Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Rund ums Parlament", dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name ist Tatjana Lukáš, schön, dass ihr wieder dabei seid. Ich freue mich sehr, dass ich in dieser Folge mein Gespräch mit Heide Schmidt und Josef Cap fortsetzen kann. Wir widmen uns heute den Themen: Wie entstehen Gesetze und welche Rolle spielt die Opposition? Um diese zwei Fragen soll es unter anderem gehen, wie gesagt, mit zwei exponierten Persönlichkeiten aus Österreichs Politik, mit denen wir schon in der letzten Folge die Ehre hatten. Für alle, die die vergangene Folgen noch nicht gehört haben, was wir natürlich wärmstens empfehlen, um auch heute dem Gespräch gut folgen zu können, hier nochmal eine kleine Vorstellung meiner Gäste. Heide Schmidt, auf Ihre Initiative gründete sich 1993 das Liberale Forum, heute besser bekannt als NEOS, das Neue Österreich und Liberales Forum. Sie waren unter anderem Dritte Nationalratspräsidentin und haben in dieser Funktion auch eine besondere Rolle für die parlamentarischen Abläufe gespielt. Josef Cap, Sie waren 34 Jahre lang für die SPÖ Abgeordneter im Nationalrat, 14 Jahre lang Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten und vorher Bundesgeschäftsführer der Partei. Sie kennen die parteipolitische und parlamentarische Arbeit also bestens. Und nun sitzen wir wieder gemeinsam im Sprechzimmer neben dem Nationalratssaal. Ich darf gleich zu meiner ersten Frage kommen: In der Politik ist es ja ein bisschen wie im Leben, da ist man sich nicht immer einer Meinung und nicht jeder hat das gleiche Vorwissen. Wie können sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier bei der Gesetzgebung eigentlich unterstützen lassen? Gibt es sowas wie Räte, Gremien, und wie vereinbar ist das eigentlich mit dem politischen Tagesgeschäft?
Josef CAP: Ich habe mich immer mit einem Mikrofon und Lautsprecher auf einen Platz gestellt in einer Fußgängerzone und spontan mit den Menschen gesprochen und dort mir angehört, was sie wollen, was sie sagen, was sie fordern. Das war das eine. Das andere ist, ich mache die Umfragen immer selbst. Aber ich komme darauf, dass Umfragen oft sowieso mit dem übereinstimmen, was du dann in einem Betrieb oder in einem Gasthaus oder eben auf den Plätzen heraushörst. Das musst du berücksichtigen. Du kannst nicht sagen, die müssen wir noch bekehren die nächsten 30 Jahre, weil die sind auf dem falschen Trip. Sondern du musst versuchen, sie zu gewinnen, und da spielt das Emotionale eine große Rolle, die Metakommunikation. Zu glauben, das geht immer nur mit Worten - da muss man sparsam damit umgehen, dass man auch eine Gegenkritik einbringt. Man muss überzeugen, wie du gesagt hast. Demokratie ist auch Überzeugungsarbeit und das ist dort noch viel entscheidender langfristig, weil diese Stimmung beeinflusst dann die Wahlen. Das ist dann auch das Auftreten in elektronischen Medien, Print-Medien, wo du diese Kommunikation suchen musst und wo du versuchen musst, die Herzen und die Hirne der Menschen anzusprechen. Bruno Kreisky hat gesagt, man braucht, um Wahlen erfolgreich zu bestehen, Herz, Hirn und Geldbörsel. Geldbörsel im Sinne von soziale Unterstützung, Erleichterung, soziale Gerechtigkeit, funktionierendes Pensionssystem und so weiter. Das Hirn und das Herz müssen natürlich übereinstimmen. Das sieht man zu Beispiel – jetzt werde ich schon wieder zu lang – bei der Europäischen Union. Das Hirn ist die eine Sache, die Europäischen Union als Thema zum Beispiel höre in einer Versammlung. Das Herz ist wieder eine andere. Da bin ich mehr Österreicher.
LUKÁŠ: Ja, und das ist auch oft an Generationen gebunden, wie viel Herz bei dieser ganzen EU-Geschichte dabei ist. Aber das ist sicherlich ein anderes Thema.
