Benedict FEICHTNER: Was mir gerade in Österreich auffällt, ist, dass sich keine Politikerin und kein Politiker hinstellt und sagt, das haben wir gerade auf EU-Ebene geschafft. Wenn was gelingt, dann wird das als nationale Errungenschaft gefeiert und wenn irgendwas schlecht läuft, dann ist oft die EU schuld.
Christoph HOFINGER: Und die Menschen nehmen dann die EU-Wahl, um ihren Frust loszuwerden.
HOFINGER: Das Wahlsystem der EU spiegelt die Komplexität der Europäischen Union, aber spiegelt nicht, wie Menschen politisch funktionieren als Wähler und Wählerin. Die Forschung der vergangenen 20 Jahre zeigt, dass dieses bewusste, rationale Nachdenken über Politik gar nicht das ist, wie die meisten Menschen Politik erleben.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Rund ums Parlament", dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name ist Tatjana Lukáš und ich begrüße euch heute zur zweiten Folge mit dem Thema Europawahl 2024. Heute spreche ich mit meinen Gästen über einen Aspekt dieser Wahl zum Europäischen Parlament, der eigentlich sofort ins Auge sticht, nämlich der Einfluss nationaler Debatten auf die gesamteuropäische Wahl. Zu diesem Thema habe ich mir zwei spannende Gäste eingeladen, die sich von Berufs wegen intensiv mit diesen Themen auseinandersetzen. Willkommen, Christoph Hofinger.
HOFINGER: Hallo!
LUKÁŠ: Und Benedict Feichtner!
FEICHTNER: Guten Tag.
LUKÁŠ: Sehr fein. Ihr habt es vielleicht bemerkt, vielleicht auch nicht: Einer dieser beiden Gäste ist nicht direkt hier neben mir. Einer sitzt neben mir, einer sitzt in Brüssel, der Stadt, in der die meisten Europäischen Institutionen ihren Sitz haben. So auch das EU-Parlament. Und es ist, Trommelwirbel!
FEICHTNER: Es ist Benedict Feichtner.
LUKÁŠ: Benedict Feichtner! Sehr gut! Danke, dass Sie sich dazuschalten und sich in ein kleines Radiostudio eingemietet haben, damit wir da eine gute Tonqualität für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer bieten können. Super!
FEICHTNER: Sehr gerne, sehr gerne!
LUKÁŠ: Sie sind nämlich, lieber Herr Feichtner, EU-Korrespondent des ORF und berichten also regelmäßig aus Brüssel, sind also ständig in dieser Situation.
FEICHTNER: Das stimmt. Oft bei Live-Gesprächen im Mittagsjournal, im Morgenjournal, auch bei Ö3, also diese Radio-Schaltungen. Das ist ja Radio-ähnlich, das Podcastformat. Das kenne ich gut.
LUKÁŠ: Sehr gut, auch die Liveschalte. Neben mir sitzt auch Christoph Hofinger, wir sind hier im Lokal Sechs im Parlament. Sie sind bestimmt auch dem einen oder anderen ein Begriff, denn Sie sind Politik- und Sozialforscher, Geschäftsführer von FORESIGHT und sind auch regelmäßig bei der Wahlberichterstattung, zum Beispiel im ORF, mit dabei, um da zu analysieren und ein paar Daten zu den Ergebnissen zu liefern.
HOFINGER: Genau, seit 30 Jahren ist auch Hochrechnen meine Leidenschaft. Die erste bundesweite Hochrechnung war die EU-Volksabstimmung 1994 vor mittlerweile 30 Jahren. Das heißt, meine Frequenz ist vielleicht geringer als vom Benedict Feichtner, was die Auftritte betrifft. Das sind nur alle paar Jahre dann zur EU-Wahl, aber dafür werden es dann meistens sehr intensive Wahlnächte.
LUKÁŠ: Und da frage ich gleich, war das in der Schule schon so, dass Mathematik ein favorisiertes Fach war oder ist das erst später durch die Sozialwissenschaft dann befeuert worden?
