Jingle: Rund ums Parlament, der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Rund ums Parlament", dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name, wie ihr wisst, ist Tatjana Lukáš. Schön, dass ihr wieder dabei seid. Denn in dieser Folge geht es los mit einem neuen und wahnsinnig interessanten Thema: wir sprechen über Gesetze. Wer sich jetzt denkt, oh je, das ist irgendwie irrsinnig fad, der liegt falsch! Denn Gesetze beeinflussen uns alle jeden Tag, in jedem Moment, und sie sind nicht einfach von alleine da. Sie werden gemacht von Menschen für Menschen. Und von wem sie gemacht werden, wie gut oder schlecht es gelingen kann, wozu wir überhaupt Gesetze brauchen, wie die Gesetzgebung funktioniert und was das eigentlich genau ist, eine Gesetzgebung und ein Gesetz, darum geht es in den kommenden Folgen. Und richtig, wir sind ja hier im Parlament, und das Parlament spielt eine große Rolle dabei. Wie ihr gewohnt seid, lade ich mir immer hochinteressante Gäste ein, um über dieses weite Feld zu sprechen. In dieser Folge sind das der Rechtsphilosoph Professor Alexander Somek. Schönen guten Tag.
Alexander SOMEK: Guten Tag.
LUKÁŠ: Und Christof Rattinger, hallo.
Christof RATTINGER: Guten Tag.
LUKÁŠ: Der stellvertretende Leiter der Abteilung öffentliches Recht und Legistik der Parlamentsdirektion. Schön, dass Sie bei uns im Podcast sind!
SOMEK: Danke für die Einladung.
RATTINGER: Es freut mich auch.
LUKÁŠ: Für unsere Hörerinnen und Hörer, wir sind ja immer auf einem Spaziergang und vielleicht konnten es manche schon an der Geräuschkulisse erkennen, wo wir heute unseren Spaziergang starten. Wir sind nämlich hier im Café, und zwar im Café des Besucherzentrums im Parlamentsgebäude. Falls ihr noch keinen Rundgang gemacht habt und euch die Parlamentsführung noch nicht gegönnt habt, folgt eine kurze Beschreibung: hohe Decken, wunderschön bemalt. Wir sitzen inmitten von Marmorsäulen und auf Stühlen, gehalten in Wiener Geflecht, also alles sehr classy hier. Wie gefällt es den Gästen?
SOMEK: Mir gefällt das ganz ausgezeichnet. Ich fühle mich so wie im bürgerlichen Zeitalter, als natürlich das Parlament auch ein Ort war, wo zunächst einmal die bürgerliche Gesellschaftsschicht sich versammelt hat, die Teil der Volksvertretung war. Allerdings müssen wir immer mitbedenken, die Geschichte des Parlamentarismus ist auch eine Geschichte, wo immer mehr Bevölkerungsschichten dann Repräsentation gefunden haben. Also ist das auch der Ort, der dazu geführt hat, dass es einmal ein allgemeines, gleiches Wahlrecht gegeben hat, wie wir es heute noch haben. Also der Ort, an dem alle Bürgerinnen und Bürger im Idealfall im gleichen Maße vertreten sind. Das ist ein sehr ehrwürdiger Ort, ein wichtiger Ort in unserer politischen Gemeinschaft, wo ich gerne bin.
LUKÁŠ: Und sind Sie öfter hier, Herr Rattinger?
RATTINGER: Ja, ich bin natürlich öfter hier, weil ich im Parlament tätig bin, im Rechts- Legislativ- und Wissenschaftlichen Dienst und in diesem Zusammenhang auch in den Sitzungen des Parlaments dabei bin. Wenn Ausschüsse zusammenkommen, wenn das Plenum tagt, dann bin ich auch hier im Parlamentsgebäude vor Ort als Jurist tätig.
LUKÁŠ: Und jetzt, wo Sie öfter im Parlamentsgebäude sind, können Sie hier im Café etwas empfehlen? Gibt es einen besonders guten Kuchen oder einen besonders guten Kaffee, den man empfehlen könnte, falls jemand mal vorbeischaut?
RATTINGER: Die Süßigkeiten sind generell sehr zu empfehlen, würde ich sagen. Ich habe mich da schon durchprobiert, und auch der Kaffee ist hier sehr gut.
LUKÁŠ: Und eine besondere Süßigkeit? Was ist der Lieblingskuchen?
RATTINGER: Es gibt so einen Würfel, den Kelsenwürfel, der ganz gut ist, den kann ich empfehlen.
SOMEK: Darf ich da kurz etwas einwerfen?
LUKÁŠ: Bitte, natürlich auch Ihre Lieblingsmehlspeise in diesem wienerischen Podcast.
SOMEK: Nein, ich habe sie noch nicht einmal probiert. Aber ich muss schon sagen, für jemanden, der das Fach Rechtsphilosophie vertritt, was ein Grundlagenfach ist und im Studium vielleicht nicht die Hauptrolle spielt, die es spielen sollte, ist es ganz was Besonderes, dass ein bedeutender Rechtsphilosoph der Namensgeber für eine Mehlspeise ist. Hans Kelsen war nicht nur ein bedeutender Rechtsphilosoph, einer der bedeutendsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Er ist auch, wie gemeinhin bekannt ist, der Autor unserer Verfassung. Er war im Wesentlichen derjenige, der sie zusammengeschrieben hat, natürlich gab es Vorgaben, die ihm gemacht worden sind. Also ist es sehr schön, dass man sich an einen großen Geist aus der österreichischen Vergangenheit auch hier erinnern kann, indem man eine Kelsenschnitte isst oder man später ins KELSEN-Restaurant essen geht. Ganz außergewöhnlich.
LUKÁŠ: Ja, in aller Süße, der Kelsenwürfel. Ich würde mit Herrn Rattinger mit den Fachfragen beginnen, jetzt, wo wir uns über Mehlspeisen ausgetauscht haben. In diesem Podcast war schon ein oder zweimal das Wort Legistik im Raum. Jetzt weiß nicht jeder, was Legistik ist. Sie sind Legist. Können Sie mir und unseren Hörerinnen und Hörern in einfachen Worten beschreiben: Was bedeutet Legistik?