Heide SCHMIDT: Ich habe zu dieser Frage eine andere Assoziation. Sie haben ja gefragt, welche Gremien, welche Räte es gibt. Da denke ich an das Reservoir, aus dem man die Expertise schöpfen kann. Da hat sich glücklicherweise viel getan. Denn als wir begonnen haben, haben wir kaum Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Klubs im Parlament gehabt. Das war für die Regierungsparteien, nehme ich jetzt mal an, dass ich das so richtig einschätze, nicht so ein Problem, weil die haben ihre Apparate gehabt. Die haben entweder auf die Expertise des Ministeriums zurückgreifen können in irgendeiner Kammer oder einer Partei und ähnliche Dinge mehr, wo sich Kompetenz konzentriert hat und organisiert hat. Aber eine Oppositionspartei hat es furchtbar schwer gehabt. Du hast erstens die Auskünfte, auch die Fachauskünfte, gar nicht so selbstverständlich bekommen in den jeweiligen Ministerien und in den sonstigen Institutionen erst recht nicht. Und du warst in deiner Recherche auf dich allein gestellt. Das kam noch dazu. Du hast als Abgeordnete kaum Unterstützung gehabt. Da haben wir immer sehr neidisch nach Deutschland geschaut, wo das Deutsche Parlament einen riesen Legislativdienst gehabt hat, der allen zur Verfügung gestanden ist, egal ob Regierungspartei oder Oppositionspartei. Und auch sonst eine ganz andere, auch finanzielle Ausstattung gehabt hat. Da hat das österreichische Parlament wirklich gleichgezogen, und das dient der Demokratie. Inzwischen gibt es eine gute Anzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die du bezahlen kannst und die dir Recherchearbeit machen können. Inzwischen gibt es einen eigenen Legislativdienst auch hier im Parlament. Es gibt einen eigenen Budgetdienst hier im Parlament, einen eigenen Verfassungsdienst. All das sind Dinge, bei denen du Expertise abfragen kannst. Nun bin ich nicht mehr hier. Ich weiß daher nicht, wie einfach es für oppositionelle Abgeordnete ist, denn das eine ist immer die Theorie und das andere die Praxis. Also über die Praxis kann ich nicht reden. Aber alleine, dass diese Ausstattung inzwischen da ist, das halte ich für einen wirklichen demokratiepolitischen Fortschritt und einen Fortschritt für die Arbeit der Abgeordneten. Und dann, wenn du dir diese Expertise holen kannst, weil die kannst du alleine nicht so sehr haben, dann ist es natürlich wichtig, und das hat Josef Cap angesprochen, das ein bisschen abzutesten in der Reaktion bei den Bürgerinnen und Bürgern. Verstehen die das? Wollen die das so? Und wenn sie es nicht wollen, warum wollen sie es nicht? Wenn sie etwas wollen, kannst du das verantworten? Kannst du ihnen da klar machen, was sie da eigentlich wollen? So ist es ja nicht. Das angebliche aufs Volk hören klingt zwar sehr schön, aber die Dinge eins zu eins zu übernehmen, nur weil das gerade eine Stimmung ist, ist verantwortungslos. Das heißt, du musst es an deinen Vorstellungen, an deinem Wertekatalog und an deinen Erfahrungen abklopfen und dich dann in die Auseinandersetzung begeben. Dann wird man sehen, was dabei herauskommt.
CAP: Darf ich etwas hinzufügen?
LUKÁŠ: Bitte.
CAP: Ich habe es nie probiert, aber ich bin daraufgekommen anhand von Beispielen: Die Bevölkerung ist nicht dumm. Wenn du versuchst, sie zu beschwindeln oder ihnen etwas vorzumachen, dann wirst du nur Schiffbruch erleiden. Sondern du musst versuchen, größtmöglich ehrlich mit ihnen zu kommunizieren. Was ist das? Die Warheit ist auch zumutbar.
LUKÁŠ: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, hat Ingeborg Bachmann gesagt. Aber ich würde dir gerne zustimmen. Nur, es ist mehr der Wunsch der Vater des Gedanken als die Realität. Und ich sage nicht, dass die Bevölkerung dumm ist, aber was sie bereit ist hinzunehmen und was sie bereit ist, in Kauf zu nehmen, erschreckt mich immer mehr. Die wesentliche Frage für unser auch individuelles Leben ist doch immer, welchen Preis zahlst du für diese oder jene Entscheidung? Was bedeutet der und bist du in der Lage, ihn zu zahlen? Und das muss sich auch eine Wählerin und ein Wähler fragen. Was nehme ich dafür in Kauf? Ich habe hohes Verständnis über Enttäuschungen, für Frustrationen, für das Abwenden von vielen politischen Ereignissen, habe ich hohes Verständnis. Aber wie reagiere ich darauf? Und in diesem, wie reagiere ich, liegt die Verantwortung jedes einzelnen. Und ich bin nicht bereit, es einfach hinzunehmen und zu sagen, das ist verständlich, weil bei dem, wie es jetzt zu geht, kann man ja nichts anderes erwarten.