HOFINGER: Ich fand Mathematik spannend. Mit 18 Jahren gab es ein Berufsberatungstest und die haben gesagt, Hofinger, geh was mit Mathematik machen. Aber mit 18 habe ich alle Autoritäten abgelehnt und habe dann aus Bestehen gesagt, wenn die sagen, mach was mit Mathematik, mache ich ganz was anderes und habe dann Germanistik studiert. Aber wie so oft im Leben kommt man dann wieder zurück zu den Dingen, für die es eine Leidenschaft gibt. Jetzt mag ich beides, die Sprache und die Zahlen.
LUKÁŠ: Sehr gut. Dann würde ich sagen, starten wir rein in unser Thema, die EU-Wahl und der Einfluss nationaler Debatten darauf. Ich schildere jetzt mal einführend kurz die Situation für unsere Hörerinnen und Hörer, damit wir alle auf demselben Level beginnen. In der Europäischen Union haben sich 27 Staaten zusammengetan, um gemeinsam Herausforderungen anzugehen. Da gibt es also Themen, in denen sich die EU und ihre Mitgliedsländer die Zuständigkeiten teilen. Diese Themen sind etwa Migration, Energie, Verkehr, Umwelt und Klimawandel, Verbraucherschutz oder Landwirtschaft. Ganz große Themen, die sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene tonangebend sind. Und mit all diesen Dingen setzen sich eben auch die einzelnen Mitgliedsstaaten auseinander. Da gibt es nationale Parteien mit unterschiedlichen Einstellungen, Debatten, Wahlen. Es geht eigentlich immer um dieselben Herausforderungen und Probleme, aber jeweils aus einer anderen Perspektive. Und jetzt kommt die erste Frage: Wenn wir als Wählerinnen und Wähler zur EU-Wahl gehen, müssten wir dann eigentlich eine andere Brille tragen, als wenn wir zur Nationalratswahl gehen? Ich würde jetzt mal dem Herrn Feichtner das Wort erteilen.
FEICHTNER: Vielleicht in der Theorie, aber ich glaube nicht, dass wir für die EU-Wahlen eine andere Brille tragen können. Ich glaube eher, dass der Versuch, nationale Themen und EU-Themen zu trennen, fast zum Scheitern verurteilt ist. Ich merke das selbst, wenn ich Beiträge fürs Radio oder Fernsehen mache. Da geht es selten nur um EU-Politik, sondern ganz oft vermischt sich das auch mit der Innenpolitik und das teilweise auch zurecht. Nur ein Beispiel: Renaturierungsgesetz, sehr umstritten. Leonore Gewessler, die Grüne Umweltministerin, würde gerne auf EU-Ebene zustimmen, kann sie aber nicht, weil die österreichischen Bundesländer etwas dagegen haben. Das ist nämlich in Österreich Länderkompetenz. Da vermischt sich also sogar Länderpolitik mit EU-Politik. Die nationalen Debatten, die beeinflussen die EU-Wahlen. Aber auch umgekehrt glaube ich, dass EU-Themen auch nationale Wahlen beeinflussen. Siehe FPÖ, die haben diesen Slogan "EU-Wahnsinn stoppen". Sowas könnten sie bei den Nationalratswahlen genauso plakatieren.
LUKÁŠ: Und was denken Sie dazu?
