung in der Praxis bedeuten? Wie werden die Gerichte das möglicherweise verstehen, und möchte ich das, oder möchte ich das nicht? Und das ist ein ganz wichtiger Eckstein.
LUKÁŠ: Ich finde, das klingt nach einer ganz wunderbaren Aufgabe.
GRISS: Ja, wenn man die Sprache liebt und das Recht liebt.
LUKÁŠ: Jetzt, wo wir in diesem historischen Gebäude stehen, interessiert mich, aus welchen historischen Erfahrungen hat sich das Prinzip der Gewaltenteilung eigentlich etabliert?
JABLONER: Aus durchaus gegenläufigen. Es gibt eine Entwicklung in Frankreich. Dort waren die Gerichte beherrscht von der lokalen Aristokratie. Das waren diese Gerichtspräsidenten, die man aus der Literatur kennt. Baron de Montesquieu war so jemand, der dann sein Amt sogar verkauft hat, so weit ging das damals. Da ging es darum, dass schon der absolutistische König und erst recht in der Revolution sich von diesem Einfluss freispielen wollte. Und das führte dann so weit, dass die Verwaltung ihre eigene Gerichtsbarkeit innerhalb der Verwaltung bekam, den berühmten Conseil d'État, und von dem stammen alle Verwaltungsgerichte eigentlich ab. Und ganz anders war die Situation vor allem in Deutschland, mit den kleinen Fürstentümern, wo der Fürst sehr unmittelbar auf die Gerichte Einfluss nehmen wollte. Das nannte man dann Kabinettsjustiz, also sein Streben, die Besetzung der Richterbank zu kontrollieren, und auch das, was letztlich rausgekommen ist dabei. Es war vielleicht in den großen Flächenstaaten, in Preußen und auch im Kaisertum Österreich, gar nicht so ausgeprägt. Da ging es mehr um die Einheitlichkeit der Justiz und um solche Dinge. Aber das sind jedenfalls die zwei ganz unterschiedlichen Wurzeln der Trennung von Justiz und Verwaltung.
LUKÁŠ: Interessant, wo das alles herkommt.
GRISS: Ursprünglich war die Aristokratie stark im Parlament auch vertreten.
JABLONER: Ja. In England zum Beispiel.
GRISS: Auch, ja, mit dem Oberhaus, wo sie geadelt werden, wenn sie ins Oberhaus kommen. Und bei uns ging es ja auch um das Wahlrecht am Beginn, ein Kurienwahlrecht, wo ein bestimmter Besitz die Voraussetzung war, dass man überhaupt wählen durfte. Das hat sich so entwickelt, und ganz ursprünglich hat ja der Grundherr auch die Gerichtsbarkeit gehabt, das war verbunden. Bis zur Bauernbefreiung, 1848 hat das begonnen, hatten die Bauern Grundherren und waren diesen Grundherren Untertan. Und dann gab es die Bauernbefreiung, ein Drittel hat der Grundherr verloren, ein Drittel hat der Staat gezahlt, ein Drittel haben die Bauern getragen. Da gab es schon eine Emanzipation, also einerseits der Bauern, der Bürgerinnen und Bürger, und das hat natürlich auch mit sich gebracht, dass man hier diese absolute Macht begrenzt. Man hatte den Verfassungsstaat, die Versuche, nach 1848 eine Verfassung zustandezubringen, die Pillersdorfsche Verfassung, dann der Kremsierer Entwurf. All diese Versuche, um die Macht an Regeln zu binden. Für die Gewaltentrennung ist mindestens so eine Entscheidung entscheidend, die Bemühungen, eine Verfassung zustandezubringen, weil die Verfassung ist ja auch die Grundlage für die Gewaltentrennung. Die Gewaltentrennung ist dann eine Folge. Die konstitutionelle Monarchie bindet ja schon die Gewalt des Fürsten an bestimmte Regeln.
LUKÁŠ: Danke für diesen Exkurs. Meine letzte Frage hier im Justizpalast, bevor wir uns auf dem Weg zum Parlament machen: Die Gewalten in einem demokratischen Staat sollen ja voneinander auch kontrolliert werden. Haben Sie da aus Ihrem Berufsleben heraus ein konkretes Beispiel, wie oder wann das mal besonders aufsehenerregend oder kann auch im Kleinen passiert ist?
JABLONER: Das war das alltägliche Geschäft. Der Verwaltungsgerichtshof macht nichts anderes, als die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu kontrollieren. Das ist daher völlig normal. Bis zu einem gewissen Grad auch die ordentliche Gerichtsbarkeit, wenn man zum Beispiel an die Amtshaftung oder Organhaftung denkt. Auch das ist eine Kontrolle der Verwaltung.