CAP: Ich finde, das hängt mit der Vertrauenswürdigkeit der politisch Entscheidenden zusammen, der politischen Verantwortungsträger. Das ist einmal wichtig. Natürlich gibt es Kräfte, die versuchen, das dauernd zu untergraben, damit die möglichst keine Glaubwürdigkeit mehr haben, das politische System keine Glaubwürdigkeit mehr hat und dann macht man ein anderes System, das ist ja unbestritten. Aber dem musst du dich stellen.
SCHMIDT: Natürlich muss man sich dem stellen!
LUKÁŠ: Da sind wir irgendwie bei der Rolle der Opposition, weil das sind ja oft oppositionelle Kräfte, die da derzeit gerade am Wirken sind, beziehungsweise Stimmen besorgen. Die Rolle der Opposition im Gesetzgebungsprozess ist ja auch eine ganz besondere. Denn eigentlich kann ja die Regierungsmehrheit viele Entscheidungen und Gesetze unter sich aushandeln und Dinge beschließen. Frau Schmidt, warum braucht es eine Opposition bei diesem Prozess?
SCHMIDT: Erstens vertritt auch die Opposition einen Teil der Gesellschaft und wir wollen beim Gesetzgebungsprozess die gesamte Gesellschaft mitdenken. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist – wie ich schon in der letzten Folge über die Ausschussarbeit gesprochen habe –, dass den Menschen aus ihren Lebenswelten unterschiedliche Dinge auffallen und wir auch unterschiedliche Dinge wollen als Zielvorgabe. Das bildet sich in den Parteien und daher auch in den Oppositionsparteien ab. Und vor allem heißt Demokratie nicht, dass die Mehrheit einfach entscheidet, sondern Demokratie heißt, auch die Minderheit zu hören und vor allem, wenn sie schützenswert ist, was bei vielen Minderheiten der Fall ist, ihnen einen besonderen Stellenwert zu geben. Alles das kann Aufgabe einer Opposition sein.
LUKÁŠ: Herr Cap, finden Sie es gibt heute mehr Werkzeuge, um eine widerstandsfähige Opposition zu bilden?
CAP: Ja, sicher. Die Sozialdemokraten sind zum Beispiel jetzt in der Opposition. Die Freiheitlichen sind in der Opposition.
SCHMIDT: Die NEOS auch.
CAP: Die NEOS auch, die machen eine sehr wirksame Oppositionspolitik. Dort, wo sie Berührungspunkte haben, machen sie etwas gemeinsam, dort, wo sie keine Berührungspunkte haben, machen sie es nicht gemeinsan. Man wird sehen, wofür sich die Wählerinnen und Wähler am Ende des Tages entscheiden, wem sie das zutrauen, die Zukunftsfragen gestaltungsfähig auch zu bewältigen. Die vielen Umfragen, die man jetzt hört, das sind Momentaufnahmen, Stimmungen, da wollen sie manchmal auch die Machtträger ärgern. Das hast du ja alles auch dabei. Aber ich bin der Meinung, dass man, wenn es starke populistische Bewegung gibt – rechts wie links, Mélenchon in Frankreich, rechtspopulistische, die wir sowieso kennen –, denen musst du den thematischen, inhaltlichen Boden entziehen. Das geht schon auch. Dänemark beweist es. Die Sozialdemokraten haben dort die Rechtspopulisten auf unter zehn Prozent gehalten. Das ist ihnen gelungen. Dafür musst du auch eine entsprechende Politik machen, auf die Ängste der Menschen eingehen. Das ist nicht nur ein über den Kopf die Menschen überzeugen, es ist sie auch emotional zu gewinnen. Wenn du ihre Ängste nicht aufgreifst und berücksichtigst, verlierst du jede Auseinandersetzung, gerade in der heutigen Zeit. Und da gehöre ich zu denjenigen, wahrscheinlich wirst du mir jetzt widersprechen, die sagen: Es gibt bei den Wanderungen und Strömungen integrationsfähige Teile und es gibt auch nicht-integrationsfähige Teile und manche, die mit Waffengewalt alles zerstören wollen. Und darauf muss ich eingehen und Rücksicht nehmen. Ich habe immer gesagt, Integration vor Zuwanderung, das ist immer das Credo in der SPÖ. Zu schnell zu viel, wenn du das nicht verhinderst, dann wachst du eines Tages auf und die Gesellschaft schaut anders aus und die Demokratie schaut anders aus und die Regierung schaut sowieso anders aus. Das hat mit Opportunismus nichts zu tun, sondern es ist ein Versuch, einen Weg der Aufklärung trotzdem fortzusetzen und der Vernunft. Jetzt habe ich vielleicht provoziert.
SCHMIDT: Nein, ich will inhaltlich, ehrlich gestanden, nicht darauf eingehen, weil ich glaube, das ist dann ein anderes Thema.
LUKÁŠ: Danke.