RATTINGER: Bei der Legistik handelt es sich um die Gesetzgebungstechnik, also die Art und Weise, wie Gesetze geschrieben werden. Als Legist hat man also die Aufgabe, Gesetzestexte zu schreiben. Das ist spannend, weil man ausgehend von einer gewissen politischen Idee sich überlegen muss, wie man diese Idee am besten in ein Gesetz, also in einen Rechtstext, gießt. Und dabei gibt es nicht die eine richtige Variante, sondern mehrere Möglichkeiten, wie man das umsetzt. Jedenfalls gibt es aber Punkte zu beachten. Zum einen die Sprache: Gesetze müssen klar und verständlich sein. Jedes Wort, das überflüssig ist, soll weggelassen werden. Und wichtig ist es auch, dass man auf eine Einheitlichkeit der Sprache achtet. Das heißt, es sollte in einem Gesetz nicht ein Begriff von zwei Stellen vorkommen und es ist dabei aber Unterschiedliches gemeint. Umgekehrt wäre es in der Anwendung des Gesetzes auch ein Problem, wenn ein Wort an zwei Stellen verwendet wird und im einen Fall das eine meint und im anderen Fall das andere. Auch der Aufbau eines Gesetzes ist etwas, was man als Legist, Legistin, beachten muss. Es soll ein durchdachtes System in einem Gesetz geben. Das heißt, wenn man es von außen von der Form her betrachtet, soll es eine gewisse Gliederung haben. Alles, was inhaltlich zusammengehört, soll im Gesetz auch an der ähnlichen Stelle stehen. Das ist auch der Grund, warum es beispielsweise Paragraphen und Absätze in Gesetzen gibt.
LUKÁŠ: Es erinnert mich ein bisschen an den Aufbau einer Schularbeit, wie sie es uns gelernt haben, mit der Doppeldeutigkeit. Ein banales Beispiel.
SOMEK: Ich will keiner Schülerin und keinem Schüler zu nahe treten, aber es sollte vielleicht doch besser verfasst werden als eine Schularbeit, die mal geschwind hingeschrieben wird. Es geht auch mehr Arbeit hinein. Es dauert sehr lange, bis so ein Gesetz wirklich vorlagefähig ist.
RATTINGER: Ja, genau, die Legistik ist eine Art Handwerk, das es im Gesetzgebungsverfahren braucht. Ein Handwerk, das aber an den Universitäten in Österreich nur sehr vereinzelt unterrichtet wird, muss man dazu sagen.
LUKÁŠ: Wo kann man das lernen?
RATTINGER: Es gibt vereinzelt Universitäten, die Kurse, die Seminare zum Thema Legistik anbieten. Aber es ist eigentlich eine Fähigkeit, die man erst im Beruf als Jurist, Juristin in einer Legistikabteilung lernt.
LUKÁŠ: Und arbeiten Sie auch regelmäßig an Gesetzesentwürfen mit?
RATTINGER: Ja, wir sind in der Abteilung, die in ihrem Abteilungsnamen schon den Begriff Legistik beinhaltet, dafür zuständig, Gesetzestexte zu schreiben. Wir beantworten also nicht nur Rechtsfragen, die sich im Parlament Tag für Tag stellen. Es ist aber nicht so, dass wir alle Gesetze schreiben würden, die im Parlament beschlossen werden. Das muss ich gleich dazu sagen. Wir sind für einen sehr eingegrenzten Themenbereich zuständig, nämlich für die Gesetze, die das Verfahren im Parlament selbst betreffen, beziehungsweise die Gesetze, die auch die Rechte und Pflichten von Abgeordneten betreffen. Das heißt, etwa Änderungen der Strafgesetze oder der Steuergesetze werden nicht von uns geschrieben, sondern von den Kolleginnen und Kollegen aus den fachlich zuständigen Ministerien in der Regel. Das wäre jetzt beim Strafrecht das Bundesministerium für Justiz, bei den Steuergesetzen das Finanzministerium.
RATTINGER: Dann wende ich mich Ihnen zu, Herr Somek. Wir sitzen hier im Café des Besucherzentrums des Parlaments, ein schöner Ort und offen für alle Bürgerinnen und Bürger, mitten in diesem herrlich renovierten Parlamentsgebäude. Ist das ein guter Ort, um über das Wesen der Gesetze zu sprechen?
SOMEK: Wahrscheinlich ist es das, weil ja die Gesetze in einem Verfassungsstaat von den politischen Kräften, die im Parlament repräsentiert sind, letztlich beschlossen werden. Aber wir dürfen, und Magister Rattinger hat es schon erwähnt, nicht vergessen, dass viele Gruppen und viele andere Institutionen an der Planung eines solchen Gesetzesvorhabens beteiligt sind. Denn die meisten Gesetze kommen ja – ich sage es jetzt einmal ganz abstrakt – aus der Verwaltung. Die Bürokratie entwickelt die Gesetze und sie entwickelt die Gesetze aber auch in Auseinandersetzung mit den Interessensvertretungen, in Auseinandersetzung mit Gruppen in der Zivilgesellschaft. Das heißt, da gibt es vorher einen Prozess, den man durchaus, wenn man einen schönen Ausdruck dafür verwenden, einen idealisierenden Ausdruck dafür verwenden will, einen Diskussionsprozess nennen könnte. Den gibt es, bevor überhaupt einmal die Regierung dann eine Vorlage macht im Parlament. Und dann tritt das Parlament auf den Plan und ist eigentlich im zweiten Schritt dann damit befasst: Wollen wir das überhaupt so durchgehen lassen? Wo sind Änderungen notwendig, wo sind Ergänzungen zu machen? Und da beginnt dann eigentlich erst der parlamentarische Prozess, der aber sehr wichtig ist, weil dann hier die politischen Repräsentanten sitzen, die sich auch einer Wahl und einer Wiederwahl stellen müssen. Also da ist dann der Kern der eigentlichen politischen Verantwortung, im Parlament. Aber vorbereitet wird es in der weiteren Gesellschaft, was völlig okay ist, weil die Angehörigen von Verbänden zum Beispiel oder auch die Ministerialbürokratie oft mit den Materien, mit der Sache, die da geregelt wird, besser vertraut sind als der eine oder die andere Abgeordnete, die auch natürlich wieder ihr Spezialgebiet haben. So wird auch viel Wissen aufgesammelt und konzentriert im Gesetzgebungsverfahren.
LUKÁŠ: Darf ich Sie einladen, dass wir uns zu unserem nächsten Ort auf unserem Spaziergang begeben? Wollen wir das für unsere Hörerinnen und Hörern noch mal kurz zusammenfassen? Der Impuls für ein neues Gesetz kommt aus der Bevölkerung oder aus einer Bevölkerungsgruppe oder aus einer Interessensgruppe und kommt dann zur Verwaltung, hat man gehört. Kommt dann ins Parlament, wird diskutiert und wird dann von der Verwaltung umgesetzt.