HOFINGER: Ich finde es ganz spannend über das Bild der Brille nachzudenken, weil das sagt ja, dass Menschen dann was anschauen und dann sich ein Bild machen und darüber im Kopf nachdenken. Aber die Forschung der vergangenen 20 Jahre zeigt, dass dieses bewusste, rationale Nachdenken über Politik gar nicht das ist, wie die meisten Menschen Politik erleben. Ich denke, das Organ, das wir haben, ist eigentlich bildlich gesprochen nicht eine Brille, sondern so eine Art Antenne, mit der wir Werthaltungen von Parteien und Politikern, Politikerinnen spüren wollen. Das ist unser wichtigstes Organ für Wahlentscheidungen und das ist viel diffuser. Dieses Werthaltungserspürungsorgan kann gar nicht so unterscheiden, ist es jetzt EU oder ist das Österreich. Sondern kommt da was, was meinem Weltbild entspricht, und sagt der oder die Politikerin was, wo mir jetzt das Herz übergeht oder was mich wahnsinnig aufregt? Also insofern ist diese Übung, zwischen Europa und dem eigenen Land zu unterscheiden, eigentlich für unser inneres Politikgerüst schon zu schwierig.
LUKÁŠ: Spannend. Herr Feichtner, Sie arbeiten ja in Brüssel und Sie sind ständig mit Vertreterinnen und Vertretern der EU-Institutionen in Kontakt. Aber Sie sprechen auch mit den Besucherinnen und Besuchern des Europäischen Parlaments vor Ort. Das sind ja dann quasi Bürgerinnen und Bürger. Haben Sie das Gefühl, dass die beiden Seiten ähnliche Themen beschäftigen, oder klafft das auseinander?
FEICHTNER: Nein, ich glaube nicht, dass die beiden Seiten dieselben Themen beschäftigen. Zum Job als Korrespondent hier in Brüssel, das haben Sie richtig gesagt, gehört auch, dass man immer wieder mit Schulklassen spricht oder vor Seniorenreisegruppen oder mit Wirtschaftsvertretern aus Österreich, also wirklich quer durch die Bank. Als ich das zum ersten Mal gemacht habe, habe ich gedacht, super, die interessieren sich für EU-Politik. Da diskutieren wir jetzt über den Net-Zero Industry Act oder den AI-Act oder das Lieferkettengesetz, aber das war ein bisschen naiv. Die Fragen, die kommen, sind eigentlich immer dieselben: Wann kommt das Verbrenner-Aus? Das ist meistens das wichtigste Thema. Oder wird die EU das Bargeld abschaffen? Und wenn wir Besuche aus Westösterreich haben, dann wird gerne gefragt, ob es stimmt, dass die EU nicht erlaubt, dass wir den Wolf schießen dürfen. Nur eine Klammerbemerkung: stimmt nicht. Das kann natürlich ein Zufall sein. Aber seit die Dolly, das war das Pony von Ursula von der Leyen, von einem Wolf gerissen worden ist, ist das Thema auch ganz weit oben auf der Agenda der EU-Kommission. Die Bürgerinnen und Bürger interessieren sich vor allem für Themen, die emotional berühren. Das ist zumindest mein Eindruck. Aber, Herr Hofinger, bitte korrigieren Sie mich, wenn es nicht so ist.
HOFINGER: Ich kann Sie da gar nicht korrigieren, sondern im Gegenteil. Das ist das, was die Forschung sagt. In den 80er-Jahren gab es dieses Wähler-Modell des Rational Choice. Damals war das auch in der Wirtschaftswissenschaft ein Modell, das zwar damals schon nicht funktioniert hat, aber alle mussten es dann auf der Uni lernen und danach jahrzehntelang unterrichten. Diese Vernunftentscheidung, die können wir Menschen bei komplexen Themen gar nicht fällen. Wir können ja mit unserem bewussten Nachdenken nur circa zwei, drei Informationen gleichzeitig jonglieren. Die Emotionen haben natürlich ihre Nachteile, aber sie sind auch ein wunderbares Mittel, um die Komplexität zu reduzieren. Also mit der Sympathie oder Antipathie für Kandidatinnen kann ich schon sagen, okay, ich mache damit eine Prognose, der oder die wird gut sein für Europa. Insofern ist das, was der Kollege Feichtner geschildert hat, einfach total gut vereinbar mit der Forschung. Die sagt, wenn wir schon Wissen haben, dann so eine Art Herzenswissen. Aber es sind wirklich die Emotionen entscheidend. Und dann noch ein wichtiger Punkt, es gibt sogar Studien, dass die Menschen, die mehr formale Bildung haben, sogar noch emotionaler sind beim Entscheiden. Also nicht, dass da das Klischee entsteht, wer nur 8 Jahre in die Schule gegangen ist, ist der emotionale Wähler. Sondern die, die dann sehr lange Bildungswege haben, die sind dann oft noch viel weniger reflektiert.