SCHMIDT: Ich will versuchen, den Parlamentarismus und die Notwendigkeit des Parlamentarismus ein bisschen den Menschen nahezubringen, die damit nichts zu tun haben. Ich bin in einer Zeit groß geworden, als zwei große Parteien über einen Wählerzuspruch von über 90 Prozent verfügt haben.
CAP: Das stimmt.
SCHMIDT: SPÖ und ÖVP haben um die 93 Prozent gehabt. Muss man sich mal vorstellen. Damals gab es nur eine Oppositionspartei und das waren die Freiheitlichen, die haben um die sechs Prozent gehabt ungefähr. Einmal fünf, einmal vier, einmal sechs, das war die Größenordnung. Das hat übrigens eine, wenn Sie mich fragen, sogar subjektive Redlichkeit dieser beiden Großparteien gehabt, die nach dem Zweiten Weltkrieg einfach gesagt haben: "Wir sind Demokraten und wir wollen als Demokraten nichts anderes mehr ermöglichen. Wir wollen uns das Land aufteilen!", wenn ich diesen unschönen Satz sage. Aber er war, am Anfang zumindest, subjektiv redlich gemeint. Wenn wir ihn sozusagen als Demokraten beschützen, dann kommen wir nie wieder in eine solche Situation. Aber das hat letztlich dazu geführt, dass jemand, der sich nicht zu der einen oder anderen Partei bekannt hat, wirklich im Leben und im beruflichen Fortgang und in den Möglichkeiten extrem benachteiligt war. Also das, was wir heute immer noch unter Parteibuchwirtschaft verstehen, hat damals auch die subjektiv redliche Begründung gehabt, wir passen auf euch auf. Aber du hast dazugehören müssen. Das widerspricht sehr vielen, mir sowieso, die ich nicht irgendwo dazugehören möchte, bevor ich meine Chancen wahrnehme. Das sage ich jetzt, weil das zu einer Opposition geführt hat, die gesagt hat, so nicht. Aus dieser Opposition heraus hat sich in der weiteren Folge auch diese Haltung weiterentwickelt: wir müssen auch die Stimme von Menschen sein, die sich bei den großen und bei den Mehrheiten nicht wiederfinden und nicht abgebildet sind. Das gehört zu einer Demokratie dazu, dass du eben nicht nur zu den Mehrheiten gehörst. Du kannst mal da, mal da sein. Das hat auch dazu geführt, dass Oppositionsrechte im Parlament ausgebildet wurden. Die waren am Anfang nicht da, sondern die sind Schritt für Schritt eingeführt worden, weil man im Demokratieverständnis gesagt hat, auch dafür muss es verbriefte Rechte geben. Wenn du nur von der Mehrheit abhängig bist, bist du chancenlos. Das habe ich eben vorher auch gemeint, dass man Minderheiten abbildet, und diese Minderheiten, das müssen nicht ethnische und ich weiß nicht welche sein, sondern Meinungsminderheiten. Das gehört zur Demokratie dazu. Und dann gibt es allerdings natürlich den Mechanismus, dass Mehrheiten dann zu respektieren sind, auch wenn sie dir nicht gefallen. Aber die Auseinandersetzung vorher, bevor es zu dieser Beschlussfassung kommt, die dann eine Mehrheitsbeschlussfassung ist, ist ganz wichtig für die Menschen, dass auch ihre Meinungen gehört werden. Dass sie dann in die Medien Einlass finden und dann transportiert werden. Dass man zuhören kann, dass man es lesen kann. Das alles gehört zu einem Gemeinwesen dazu. Das kannst du nur machen, wenn du ein Parlament hast, dass das auch vorlebt. Wer sonst sollte es tun? Der Josef hat vorher gesagt, lieber hat er sie im Parlament als auf der Straße. Da hat er Recht. Und im Parlament, diese Auseinandersetzung dient daher, oder zumindest ist das die Zielvorgabe, der Demokratie.
CAP: Ich bin komplett deiner Meinung, eine Ergänzung noch: Die Abgeordneten haben sukzessive ab '83 immer mehr Arbeitsmöglichkeiten, Räume, Mitarbeiter.
SCHMIDT: Auch das!
CAP: In den Klubs hat es plötzlich Abstimmungen gegeben. Als ich damals '83 hereingewählt wurde, habe ich einen Antrag auf Abstimmung gestellt. Die haben mich alle angeschaut, haben gesagt, wieso stimmen wir da ab? Das war vorher nicht so üblich. Das ist aber ganz wichtig, weil dadurch hat sich der Handlungsspielraum der einzelnen Abgeordneten natürlich verbessert und es ist demokratischer geworden.