SOMEK: So ungefähr kann man sich das vorstellen, ja genau!
RATTINGER: Darf ich ganz kurz vielleicht etwas aus der Parlamentssicht einwerfen?
LUKÁŠ: Gern.
RATTINGER: Im Lehrbuch steht es so, dass die Regierungsvorlage der Standardfall oder der am meisten vorkommende Fall der Gesetzesinitiative ist. Da sehen wir in den letzten Jahren, und ich glaube, es war sogar im letzten Jahr so, eine gewisse Trendwende. Es hat jetzt im letzten Jahr fast gleich viele Initiativanträge, also Anträge, die aus dem Parlament selbst heraus im Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurden, gegeben wie Regierungsvorlagen. Das ist also eine gewisse Entwicklung, die interessant ist und auf die ich ganz gern hinweisen würde. Es stimmt aber natürlich, und ich habe es auch einleitend erwähnt, dass es in den Ministerien Legistikerinnen und Legistiker gibt, die ein Spezialgebiet haben. Sei es das Steuerrecht, sei es das Strafrecht. Und dass dort sehr viel von der legistischen Vorbereitung von Gesetzesvorschlägen passiert, die dann in Form von Regierungsvorlagen – Sie haben es gesagt, Professor Somek – an den Nationalrat übermittelt werden, wo das Gesetzgebungsverfahren beginnt.
LUKÁŠ: Und warum hat sich das so entwickelt? Vielleicht kann man das kurz beantworten. Woher kommt dieser neue Trend?
RATTINGER: Das kann ich nicht aus bestimmten Umständen ableiten. Bei uns in der Parlamentsdirektion gibt es Personen, die sich mit Statistik befassen und die eben auf das hingewiesen haben, dass Regierungsvorlagen und Initiativanträge nahezu gleichauf sind.
SOMEK: Das habe ich nicht gewusst. Interessante Entwicklung. Jetzt muss ich weiterfragen. Entschuldigung.
LUKÁŠ: Jetzt hat er leider ein interessantes Thema aufgemacht.
SOMEK: Kommt das von der Opposition? Kommen die Initiativanträge von der Opposition?
RATTINGER: Es gibt sehr viele Initiativanträge von den Regierungsfraktionen, die im Nationalrat eingebracht werden.
SOMEK: Interessant.
RATTINGER: Aber natürlich auch Initiativanträge der Oppositionsfraktionen in gleicher Weise.
SOMEK: Mein Kollege Clemens Jabloner beklagt den Bedeutungsverlust der traditionellen Bürokratie, der Angestelltenbeamtenschaft, weil die Minister ihr eigenes Team mitbringen in die Ministerbüros. Er sieht dort eine gewisse Verarmung an Kompetenz, die er sehr bedauert, vielleicht hat es damit zu tun. Ich weiß es nicht. Jedenfalls interessant. Interessante Frage. Jetzt sind wir an einem schönen Ort gelandet. Ich würde kurz Ihre Rolle übernehmen.
LUKÁŠ: Sehr gerne, bitte.
SOMEK: Wir sind jetzt bei der Bundesversammlung, nicht wahr?
RATTINGER: Genau, auf dem Balkon.
SOMEK: Auf dem Balkon. Das war früher der Reichsrat in der Monarchie, nicht wahr?
RATTINGER: Ja.
LUKÁŠ: Wollen wir uns vielleicht da herbegeben auf den Balkon? Das ist so schön hier, wie wunderbar. Ein wunderbarer Ort, um kurz die nächste Frage mit Ihnen, Herr Rattinger, zu klären. Und zwar ist es ja für uns Nicht-Juristen immer sehr schwer zu begreifen: die Diskrepanz zwischen der recht praktischen Auswirkung der Gesetze auf uns alle in den Situationen, wo sie zutreffen, und der sehr technischen Sprache, die wir oft gar nicht verstehen und die quasi als Juristendeutsch berühmt berüchtigt ist. Können Sie uns vielleicht einmal eine juristisch astreine Definition des Begriffs "Gesetz" aus dem Lehrbuch geben? Einmal kurz eine astreine Wikipedia Auskunft hier geben?
RATTINGER: Für eine astreine Definition muss ich ein wenig ausholen, weil wir in der Rechtswissenschaft zwischen zwei...
LUKÁŠ: 20 Minuten später...
RATTINGER: Ich versuche, es kurz zu halten und so zu fassen, dass es verständlich ist. Wir unterscheiden in der Rechtswissenschaft zwei Gesetzesbegriffe voneinander: das Gesetz im formellen Sinn und das Gesetz im materiellen Sinn. Beim formellen Gesetzesbegriff schaut man auf das Verfahren, wie eine Regelung zustande kommt. Also vor allem, wer die Regelung beschlossen hat. Und Gesetz im formellen Sinn ist in diesem Sinne jede Regelung, die im Parlament beschlossen wird und als Gesetz kundgemacht, also veröffentlicht wird. In Österreich gibt es eigene Gesetzgebungsorgane, deren Aufgabe es ist, solche formellen Gesetze zu erlassen. Das ist, wir sind jetzt in Wien im Parlament, auf Bundesebene das Parlament, bestehend aus Nationalrat und Bundesrat, und in den Ländern gibt es die Landtage dafür. Beim materiellen Gesetzesbegriff schaut man nicht auf das Verfahren der Entstehung, also die Form, sondern man schaut auf den Inhalt der Regelung, also die Materie, wie wir es nennen. Und materielles Gesetz ist jede Regelung, die sich an einen größeren Personenkreis richten soll und die eine Vielzahl an Fällen in der Zukunft regelt. Wir sprechen in dem Zusammenhang von generell abstrakten Regelungen. Wenn wir jetzt im Parlament sind und über Gesetze reden, meinen wir damit in der Regel Gesetze im formellen Sinn, also solche, die hier beschlossen werden. Wobei man dazu sagen muss, Gesetze im formellen Sinn, also solche, die hier beschlossen werden, regeln auch oft in den meisten Fällen viele Fälle für die Zukunft und richten sich an einen großen Personenkreis. Das heißt, ein Gesetz im formellen Sinn ist sehr oft auch ein Gesetz im materiellen Sinn, ist es aber nicht zwingend.
LUKÁŠ: Und jetzt stellen wir dem Ganzen die philosophische Sicht "Was ist ein Gesetz?" gegenüber, denn vielleicht bekommen wir da schon die Kurve zu einer einfacheren Definition. Wer weiß?