LUKÁŠ: Aber könnte man das vielleicht an einem konkreten Beispiel festmachen, an irgendeinem Fall oder etwas, das ihnen einfällt, wo man das ein bisschen konkreter darstellen kann?
JABLONER: Wenn jemand der Meinung ist, dass ihm zu viel Steuer vorgeschrieben wurde, dann wendet er sich an das Finanzverwaltungsgericht. Und wenn er damit auch noch nicht zufrieden ist, mit diesem Ergebnis, dann kann er Revision an den Verwaltungsgerichtshof erheben oder auch Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Das sind ganz alltägliche Vorgänge.
GRISS: Und bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit gibt es die Amtshaftung. Wenn ein Organ der öffentlichen Verwaltung rechtswidrig handelt oder Amtsmissbrauch begeht. Es gibt Fälle, die immer wieder vorkommen in den Gemeinden. Wenn ein Bürgermeister in einem Bauverfahren jemanden begünstigt zum Beispiel, und ein anderer hat dadurch einen Nachteil, hat einen Schaden, dann kann er den Staat klagen. Das ist die Amtshaftung. Und der Staat hat die Möglichkeit nach dem Organhaftpflichtgesetz sich zu regressieren, das kommt selten vor. Aber das entscheiden dann auch die ordentlichen Gerichte. Ich war auch einige Jahre, ich glaube acht Jahre, Ersatzmitglied am Verfassungsgerichtshof, und da ist natürlich auch das tägliche Geschäft – so wie beim Verwaltungsgerichtshof die Kontrolle der Verwaltung – die Kontrolle der Gesetzgebung. Dass eben entweder schon ein Antrag auf Gesetzesprüfung gestellt wird oder dass der Verfassungsgerichtshof bei der Behandlung eines Falles sieht: Da ist ein Problem mit dem Gesetz. Sie leiten dann von Amts wegen ein Gesetzprüfungsverfahren ein und heben ein Gesetz oder eine Verordnung auf. In der Pandemie wurden die Verordnungen des Gesundheitsministeriums aufgehoben, die durch das Gesetz nicht gedeckt waren, weil das eine Grundregel ist. Eine Verordnung, das ist ja etwas, was die Verwaltung macht. Das ist nur so weit zulässig, als es durch das Gesetz gedeckt ist. Und das Gesetz macht der Nationalrat oder ein Land, es gibt ja auch Landesgesetze, und da muss der Verfassungsgerichtshof das dann prüfen und kann das auch aufheben.
LUKÁŠ: Vielen Dank. Dann würde ich sagen, machen wir uns auf den Weg zum Parlament. Liebe Hörerinnen und Hörer, wenn Sie im Hintergrund Geräusche hören: Hier gehen Menschen durch, ich schätze mal, zu Verhandlungen, hier fahren auch Putzfahrzeuge, die schauen, dass der Justizpalast glänzt. Es ist einiges los gewesen, während wir da waren.
GRISS: Ja, es wird gearbeitet.
LUKÁŠ: Es wird gearbeitet. Wir nähern uns jetzt dem Endpunkt unseres Spaziergangs und einige Schritte vor dem Parlament möchte ich jetzt dazu nutzen, noch ein paar Worte über die vierte Gewalt im Staat Ihnen zu entlocken, nämlich die Presse. Wie steht die im Verhältnis zu den anderen drei Gewalten, über die wir jetzt ausführlicher gesprochen haben, und wie wichtig ist das für eine Demokratie?
JABLONER: Formal betrachtet hat diese vierte Gewalt mit den drei anderen Gewalten gar nichts zu tun, weil es sich nicht um die Ausübung staatlicher Funktionen handelt. Ganz im Gegenteil. Die Medien sind Ausdruck der Zivilgesellschaft und der Meinungsbildung, der Information innerhalb der Zivilgesellschaft. Aber dass gesellschaftlich die Medien eine sehr große Rolle spielen und eine immer größere Rolle spielen, kann man ja nicht übersehen.
GRISS: Und das große Problem ist, dass eben bei den Medien diese Unabhängigkeit nicht garantiert ist, und zwar aus mehreren Gründen. Das sind wirtschaftliche Gründe. Medien sind angewiesen, dass sie Inserate bekommen – wir haben die Inseratenkorruption im großen Stil. Wir haben auch die Möglichkeit, sich auf anderem Weg das Wohlwollen von Medien zu kaufen. Und daher wird diese Kontrollfunktion, die die Medien als vierte Staatsgewalt ausüben müssen, nicht wirklich ausgeübt. Das ist ein riesiges Problem. Aber die herkömmlichen Medien sind ja noch das kleinere Problem. Das ganz große Problem sind die Medien über das Internet, die sozialen Medien. Auch durch die Entwicklung der künstlichen Intelligenz ist es extrem einfach und kostengünstig geworden, Fehlinformationen zu verbreiten. Sie brauchen keine Trollfabrik mehr, wo so und so viele Leute sitzen. Sie haben einen Chatbot und der flutet das Internet mit Falschmeldungen. Die Möglichkeiten, die die künstliche Intelligenz heute schafft – mit fingierten Videos, mit fingierten Texten, sodass man nicht mehr unterscheiden kann, was ist wahr, was ist falsch, was ist Fiktion, was ist Fakt –, das ist die größte Herausforderung für die Demokratie.