LUKÁŠ: Wissen Sie, was ich da heraushöre, auch mit dieser nach 1945-Retrospektive? Demokratie muss gelernt werden.
SCHMIDT: Absolut!
LUKÁŠ: Und Demokratie entwickelt sich und Demokratie entwickelt Werkzeuge. Das ist für mich jetzt ganz interessant zu wissen, Ihre aktive Zeit im Parlament ist ja bei Ihnen beiden vorbei. Merken Sie bis auf die Werkzeuge, die Sie bereits genannt haben, eine große Veränderung an der Arbeit hier? Wir sind ja hier in der Sphäre des Nationalrates, wir sind ganz nah, da haben Sie ja auch viel Zeit verbracht. Hat sich etwas geändert? Wenn ja, was? Was sind die größten Veränderungen, ist die Frage.
CAP: Die größten Veränderungen sind letztendlich die Kräfteverhältnisse. Die haben gerade sechs Prozent gehabt, jetzt haben sie in den Umfragen 32 Prozent, 31 Prozent, die Freiheitlichen. Das ist ein normaler demokratischer Vorgang, das ist zu respektieren.
SCHMIDT: Und die seinerzeit zwei staatstragenden Parteien stehen im Clinch nach unten.
CAP: Ja, die haben momentan gar keine Mehrheit, die zwei haben zum Beispiel nicht einmal eine einfache Mehrheit, das ist ein Faktum. Das ist eine Änderung der gesellschaftlichen Strukturen, der Aufstiegsperspektiven, das hast du schon richtig beschrieben. Früher hat man erwartet, man wird geschützt, man hat Unterstützung, wenn man einen Job sucht, wenn man eine Wohnung sucht, das ist alles vorbei. Das ist auch okay, jede Zeit hat ihre Kulturformen oder ihre politischen Strukturen und Ausgangssituationen. Das ist vorbei, und jetzt muss man mit dieser neuen Bedingung leben, auch mit den Medien. Heutzutage setzen Medien auf Themen, haben Medien oft Einfluss auf Personaldebatten, haben Medien Einfluss auf Meinungsbildungsprozesse hier im Haus. Vorher - allein, wenn ich daran denke, wenn der Jörg Haider eine Dringliche gestellt hat, da hat es sich abgespielt hier drin. Da war Power dahinter, da war eine Öffentlichkeit. Das muss man zur Kenntnis nehmen, der hat auch dazu einen Beitrag geleistet, Opposition ernst zu nehmen, weil es eine wirksame Opposition ist. Das ist teilweise dann akzeptiert worden, man hat das zur Kenntnis genommen und teilweise auch nicht. Das hilft aber nichts. Der Wähler entscheidet am Ende des Tages und die Wählerin und aus. Ich sehe das grundsätzlich zeitnah trotzdem positiv, weil das Schweigen einer 93-prozentigen Mehrheit, das war nicht sehr angenehm.
SCHMIDT: Aber ich bin mir nicht sicher in diesem Urteil, weil man die eigene Zeit mit einer anderen Befangenheit sieht als dann aus der Distanz. Aber mein Eindruck ist schon, dass die Sachbezogenheit in der Debatte abgenommen hat. Nichts will ich verklären, was in der Vergangenheit liegt und schon gar nicht aus der Oppositionsrolle. Aus dieser Rolle heraus kannst du es gar nichts verklären, weil du bist auf eine Weise manchmal behandelt worden, wo das Wort Demokratie dir nicht gerade in den Sinn gekommen ist. Aber ich glaube trotzdem, dass die Bereitschaft und auch die Fähigkeit zur Sachbezogenheit eine höhere war. Der Bazillus des Populismus und der Wirksamkeit des Populismus hat in den späten Achtzigern begonnen, und ich glaube, in Österreich hat er wirklich mit Haider begonnen. Das war ein besonders talentierter Politiker noch dazu, der das auf eine Weise professionell umgesetzt hat, dass es Erfolge gebracht hat. In der Politik gibt es kein stärkeres Argument als den Wahlerfolg. Erfolge sind immer starke Argumente, auch in der Privatwirtschaft. Aber der Wahlerfolg hat ein Gewicht in der Argumentation, dass er wirklich alles andere zertrümmern kann. Und wenn der Populismus daher so gelernt wird, wie er inzwischen gelernt wurde und sich als wählerwirksam und wählerinnenwirksam herausstellt, dann macht das auch vor den Gremien, ist gleich Parlament, nicht halt. Diese Art der Auseinandersetzung hat für mich an Substanz verloren, die ich erstens als Zuschauerin für bedauerlich halte. Aber ich glaube, es wirkt sich dann auch auf die Qualität der Gesetze aus. Da kommen so viele Dinge zusammen. Wir haben vorher mit einem Abgeordneten gesprochen, der das bestätigt hat, dass auch innerhalb der Beamtenschaft sich etwas verändert hat, und zwar auch was die Verantwortlichkeit und was die Qualität betrifft. Und dieser Qualitätsrückgang, den hast du in meinen Augen spürbar auf all diesen Ebenen, die im weitesten Sinne mit Politik verbunden sind und daher auch im Parlament. Das alles wiederum ist deswegen für mich demokratiegefährdend, weil es dazu führt, dass sich die Menschen abwenden und dass sie sich nicht mehr interessieren und dass sie alle in einen Topf werfen. Wenn sie einmal sich abgewendet haben und nicht mehr wählen gehen, dann passieren Dinge, die sie nicht wollen können. Ich fürchte, zu wenige sind sich bewusst, was sie damit anstellen.