SOMEK: Ich fange dort an, wo der Herr Magister Rattinger aufgehört hat, beim zweiten Verständnis vom Gesetz im materiellen Sinn, jede allgemeine Regel. Dahinter steht eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wie eine Gesellschaft geordnet sein soll und was die Voraussetzung dafür ist, nämlich dass alle eigentlich gleich sind. Wir haben keine Sondergesetze für bestimmte Stände, wir haben keine Sondergesetze für den Adel, für das Bürgertum, das Bauerntum in allgemeinen Regeln. Deswegen heißt ja unser Zivilrechtsgesetzbuch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, für alle gleich. Das ist die Vorstellung von Gesetz, die insbesondere mit dem Siegeszug des Liberalismus im 19. Jahrhundert in Verbindung steht, denn der Liberalismus war ja im Wesentlichen die politische Strömung, die auf Freiheit und Gleichheit aller – immer mit gewissen Abstrichen, die lasse ich jetzt aus – gepocht hat. Das waren die wichtigen Werte, für die das gestanden ist. Und ein Gesetz ist nur ein wirkliches Gesetz, etwas, was würdig ist, ein Gesetz genannt zu werden, wenn es eine allgemeine Regel ist, die für alle gleich gilt. Das wäre eine philosophische Anmerkung, die man dazu machen kann. Die andere Anmerkung, wenn Sie mir die gestatten ist, die, die über die menschlichen Gesetze hinausgeht. Nämlich die Vorstellung vom Gesetz, die uns in der antiken Philosophie begegnet, in der mittelalterlichen Philosophie. Da ist das Gesetz jede vernünftige Anordnung. Vernunft ist das, was da im Hintergrund steht, und vielleicht komme ich auf das ein bisschen später wieder zurück. Alles, was vernünftig ist, ist ein Gesetz.
LUKÁŠ: Ich finde, das ist eigentlich ein ganz guter Moment, um darüber zu sprechen, denn wenn wir da runterschauen in den Bundesversammlungssaal, dann stehen dort ja einige römische Statuen. Kenner erkennen Cato, Cicero, Augustus. Die Statuen der griechischen Staatsmänner standen vor der Zerstörung im zweiten Weltkrieg im Nationalratssaal. Die kann man sich heute leider nicht mehr anschauen.
SOMEK: Die sind kaputt.
LUKÁŠ: Opfer des Krieges. Eine Frage an Sie beide, wo wir schon kurz damit begonnen haben. Wenn Sie vergleichen: das Verständnis von Recht und Gesetz damals in der Antike und heute. Da gibt es dann doch eine große Veränderung von der Vernunft hin mehr zum Verständnis für das gleiche Recht für alle. Denn Vernunft ist ja immer aus der Perspektive heraus vernünftig.
SOMEK: Genau so haben sie es in der Antike nicht verstanden. Sie wären damals eine Ideologiekritikerin gewesen, so würde man Sie bezeichnen. Sie entlarven diejenigen, die von sich behaupten, wir haben die allgemeine Vernunft, als eine Gruppe, die eigentlich nur ihr eigenes Interesse verfolgt. Das war eine ideologiekritische Bemerkung. Gut!
LUKÁŠ: Pardon.
SOMEK: Nein, das ist gut, ausgezeichnet. Aber der Anspruch war, wenn das Gesetz Ausdruck der Vernunft ist, dann ist die Vernunft nur eine. Die Vernunft ist etwas, was die gesamte Schöpfungsordnung durchzieht. Cicero ist da irgendwo. Cicero hat die Vorstellung gehabt, es gibt ein ewiges Gesetz. Das ewige Gesetz durchwaltet den gesamten Kosmos. Alle kosmischen Bewegungen, bis ins Kleinste, bis in unsere Verhaltensweisen sind vom ewigen Gesetz, Nomos, gesteuert. Wir haben als Menschen Einsicht in den Teil, der unser Verhalten betrifft. Aber das ist natürlich universell gültig, und wer die Ratio hat, der sieht dann diese... Wer die richtige Vernunft hat, Entschuldigung, ich soll kein Latein verwenden.
LUKÁŠ: Doch, wenn Sie es übersetzen, dann geht es.
SOMEK: Wer die richtige Vernunft hat, der wird dann einsehen, was richtig ist und was falsch ist. Und die Frage ist nur, wer hat die richtige Vernunft?
LUKÁŠ: Und, wer hat die richtige Vernunft?
SOMEK: Die Aristokraten, die Gebildeten haben die richtige Vernunft, das war die Antwort.
LUKÁŠ: Natürlich.
SOMEK: Und das einzige Problem, das sich dann weiter in der Antike gestellt hat: Wie integrieren wir das Volk, das etwas kurzsichtiger ist, aber dennoch sein muss und seinen Platz haben muss in unserer Gesellschaft, in eine Ordnung, wo eigentlich die Aristokraten alles vorgeben sollten? Und die Lösung war, wir mischen Aristokratie und Demokratie, und dann sind wir eigentlich schon sehr nahe an dem, was wir heute haben, nämlich eine Republik. Die Republik war die Lösung dieses Problems. Cicero verteidigt dann in seinem Buch über die Republik, De Re Publica, diese gemischte Verfassung. Aber das Schwergewicht liegt bei denen, die die Einsicht haben in das ewige Weltgesetz.
LUKÁŠ: Wunderbar! Bevor wir uns jetzt noch die Meinung vom Herrn Rattinger zu dieser Frage abholen, stehen wir schon wieder auf und spazieren weiter. Der Ort, wo wir hingehen, bleibt ein Geheimnis.
RATTINGER: Hoffentlich nicht auch für uns.
LUKÁŠ: Es bleibt sehr spannend.
SOMEK: Jetzt werden uns die Augen verbunden.
LUKÁŠ: So spannend machen wir es dann auch nicht. Und unsere Hörerinnen sind quasi blind mit uns, wenn wir ihnen nicht beschreiben, wo wir hingehen. Also, es wäre nur fair, eigentlich. Herr Rattinger, Unterschied zwischen antiker Gesetzgebung und heutiger Gesetzgebung. Haben Sie da auch was beizusteuern?