LUKÁŠ: Störrisch.
HOFINGER: Oder sich selbst überschätzend.
LUKÁŠ: Aha, interessant! Aber ist es nicht so, dass bei Europawahlen oft der Eindruck entsteht, als würden die aktuellen nationalen Regierungsparteien für unpopuläre Entscheidungen abgestraft? Das fällt dann auch da rein in die emotionale Wahlentscheidung?
HOFINGER: Ja, es gibt da so einen politikwissenschaftlichen Ausdruck, der heißt Second Order Elections. Manchmal wird es Landtagswahlen umgehängt und auch zum Teil der EU-Wahl. Das ist so die Debatte, ist das die Abstrafungswahl? Die eigentlich wichtige Wahl könnte eben die jeweils nationale Wahl sein. Die Menschen nehmen dann die EU-Wahl sozusagen als Katharsis, um ihren Frust loszuwerden oder um zu sagen, jetzt bin ich sowieso Jahrzehnte lang brav für diese Partei wählen gegangen, aber sie gehen mir eigentlich auf die Nerven. Auch in der Wahlenthaltung könnte ich sagen, jetzt bin ich mal nicht Wähler und straf dann einmal meine Lieblingspartei bei einer Wahl ab, die ich für weniger wichtig halte.
FEICHTNER: Ich glaube, Österreich ist da das beste Beispiel. Die letzte EU-Wahl war ein paar Tage nach Ibiza und ich glaube, da muss ich kein Meinungsforscher sein, um festzustellen, dass die EU-Themen vielleicht nicht ganz so wichtig waren. Umgekehrt sind natürlich auch die Nationalratswahlen von EU-Themen beeinflusst. Stichwort: Green Deal oder Ukraine-Krieg.
HOFINGER: Das haben wir ja auch Schwarz auf Weiß. Danke für das Stichwort. 2019 war, da müssen wir uns dran erinnern, eine unglaublich aufregende Zeit. Da ist am Montag nach der Wahl dann im Parlament das Ende der Regierung Kurz Post-Ibiza erfolgt. Alles in schierer Aufregung. Wir haben damals in der Wahlbefragung für den ORF festgestellt, dass 62 Prozent sagen, ich wollte eben auch ein innenpolitisches Zeichen setzen. Das würde ich jetzt gar nicht als Emotionen abtun, es ist ja auch rational. Es ist eine Gelegenheit der Wählerinnen und der Wähler, zu kommunizieren. Aber klar, dass in so einer aufgewühlten Situation das damit zu tun hat. Trotzdem haben aber dann nur ungefähr 25 Prozent auf Nachfrage gesagt, ich habe wirklich ganz was anderes getan wegen Ibzia oder wegen den nationalen Dingen als ich vorgehabt hätte. Auf das Wahlverhalten wirkt sich so etwas dann auch aus, aber das ist ja auch durchaus nachvollziehbar, die EU-Wahl dafür zu verwenden.
LUKÁŠ: Wunderbar! Vielen Dank für diese guten erläuternden Eingangsworte. Uns würde jetzt interessieren, wie Sie persönlich ein bisschen ticken. Darum stellen wir unseren Interviewgästen immer drei Fragen. Ich würde mit dem Herrn Feichtner anfangen. Lieber Herr Feichtner, Frühling oder Herbst?
FEICHTNER: Herbst, der ist politisch aufregend. Außerdem regnet es da in Brüssel weniger als im Frühling. Und ich werde im Herbst Papa, also definitiv Herbst.