LUKÁŠ: Im Nationalrat wird ja auch heftig gestritten. Wenn es zwischen den Abgeordneten so heiß hergeht, dann braucht es ja immer eigentlich auch einen Schiedsrichter. Eine oder einer der drei Nationalratspräsident:innen sitzt ja immer in der Mitte und schaut, dass die Diskussion trotz aller inhaltlichen Unterschiede im Rahmen bleibt. Frau Schmidt, sie waren ja selbst Dritte Nationalratspräsidentin. Hat man da die Rolle einer Schiedsrichterin inne?
SCHMIDT: Ich habe das so verstanden, dass es auch eine wichtige Aufgabe ist, wenn ich da oben sitze. Du musst dich allerdings auf eine Weise verhalten, dass du als Schiedsrichterin oder als Schiedsrichter auch akzeptiert und ernst genommen wirst. Insofern gibt es eine sehr, wie ich finde, kluge Usance, dass man sich als Parlamentspräsidentin oder -präsident nicht zu Wort meldet. Was du ja theoretisch kannst, denn du bist Abgeordneter, du könntest ans Rednerpult gehen und könntest dort Brandreden oder ich weiß nicht welche sachpolitischen Reden halten. Das ist aus guten Gründen nicht üblich, weil du dich als Rednerin und Redner immer einer ganz anderen Resonanz aussetzt. Das ist nur eine kleine Facette, die aber richtig ist. Das heißt, das über den Parteien stehende Verhalten, das im Anforderungsprofil für diese Funktion drinnen ist, das musst du auch beweisen. Ich glaube, dass die bisherigen Parlamentspräsidenten, und das macht für mich einen Unterschied zur weiteren Entwicklung, das auch tatsächlich geschafft haben. Ich glaube, auch ich habe es geschafft. Ich habe nur eine Erfahrung gemacht. Das ist, weil ich ja damals die FPÖ verlassen habe und aber von ihr nominiert war als als Parlamentspräsidentin. Ich habe diese Funktion behalten, obwohl ich aus der FPÖ ausgetreten bin und dann das Liberale Forum gegründet habe. Da gab es viele dort, die gesagt haben, das sei unzulässig, ich soll gefälligst meine Funktion zurücklegen. Ich habe sie damals nicht aus Eitelkeit behalten, sondern aus meinem Parlamentarismusverständnis heraus. Das meine ich jetzt wirklich so, ob man es mir nun glaubt oder nicht. Du wirst vorgeschlagen, aber du wirst dann gewählt vom ganzen Parlament. Ich habe mich als eine gewählte Dritte Parlamentspräsidentin empfunden und habe auch damit, dass ich geblieben bin, zum Ausdruck gebracht, dass ich diese Parteiverbindung in dieser Funktion gefälligst nicht zu spüren habe. Daher habe ich die Rufe, ich soll das gefälligst zurücklegen, auch für demokratiepolitisch und parlamentarisch für falsch gehalten. Aber ich weiß, es gibt bis heute welche, die was anderes erwartet haben von mir. Ich habe auch erlebt, wenn ich dann die Sitzung geleitet habe, und es gab dann die eine oder andere unangenehme Situation – die gibt es immer wieder, ob man das dann mit einem Ordnungsruf schafft oder mit sonstigen Worten –, dass die FPÖ, weil ich mich von ihr getrennt hatte, mich als Schiedsrichterin versucht hat zu beschädigen. Das halte ich für ein demokratiepolitisches Problem, für kein persönliches. Denn auch am Fußballplatz, wenn du das Gefühl hast, der Schiedsrichter pfeift falsch, du musst es akzeptieren. Du kannst ihm nicht ein Haxl stellen und ähnliches. Sie entschuldigen diesen Vergleich, aber aber es gehört schon dazu, dass man Funktionen respektiert. Das ist für mich jetzt auch eben die Frage der Demokratie. Zur Demokratie gehört dazu, Institutionen zu verteidigen. Aber gerade deswegen ist die Verantwortung derer, die sie ausüben, so groß, dass du nicht Anlass gibst, sie dann in Frage zu stellen. Und wir erleben das ja, dass das augenblicklich oftmals eine Diskussion ist. Ich habe auch oft ein Problem damit, mit mir werden auch manche ein Problem gehabt haben. Aber ich glaube die Argumentation – es gibt nur ein Vorschlagsrecht der Partei, aber dann ist es meine meine Aufgabe –, die war objektivierbar.