RATTINGER: Wenn man aufs Recht als Ganzes blickt und das Recht der Antike vielleicht mit der heutigen Zeit vergleicht, dann würde ich sagen, dass wir in der heutigen Zeit eine sehr hohe Regelungsdichte haben, die auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen ist. Zum einen den technischen Fortschritt, zum anderen aber auch die starke Vernetzung zwischen den Staaten, die es heute gibt. Technischen Fortschritt, würde ich sagen, die gesamten technischen Entwicklungen, die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass wir in unserem Zusammenleben als Gesellschaft Unterschiede sehen und Bereiche, wo es Regelungen, wo es Gesetze braucht. Ein Thema, das jetzt sehr oft diskutiert wird, das man sehr oft hört, es ist in aller Munde: Künstliche Intelligenz. Es gibt die Vorteile, die mit ihrer Nutzung einhergehen, aber auch Gefahren, die man in gewisser Weise regulieren sollte. Und auf EU-Ebene gibt es beispielsweise schon einen ersten Ansatz für so einen Rechtsakt, den AI-Act, Artificial Intelligence Act. Auch in Österreich setzt man sich mit dem Thema immer mehr auseinander. Das heißt, ich würde sagen, aller Voraussicht nach hat man in nächster Zeit mit Regelungen in dem Bereich zu rechnen.
LUKÁŠ: Das ist ein super konkretes Beispiel, an dem wir jetzt auch gleich die Funktion der Gesetze darstellen können, wenn Ihnen das recht ist. Was müssen Gesetze leisten? Und machen wir es an diesem AI-Act auf, der wirklich alle Menschen brennend interessiert derzeit.
RATTINGER: Im demokratischen Rechtsstaat Österreich hat das Gesetz die zentrale rechtliche Steuerungsfunktion.
LUKÁŠ: Was heißt das?
RATTINGER: Es gibt im Rechtsstaat das sogenannte Legalitätsprinzip. Das bedeutet, dass das gesamte staatliche Handeln eine Grundlage in einem Gesetz haben muss. Das heißt, dass ein Gesetz die wesentlichen Vorgaben gibt dafür, wie der Staat, wie eine Behörde, wie ein Gericht handelt. Dadurch wird das Recht oder das staatliche Handeln vorhersehbar für den Bürger, für die Bürgerin. Und daneben ist das Wesentliche von Gesetzen, wenn man es unter dem demokratischen Aspekt ansieht, dass das Gesetz mit dem Willen das Volk zum Ausdruck bringt und es demokratisch legitimiert ist, weil es in einem Gesetzgebungsverfahren stattfindet, im Parlament beschlossen wird. Also in der Regel, die in der Verfassung festgelegt ist für den Ausdruck des Willens der Mehrheit. Neben diesen beiden Funktionen, nämlich einerseits Bindung des Staates an bestimmte Regeln...
LUKÁŠ: Und hat diese Funktion, wenn ich Sie ganz kurz unterbrechen darf, auch einen Namen? So etwas wie Schutzfunktion oder Rechtssicherheit? Gibt es da ein Schlagwort?
RATTINGER: Ja, es gibt mehrere Funktionen von Gesetzen. Das ist ganz abhängig vom Inhalt. Es gibt die Schutzfunktion, Sie haben es schon genannt. Gesetze sollen einen gewissen Schutz ermöglichen. Man denkt da zum Beispiel an Gesetze, die bestimmte Personen, Personengruppen vor negativen Einflüssen und Gefahren schützen soll. Es gibt aber beispielsweise auch, Professor Somek hat es vorher schon erwähnt, die Ordnungsfunktion des Gesetzes. Gesetze sind dazu da, das Gemeinschaftsleben in einer gewissen Weise zu ordnen, zu steuern, zu regulieren. Und Gesetze haben zusätzlich beispielsweise auch eine Ausgleichsfunktion. Also sie sind da, um einen Ausgleich in der Gesellschaft zu ermöglichen. Das wären so Funktionen von Gesetzen, die mir jetzt auf die Schnelle einfallen.
LUKÁŠ: Vielen Dank, weil dann können wir normalen Bürgerinnen und Bürger das ein bisschen besser in unseren Köpfen ordnen, die Informationen, die wir dazu kriegen. Das hilft uns, finde ich, so Begrifflichkeiten, uns in diesem Dschungel zurechtzufinden. Herr Somek, aus diesen Funktionen heraus hat man schon ein bisschen gehört, wozu wir Menschen Gesetze überhaupt brauchen. Nichts desto trotz: Vielleicht hätten Sie noch weitere Argumente. Warum brauchen Menschen Gesetze?
SOMEK: Ich habe es schon anklingen lassen. Jetzt versuche ich, den Faden wieder aufzunehmen: die Vernunft. Denken Sie jetzt gar nicht an die menschliche Gemeinschaft, denken Sie an uns selbst. Wir machen uns gute Vorsätze. Wir wollen jetzt ins Gym gehen, mindestens zweimal in der Woche. Ja, guter Vorsatz! Wir teilen uns die Woche so ein, dass wir Dienstag und Donnerstag ins Gym gehen, weil am Wochenende wollen wir das Leben genießen, aber Dienstag und Donnerstag gehen wir ins Gym. Das heißt, wir haben uns eine Regel gemacht. Wir haben eine Regel gemacht, damit wir ein Ziel möglichst gut, vernünftig, effizient erreichen können. Wir brauchen gar nicht in die Gesellschaft blicken, um zu sehen: Wer sich vernünftig verhalten will, muss sich irgendwann mal bestimmte Regeln setzen. Und das müssen wir natürlich in der Gesellschaft auch. Es gibt noch einen Grund, warum die Gesetze so wichtig sind, das ist der primitivste Grund, der noch nicht genannt worden ist. Wir haben ein Verfassungssystem. Im Verfassungssystem begegnen uns unterschiedliche Akteure. Es gibt einen Akteur, der der allerwichtigste ist, aber auch der gefährlichste: Das ist die Exekutive und die Verwaltung. Warum? Weil die Exekutive kann viel tun, die hat viele Ressourcen, und die Exekutive verhängt auch letztlich Sanktionen. Sie kann Menschen einschüchtern, einsperren, wegsperren. Wenn es hart auf hart geht, braucht man die Exekutive. Aber Macht verführt natürlich dazu, dass man sie zum eigenen Zweck gebraucht oder missbraucht oder falsch gebraucht. Deswegen braucht man im Verfassungssystem, wo die Exekutive immer schon der Hauptverdächtige ist, eine Kraft, die diese Hauptverdächtigen eingrenzt. Der Herr Rattinger hat schon gesagt: Deswegen haben wir ein Legalitätsprinzip. Deswegen haben wir eine Gesetzgebung, die die Verwaltung vorprogrammiert, ihr das Programm vorgibt, nachdem sie handeln sollen. Und das, auch sehr wichtig hier im Parlament, darf man gar nicht vergessen, immer wieder unangenehme Fragen stellt. Das ist sehr wichtig, dass wir jetzt auch sehen, welche Rolle das Gesetz im Verfassungssystem betrifft, und dass wir froh sind, dass es die Exekutive gibt, aber nur dann, wenn sie auch unter der Kontrolle der Legislative ist. Der Vorkontrolle und der Nachkontrolle. Beides ist sehr wichtig.