LUKÁŠ: Für die ganze Gesellschaft.
GRISS: Ja, die Demokratie ist ja unser Lebensmodell. Das ist ganz schwierig, wie man das in den Griff kriegt.
JABLONER: Und wenn ich an das anknüpfen darf, was ich eingangs gesagt habe, dass Demokratie die Begegnung mit dem anderen Menschen ist, der als ein gleicher erkannt wird, dann ist auch das ins Wanken gekommen, weil man durch diese Echokammern immer nur sich selbst begegnet. Immer nur den eigenen Meinungen und denen, die schon von vornherein gleich sind, die man also nicht in ihrer Andersartigkeit als gleich erkennen muss, sondern die immer nur widerspiegeln, was man selber sagt. Und das wird durch diese Algorithmen sehr befördert und das führt zu einem Zerfall der Gesellschaft. Die einzelnen Gruppen in der Gesellschaft haben immer weniger von einer gemeinsamen Welt, sie leben alle in ihren Welten, und das halte ich für ein großes Problem der Demokratie.
LUKÁŠ: Jetzt enden wir mit einem Problem, aber eigentlich ende ich immer so gerne mit Lösungsansätzen. Haben Sie eine Idee, wie man diesen ganzen verrückten Digitalisierungssturm in gelenkte Bahnen bringen kann?
GRISS: Bildung, Bildung, Bildung, und die Zivilgesellschaft ist da gefordert. Wir können uns nicht auf die öffentlichen Institutionen verlassen. Die müssen stark sein. Wir müssen als Zivilgesellschaft alles tun, damit die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit gesichert ist. Das ist ein Grundpfeiler des Staates. Wir müssen alles dafür tun, dass die Verwaltung ordentlich arbeitet, dass es nicht Postenschwache gibt, dass nicht unqualifizierte Leute in verantwortungsvollen Positionen gehievt werden, und das ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft. Wir müssen schauen, dass unser Bildungssystem so aufgestellt ist, dass dieses Rüstzeug mitgegeben wird, in dieser Welt sich zurechtzufinden. Dass vor allem die auch eine Chance bekommen, die das nicht von Zuhause mitbekommen und das ist ein Drittel unserer Bevölkerung. Man sieht ja, wer diesen Verschwörungstheoretikern nachfolgt, und Theoretikerinnen, da gibt‘s auch Frauen leider. Da müssen wir ansetzen. Das ist eine Mammutaufgabe, aber was ist die Alternative? Es bleibt nichts anderes übrig.
LUKÁŠ: Das finde ich ein gutes Schlusswort: Bildung, Bildung, Bildung. Ich glaube, da sind wir uns einig. Das kann sehr gut helfen. Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben, Herr Jabloner, Frau Griss.
JABLONER: Gerne.
GRISS: Gerne.
LUKÁŠ: Danke für das wunderbare und aufschlussreiche Gespräch. Und damit sind wir auch schon wieder am Ende dieser Episode angelangt. Falls sie euch gefallen hat, dann empfehlt „Rund ums Parlament” wie immer gerne weiter, und damit ihr keine Folge verpasst, abonniert „Rund ums Parlament” am besten gleich. Das geht überall, wo ihr eure Lieblings-Podcasts hört, also bei Spotify, Deezer, Apple Podcast oder auf all den anderen Plattformen. Ich würde mich auch sehr freuen, wenn ihr das nächste Mal wieder dabei seid. Dann spreche ich nämlich mit dem Historiker Oliver Rathkolb und dem Experten für Fake News, Andre Wolf, über ein sehr spannendes Thema. Die Frage nämlich, wie kann sich eine Demokratie selbst abschaffen? Das solltet ihr auf keinen Fall verpassen. Falls ihr übrigens Fragen, Kritik oder Anregungen zum Podcast habt, dann könnt ihr uns gerne eine E-Mail schreiben und zwar an podcast@parlament.gv.at. Weitere Informationen und Angebote rund ums österreichische Parlament und zu unserer Demokratie findet ihr auf der Website www.parlament.gv.at und den Social-Media-Kanälen des Parlaments. Das war es soweit von mir. Ich bin Tatjana Lukáš. Bis zum nächsten Mal.
Jingle: „Rund ums Parlament”. Der Podcast des österreichischen Parlaments.