LUKÁŠ: Bevor wir jetzt zur letzten Frage kommen, interessiert mich noch: Herr Cap, hat die Frau Schmidt Sie mal zur Raison gerufen und einen Ordnungsruf in ihre Richtung geschleudert?
CAP: Ich habe in meinem ganzen Leben nur zwei Ordnungsrufe gekriegt in 34 Jahren.
LUKÁŠ: Wirklich?
CAP: Nur zwei! Und zwar zweimal, weil ich jemanden als "Pharisäer" bezeichnet habe und das ist nicht durchgegangen. Das verstehe ich nicht ganz.
SCHMIDT: Das verstehe ich auch nicht.
CAP: Das ist eine biblische Figur gewesen. Aber das habe ich abkassiert. Ansonsten war ich immer Anhänger des Floretts, der britischen Form der Auseinandersetzung, weil die viel mehr weh tut. Ich habe da einmal eine Rede gehalten in dem Haus zum Sebastian Kurz, das hat den Titel gehabt "Ich, ich, ich". Das ist durch das Internet gerauscht. Da haben die ÖVP-Abgeordneten mitgelacht gegen ihren eigenen potenziellen Vorsitzenden. Das ist das wirklich Erfreuliche, wenn einem sowas gelingt, muss ich ganz ehrlich sagen. Daran denke ich heute noch, wie er dann reingekommen ist und man gedacht hat, na, jetzt kommt er, jetzt kann er sich ja äußern. Der ist dann hereingekommen, gerade dass er nicht unter dem Teppich kommen wollte – es war herrlich! Also daran denke ich gerne zurück, nur in der Form. Ich bin ja auch Verfechter dessen gewesen, dass man bei diesem Wahlblock der Unabhängigen, die leider in ihrem Leben einen Fehler gemacht haben. War es halt Für viele war es am Anfang nicht ersichtlich und am Schluss konnten sie nicht mehr weg. Aber dieses, Demokratie muss versuchen zu überzeugen, zu integrieren, dass sowas nie wie wiederkommt, das kriegst du nicht, indem du die ächtest, sondern indem du das eben machst. Meine Mutter war auch am Heldenplatz. Das ist so. ... gewesen, sie ist schon lange tot, aber das muss man tun [...].
SCHMIDT: Das ist ein eigenes Thema, aber es ist ein wirklich diffiziles Thema. Das lässt sich nicht so einfach mit ja-nein beantworten.
CAP: Man muss ja nicht immer ja-nein sagen. Das ist ja nur in der Bibel, glaube ich, ist das, mit "deine Sprache sei ja, ja, nein, nein." Aber, wir können uns doch von der Bibel frei machen, oder?
LUKÁŠ: Dahin mit den Pharisäern!
CAP: Ich bin übrigens ein Fan vom Papst Francesco. Er hat die Unfehlbarkeit abgeschafft.
LUKÁŠ: Da gibt es auch unterschiedliche Meinungen, aber für die haben wir heute keine Zeit mehr. Religionsdiskussionen lassen wir heute außen vor.
CAP: Ewig schade. Weil jetzt geradedas Licht angegangen ist, das kann nur göttlich sein.
LUKÁŠ: Das ist ein göttliches Zeichen für die letzte Frage. Gott sei Dank ist sie recht kurz. Wir werden schauen, wie die Antworten ausfallen. Wenn Sie aus Ihrer Erfahrung heraus am Gesetzgebungsprozess etwas verändern könnten, was wäre das?
CAP: Höchstens inhaltlich. Es hat Gesetze gegeben, da hätte ich gerne gehabt, dass sie beschlossen werden. Es hat Gesetze gegeben, da hätte ich lieber gehabt, dass sie nicht beschlossen werden. Aber vom Gesetzgebungsprozess fällt mir nicht sehr viel ein, weil es muss ja funktionieren. Es hat keinen Sinn, wenn wir uns im alten Rom am Rostrum treffen mit dem Sulla, mit dem Marius, falls er da noch am Leben ist, das hat keinen Sinn. Ich bin für eine moderate Form der direkten Demokratie, aber schon für einen Ausbau dessen. Aber so, dass es am Ende des Tages in einem überschaubaren Zeitrahmen wirklich wirksame Gesetze gibt und die dann auch umsetzbar sind. Nicht, dass der Dilettantismus so vorherrscht, dass man ununterbrochen entweder von Verfassungsgerichtshof aufgehoben wird oder dann schon wieder die Lücken schließen muss. Das schadet. Das ist das, was ich interpretiere aus deinem Ruf nach der Expertise, die auch wirklich ein wichtiger Teil der Demokratie ist.