LUKÁŠ: Alle kontrollieren alle.
SOMEK: Auch das ist letztlich so in einem guten Verfassungssystem. Deswegen nennt man es auf Englisch, und das muss ich nicht übersetzen, weil unser Publikum kann ja mittlerweile Englisch, ein System von Checks und Balances, Überprüfungen und Gleichgewicht zwischen den Gewalten. Eine berühmte Idee von James Madison, entwickelt am Vorabend der Erlassung der amerikanischen Verfassung, von einem großen Denker, James Madison, der später auch Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist. Das spricht jetzt nicht dagegen, dass er ein großer Denker war. Er war tatsächlich auch ein großer Denker, obwohl er Präsident war.
LUKÁŠ: Das kann sich alles kombinieren. Übrigens, wer es akustisch noch nicht erraten hat, wir sind vorhin über die Wendeltreppen nicht gewandelt, sondern gewendelt sozusagen. Und sind jetzt hier in der Säulenhalle angekommen, ein Raum mit viel Hall, aber wunderschönem Hall. Herr Rattinger, bevor wir uns weiter den Gesetzen widmen thematisch, würde ich Ihnen noch drei kleine Fragen stellen zu Ihrer Person.
RATTINGER: Sehr gerne.
LUKÁŠ: Ist das für Sie in Ordnung?
RATTINGER: Ja.
LUKÁŠ: Fein. Frühling oder Herbst?
RATTINGER: Ich mag beides, Frühling und Herbst. Sie werden vermutlich eine Entscheidung von mir hören wollen. Dann würde ich zum Frühling tendieren, weil sich das Leben wieder nach draußen verlagert, was mir mehr gefällt, und das Wetter in Wien am Jahresbeginn doch immer bisschen trüb ist und dann besser wird.
LUKÁŠ: Jänner in Wien ist nicht der beste Monat, muss man sagen.
RATTINGER: Stimmt.
LUKÁŠ: Im Jahreslauf. Kompromiss oder beste Lösung?
RATTINGER: Im Idealfall beste Lösung. Realistisch gesehen braucht es aber oft ein Kompromiss, und nur, wenn man für den Kompromiss auch wirklich zugänglich ist, kann es dann am Ende eine Lösung geben, die für alle annehmbar ist. Sonst könnte es sein, dass es gar keine Lösung gibt.
LUKÁŠ: Und letzte Frage, wo fängt für Sie Demokratie an?
RATTINGER: Demokratie fangt an bei regelmäßig wiederkehrenden freien und geheimen Wahlen, würde ich sagen.
LUKÁŠ: Vielen Dank. Und nun Sie, Herr Somek, der Fragenkatalog. Frühling oder Herbst?
SOMEK: Ich tendiere zum Herbst, erstens, weil ich melancholisch veranlagt bin und der Herbst eine wunderbare Jahreszeit ist, um seine Melancholie auszuleben. Und zweitens, weil ich Allergien habe im Frühling, also Herbst.
LUKÁŠ: Das ist ein sehr guter Grund, der nicht zum ersten Mal genannt wird.
SOMEK: Die Melancholie ist auch ein guter Grund.
LUKÁŠ: Die wird zum ersten Mal genannt, aber die Pollen waren schon öfter hier. Zweite Frage: Kompromiss oder beste Lösung?
SOMEK: Da leuchtet mir der Gegensatz nicht ganz ein, denn ich halte den Kompromiss für die beste Lösung. Warum? Wenn bei der besten Lösung nicht alle zugestimmt haben, werden die, die überstimmt worden sind, immer wieder dagegen sein. Beim Kompromiss, wenn alle freiwillig zugestimmt haben, ist es so, dass der Kompromiss dann von allen getragen wird. Das ist das stabilere Ergebnis. Wenn alle ein bisschen unzufrieden sind, damit kann man leben. Es geht.
LUKÁŠ: Jetzt sind wir da, wo die Gesetze beschlossen werden. Im Nationalratssaal, sehr schön. Und wir haben aber noch eine letzte Frage übrig. Wo fängt für Sie Demokratie an?
SOMEK: Demokratie fängt an im gänzlich unüberheblichen und zwanglosen Umgang der Menschen untereinander. Es gibt ein Buch, das ich allen empfehlen kann. Gibt es in deutscher Übersetzung, original in Französisch von Alexis de Tocqueville: "Über die Demokratie in Amerika". Da schreibt er, der Kern dieser demokratischen Gesellschaft, die dort entstanden ist, ist die Gleichheit der Lebensbedingungen. Die Menschen begegnen einander auf Augenhöhe, weil es gibt keine Aristokratie mehr, die ist weg. Alle sind irgendwie selbstständig, so hat er das gesehen, und das merkt man im Umgang miteinander. Da gibt's wechselseitigen Respekt, wir geben einander das gleiche. Da fängt die Demokratie an.
LUKÁŠ: Wen dieses Buch interessiert, der kann in unsere Shownotes schauen. Wir geben einen Verweis dazu rein.
SOMEK: Danke.
LUKÁŠ: Gerne, also Literatur immer gerne nennen. Unsere Hörerinnen und Hörer sind auch daran interessiert. Eine Frage für Sie beide, und da würde ich jetzt mit dem Herrn Rattinger beginnen, wo wir im Nationalratssaal stehen. Hier werden in Österreich die Bundesgesetze schließlich beschlossen. Die verschiedenen Länder der Welt haben ja alle ihr eigenes Rechtssystem, ihre eigenen Gesetze. Gibt es trotzdem Prinzipien, die allen Menschen gemachten Gesetzen zugrunde liegen, also eine Basis, die für alle gilt oder von allen eingehalten wird?
RATTINGER: Ja, ich würde sagen, alle Gesetze, egal wo sie beschlossen werden, versuchen in gewisser Weise, das menschliche Zusammenleben zu regeln, zu ordnen. Es wird in allen Ecken der Welt vermutlich das Gesetz niedergeschrieben. Man kann es nachlesen und sich daran orientieren, das Verhalten daran orientieren. Wissen, was man darf, was man nicht darf. Es wird vermutlich auch Regeln geben, wie die Gesetze beschlossen werden. Natürlich abhängig von der jeweiligen Staatsform ist es unterschiedlich, ob man jetzt in einer Demokratie ist oder nicht. Und Gesetze zielen vermutlich auch überall auf eine gewisse rechtliche Verbindlichkeit ab. Sie sollen Verhalten lenken, sie sollen sagen, was man darf, was man nicht darf. Und sie sollen Folgen daran knüpfen.
SOMEK: Ein amerikanischer Rechtsphilosoph namens Lon Fuller – ich kann ihnen dann gerne eine Literaturangabe geben, allerdings ist es noch nicht auf Deutsch übersetzt – hat gesagt, jedes Rechtssystem muss ganz bestimmten Grundsätzen genügen, damit es überhaupt als Rechtssystem erkennbar ist. Jedes Rechtssystem, auch wenn es politisch von unserem ganz fern ist, selbst Singapur. Und das sind folgende Prinzipien: Die Gesetze müssen so sein, dass sie verständlich sind, damit sich die Normadressaten auch an ihnen orientieren können. Wenn das Recht völlig unverständlich ist, dann kann man das Verhalten der Normadressaten nicht steuern damit.
LUKÁŠ: Entschuldigung, pardon, da interveniere ich jetzt für unsere Hörerinnen und Hörer. Dass sich die Normadressaten...?
SOMEK: Das heißt die, die sich ans Gesetz halten sollen. Diejenigen, die sich ans Gesetz halten sollen, müssen das Gesetz verstehen.
LUKÁŠ: Ja.
SOMEK: Im Idealfall sind Gesetze immer verständlich. Wenn diejenigen, die das Gesetz befolgen sollen, das Gesetz überhaupt nicht verstehen, weil die Sprache unverständlich ist. Oder nicht wissen, was sie tun sollen, weil sie zwei widersprüchliche Anordnungen bekommen haben. Oder sich nicht mehr auskennen, weil das Gesetz so schnell und so oft geändert wird. Oder frustriert sind, weil immer nachträglich eine Strafe für etwas gegeben wird, was sie getan haben, obwohl es damals noch nicht strafbar war. Das erzeugt Unmut, wenn man rückwirkend bestraft wird für etwas, was zum Zeitpunkt, als man die Tat gesetzt hat, noch nicht strafbar war – rückwirkende Strafgesetzgebung. All das, wenn die Prinzipen, die das verhindern – Verständlichkeit, mangelnde Widersprüche –, wenn die nicht beachtet werden, dann wird die Regulierung durch Recht nicht funktionieren. Er sagt, egal, welches politische Programm man hat, ob man weit rechts ist oder weit links ist, ob man Kommunist ist oder Faschist, diese Prinzipien muss man auf jeden Fall beachten. Da gibt es so etwas wie die interne Moral des Rechts. Aber es wird noch besser, wenn ich noch eine Sekunde Zeit habe. Fuller hat uns nämlich darauf aufmerksam gemacht: Wenn diese Prinzipien wegfallen, dann sind wir mit einer anderen Form der menschlichen Verhaltenssteuerung konfrontiert. Wenn irgendwas passiert in ihrem Betrieb und sie laden alle Angestellten – wir setzen uns an einen runden oder ovalen Tisch und reden dann darüber, durch gute Kommunikation lösen wir das Problem –, dann haben wir das nicht rechtlich gelöst, sondern mit Hilfe von Kommunikationsmitteln oder Mitteln der modernen Psychologie. Wenn von Situation zu Situation festgelegt wird, was die Leute tun sollen, oder wenn allgemeine Richtlinien bei Situationen jederzeit durchbrochen werden können, dann haben wir kein Rechtssystem mehr, dann haben wir Management vor uns. Der Fuller hat eine sehr schöne, klare, soziologische Sicht auf die Grenzen dessen, was wir eigentlich als Recht bezeichnen. Und dann müssen wir gar nicht über die Menschenwürde und so weiter reden, sondern ganz elementare Dinge, wie: Es muss Regeln geben. Die Regeln müssen verständlich sein, sich nicht widersprechen.
LUKÁŠ: Wir nähern uns dem Ende, und es gab schon wieder eine akustische Veränderung. Heute sind unsere Hörerinnen und Hörer gefordert. Und zwar sind wir jetzt nämlich im Besprechungsraum Fellerer-Wörle. Das waren die Architekten, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau des Parlaments geplant haben. Der Raum ist voller Kunst. Ein großer Bildschirm, ein runder Tisch, der schon erwähnt wurde und wieder sehr hohe Decken, modernes Licht. Hier also der Ort für die letzte Frage. Die hört sich im ersten Moment einfach an, aber es ist möglich, dass es keine ganz eindeutige Antwort darauf gibt. Herr Rattinger, ich würde wieder bei Ihnen anfangen. Was sind gute Gesetze und was sind schlechte Gesetze? Wobei diese Unterteilung von Anfang an sehr schwierig klingt. Und vielleicht können Sie beide, wo Sie sehr unterschiedliche Perspektiven heute zu jedem Thema beigesteuert haben, auch hier eine letzte Sicht aus Ihrer Profession heraus bieten.
RATTINGER: Ja, sehr gerne. Da kann ich ganz gut an dem anknüpfen, was Professor Somek zum Schluss gesagt hat, nämlich das klare und das verständliche Gesetz. Das ist jetzt meine berufliche Perspektive als Legist, der Gesetze schreibt. Man kann Gesetze daran messen, ob sie von der Sprache her verständlich sind, ob sie klar aufgebaut sind, und könnte dann sagen, ein Gesetz ist gut gemacht, gut geschrieben oder nicht. Man könnte Gesetze aber auch – die meisten Gesetze, die hier im Parlament beschlossen werden, haben eine Begründung, aus der man die Zielsetzung des Gesetzes ableiten kann – an der Erreichung dieser Ziele messen. Es wird also im Nachhinein nach einer gewissen Zeit messbar, ob das, was der Gesetzgeber regeln wollte, auch wirklich richtig umgesetzt werden konnte. Wenn man die Perspektive vom Rechtsanwender einnimmt, wir haben von der Exekutive gesprochen, wir haben von den Behörden, von den Gerichten gesprochen, dann könnten sich Personen, die an einem Gericht, in einer Behörde arbeiten, auch fragen: Ist das Gesetz auch wirklich tauglich für den Vollzug? Gibt es vielleicht Probleme in der Anwendung des Gesetzes, an die man beim Schreiben als Legist nicht gedacht hat oder die auch im Gesetzgebungsprozess im Parlament nicht bedacht wurden? Und man könnte auch aufgrund seiner persönlichen politischen Ansichten ein Gesetz für gut oder schlecht empfinden. Die Demokratie lebt von Meinungsvielfalt, das Parlament ist der Ort des Diskurses, wo Mehrheiten gefunden werden und die Mehrheiten dann auch im Gesetz ihren Ausfluss finden.