LUKÁŠ: Dürfte ich wetten, dass die studierte Juristin einen konkreten Vorschlag zur Verbesserung des Prozesses hat oder liege ich da falsch?
SCHMIDT: Da liegen sie falsch!
LUKÁŠ: Wirklich? Gott sei Dank, der Herr Cap freut sich.
SCHMIDT: Im Übrigen habe ich sogar Sozial- und Wirtschaftswissenschaften dazu studiert. Das sage ich deswegen dazu, weil, wenn man liberale Vorschläge gehabt hat, dann haben oftmals die Erzkonservativen gesagt, dass man von Wirtschaft keine Ahnung hat. Aber das war jetzt nur so ein kleiner Sidestep. Nein, wissen Sie, Sie haben nach dem Gesetzgebungsprozess gefragt. Ich glaube, dass die Spielregeln für den Prozess gut sind. Das glaube ich wirklich. Vor allem auch in Hinblick darauf, dass sie sich immer weiterentwickelt haben. Ich würde an diesen Spielregeln nichts ändern. Was das Bedauerliche ist, und das zu ändern ist eine Mammutaufgabe, die sie nicht mit einem Federstrich ändern können, ist die Qualität. Die Qualität einerseits der Gesetze selber. Das wiederum liegt auch daran, dass ich die Beamtenschaft wieder ernster nehmen muss als das in der letzten Zeit passiert ist. Dass ich vor allem auch dort die Qualifikation wieder an die Spitze stellen muss bei der Einstellung der Beamtenschaft. Da hat sich etwas verändert. Und an dieser Qualitätsschraube zu drehen, das schiene mir wichtig. Das zweite ist aber auch die Qualitätsschraube der Politikerinnen und Politiker. Da wiederum ist Wählerin und Wähler gefragt. Ich würde mir wünschen, dass Wählerinnen und Wähler weit kritischer in ihrer Stimmabgabe sind als ich jetzt manchmal das Gefühl habe. Dass sie etwas entweder klar honorieren oder auch klar abwählen. Zu sagen, es sind eh alle gleich, es ist wurscht, ist meiner Meinung nach ein teuflischer Weg für die Demokratie.
CAP: Einfach falsch.
SCHMIDT: Schöne letzte Worte! Vielen Dank für das Gespräch und für die vielen Anekdoten und Einblicke und Meinungen und alles, was Sie eingebracht haben in diese beiden Podcast Folgen. Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben für uns und unsere Hörerinnen und Hörer.
CAP: Wollen Sie eine Unterschrift für das Zertifikat, für das Seminar, was wir da vertont haben?
LUKÁŠ: Nein, das ist gratis. Das ist vom Parlament für die Welt.
SCHMIDT: Es tut mir Leid, ich entschuldige mich, dass wir viel zu lange geredet haben, weil ich fürchte, dass das viele abhält, sich dann alles anzuhören. Aber wenn es manche gibt, die jetzt das Parlament und die Gesetzgebungsprozesse mit ein bisschen anderen Augen sehen, dann würde ich mich freuen.
LUKÁŠ: Dann vielen Dank für das Gespräch. Damit sind wir am Ende dieser zweiten Folge zu den Abläufen im Parlament angelangt. Ich hoffe, es hat euch Spaß gemacht zuzuhören, und ich hoffe, dass ihr auch das nächste Mal wieder dabei seid. Falls euch diese Folge gefallen hat, dann empfehlt "Rund ums Parlament" gerne weiter. Und damit ihr keine Folge verpasst, abonniert "Rund ums Parlament" am besten gleich, zum Beispiel bei Spotify, Deezer, Apple Podcasts oder auf all den anderen Plattformen, wo ihr eure Lieblingspodcasts hört. Wenn ihr übrigens Fragen, Kritik oder Anregungen zum Podcast habt, dann könnt ihr uns immer gerne eine E-Mail schreiben an podcast@parlament.gv.at. Weitere Informationen und Angebote rund um das österreichische Parlament und zu unserer Demokratie findet ihr auf der Website www.parlament.gv.at und den Social-Media-Kanälen des Parlaments. Das war es soweit von mir, ich verabschiede mich. Mein Name ist Tatjana Lukáš, wir hören uns beim nächsten Mal.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.