LUKÁŠ: Ich wünsche mir Beispiele. Ich wünsche mir ein Beispiel für ein gutes und ein Beispiel für ein schlechtes Gesetz.
RATTINGER: Das Paradebeispiel des schlechten Gesetzes, von dem wir im Jus-Studium lernen, ist die Lex imperfecta, das unvollständige Gesetz. Ein Gesetz, das zwar eine gewisse Anordnung trifft, also sagt, man muss etwas tun oder man darf etwas nicht tun, aber wenn man es trotzdem tut, passiert nichts. Es gibt keine Rechtsfolge, es gibt keine Sanktion, es gibt keine Strafe. Das ist ein gewissermaßen zahnloses Gesetz. Es führt zu einer Unglaubwürdigkeit.
LUKÁŠ: Das ist wie dieses Gesetz, das den Adel betrifft, oder? Es gibt ja dieses Gesetz, dass, wenn man Von-Titel weiterführt, eine Strafe verhängt wird, aber die Strafe ist derartig gering, dass sie komplett zahnlos und sinnlos ist in Österreich.
RATTINGER: Ja, es hat ein Beispiel gegeben im Tabak-Gesetz. Es gab eine gewisse Zeit lang ein Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden in Österreich. Die Person, die es gebrochen hat, musste mit keiner Folge rechnen. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert, es hat dann eine Änderung des Tabak-Gesetzes gegeben. Das Gesetz wurde dann durch Strafen durchsetzbar.
LUKÁŠ: Dann gebe ich Ihnen, die Schönheit eines guten Gesetzes an einem Beispiel darzulegen, bitte!
SOMEK: Ich muss jetzt das Erbauliche sagen, aber ich verweigere mich dem zunächst einmal und sage, wir haben ja in unserem Rechtsstaat einen Mechanismus, um schlechte Gesetze zu identifizieren: Das sind die verfassungswidrigen Gesetze. Und die Verfassungswidrigkeit hat mit unterschiedlichen Gründen zu tun. Man war gar nicht zuständig, das Gesetz zu erlassen. Schlechtes Gesetz. Ein Gesetz erreicht seinen Zweck nicht. Ein Gesetz beruht auf Vorurteilen, also hypothetisch. Ein Gesetz mit einem Inhalt vorbeuglicher Verhaftung aller Tschetschenen, die begehen so viele Verbrechen in Österreich. Wenn sich dann herausstellt, dass die Verbrechensrate nicht sinkt, weil die Tschetschenen nicht so gefährlich sind, wie wir glauben, dann hat dieses Gesetz auf einem schlimmen Vorurteil, auf einem ethnischen oder, wenn sie so wollen, rassistischen Vorurteil beruht. Das nennen wir dann wirklich ein schlechtes Gesetz. Klassisches Beispiel übrigens in dem Zusammenhang für das schlechte Gesetz: die Nürnberger Rassegesetze, die die Ehe zwischen Ariern und Juden verboten haben. Die Gesetzgebung in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus. Weitestgehend schlechte Gesetzgebung, und da sind sich heute viele darüber einig. Einer ist sogar so weit gegangen nach dem Zweiten Weltkrieg und hat gesagt: Die Gesetze der Nazizeit, wenn sie die Menschenwürde grundlegend verletzt haben, waren überhaupt kein Recht, weil sie so ungerecht waren. Also, es gibt schon Beispiele für schlechte Gesetze.
LUKÁŠ: Aber ich habe mir ja ein schönes Gesetz von Ihnen gewünscht.
SOMEK: Ein Beispiel für ein schönes Gesetz ist der Anfang der Europäischen Grundrechtecharta, die hat nachgeahmt, was im Bonner Grundgesetz steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
LUKÁŠ: Sehr gut, also, wenn das keine schönen Schlussworte sind.
SOMEK: Das ist ein schönes Gesetz.
LUKÁŠ: Nehmen wir. Ein schönes Gesetz. Sehr gut! Vielen Dank für die interessanten Erläuterungen. Ich hoffe, es war so weit verständlich, sage ich an dieser Stelle. Ich glaube, manches war verständlich, manches kann man noch mal nachhören, denn man kann diesen Podcast ja immer und immer wieder hören, bis man alles erfasst hat, was gesagt wurde. Es gibt Buchtipps, Lesetipps und danke für die Erweiterung unserer Sicht auf Gesetze. Danke fürs dabei sein und, dass Sie sich Zeit genommen haben.
RATTINGER: Danke, wir danken für die Einladung.
SOMEK: Danke.
LUKÁŠ: Das war es schon wieder mit dieser Folge. Ich hoffe, sie hat euch gefallen. Ich habe sie sehr spannend und interessant und abwechslungsreich gefunden. Es wäre toll, wenn ihr auch nächstes Mal wieder dabei wärt, denn dann geht es um die Frage, wie und wo es überhaupt losgeht mit der Gesetzwerdung. Da haben wir heute auch schon ein bisschen darüber gesprochen. Wie kommt der Stein ins Rollen, wenn ein neues Gesetz entsteht? Darüber werde ich mit meinen Gästen Martin Hoffer, dem Leiter der Rechtsdienste des ÖAMTC, und dem Politikwissenschaftler Dr. Peter Biegelbauer sprechen. Wenn ihr diese und alle weiteren Folgen von "Rund ums Parlament" nicht verpassen wollt, dann abonniert uns einfach auf Spotify, Apple Podcasts, Google Podcasts, Deezer oder Amazon Music. Und wenn ihr mögt, gebt uns dort gerne eine Bewertung, das würde uns sehr freuen. Falls ihr Fragen, Kritik oder Anregungen zum Podcast habt, dann schreibt uns gerne eine E-Mail an podcast@parlament.gv.at und vergesst nicht, auch mal auf der Website www.parlament.gv.at oder den Social-Media-Kanälen des österreichischen Parlaments vorbeizuschauen. Dort findet ihr jede Menge Informationen und aktuelle Angebote rund um das österreichische Parlament und zu unserer Demokratie. Also ich freue mich schon auf die nächste Folge mit euch. In diesem Sinne sage ich vielen Dank fürs Zuhören. Mein Name ist Tatjana Lukáš, wir hören uns.
Jingle: Rund ums Parlament, der Podcast des österreichischen Parlaments.