LUKÁŠ: Oh Herbst, Team Herbst! Kompromiss oder beste Lösung?
FEICHTNER: Ich sitze hier in Brüssel, da wird oft nach ewig langen, extrem schwierigen Verhandlungen ein Kompromiss gefunden. Und dann sagen alle, dass dieser Kompromiss jetzt die beste Lösung ist, also beides.
LUKÁŠ: Und wo fängt für Sie Demokratie an?
FEICHTNER: Es gibt viele Definitionen von Demokratie. Ich würde sagen, zu einer gesunden Demokratie gehören jedenfalls freie Medien, die Gewaltenteilung und demokratische Wahlen. Und dass das keine Selbstverständlichkeit ist, nicht mal in Europa, da sieht man aktuell in Ungarn.
LUKÁŠ: Vielen Dank. Dann würde ich den Herrn Hofinger zu den Fragen bitten: Frühling oder Herbst?
HOFINGER: Ich finde, der September ist irgendwie der klarste Monat des Jahres und ich bin auch beim Team Herbst.
LUKÁŠ: Da sieht man den Tiroler mit der Bergsicht.
HOFINGER: Ja, aber auch in Wien ist der Altweibersommer, der sogenannte, auch im September meistens herrlich.
LUKÁŠ: Mehr von Wein getrübt als die Tiroler Berge muss man sagen
HOFINGER: [...]
LUKÁŠ: Ein bisschen einen Sturm gibt's da, sehr wahr. Kompromiss oder beste Lösung?
HOFINGER: Der Kompromiss kann die beste Lösung sein, wenn er nicht so lange dauert, weil für viele Dinge haben wir keine Zeit.
LUKÁŠ: Und wo fängt für Sie Demokratie an?
HOFINGER: Bei vielen Dingen, aber was wir bei Demokratie immer mitdenken müssen, sind Ressourcen und Macht. Weil wir können ewig über Demokratie reden, aber wenn wir nicht über Macht und Geldverteilung reden, dann können wir nicht vollständig über Demokratie sprechen.
LUKÁŠ: Dankeschön. Dann würde ich sagen, kehren wir wieder zum Thema zurück. Danke für die Einblicke und alles Gute für Herbst, lieber Herr Feichtner, und die Geburt des Kindes.
HOFINGER: Ich halte die Daumen!
LUKÁŠ: Ja, wir halten alle die Damen.
FEICHTNER: Danke!
LUKÁŠ: Zurück zur EU-Wahl. Wenn man darüber nachdenkt, dass auch diese nationalen Wahlmotive bei der EU-Wahl so starken Einfluss zeigen, hat das vielleicht auch mit dem Wahlsystem der EU-Wahl zu tun? Wer würde gerne auf diese Frage als erster antworten? Herr Feichtner setzt an.
FEICHTNER: Ich mache gerne den Anfang. Also klar, das EU-Parlament ist die einzige direkt gewählte Institution auf EU-Ebene, aber die wirklich wichtigen Entscheidungen treffen die EU-Länder. Stichwort Spitzenkandidatenprinzip. Das ist bei der Europawahl 2014 eingeführt worden und der Begriff sagt eigentlich eh alles. Der Spitzenkandidat oder die -kandidatin der stärksten Fraktion soll EU-Kommissionspräsident oder -präsidentin werden. Aber 2019, nur fünf Jahre nach der Einführung, hat man das Spitzenkandidatenprinzip ignoriert, weil Emmanuel Macron, der französische Präsident, kein Fan vom deutschen CSU-Mann Manfred Weber war. Dann wurde Ursula von der Leyen aus dem Hut gezaubert, obwohl von der Leyen nie für das Parlament kandidiert hat. Sie steht nicht einmal auf irgendeiner Wahlliste, auch nicht bei dieser Wahl. Das Wort Spitzenkandidatenprinzip, das habe ich in Brüssel gelernt, nur so nebenbei, das wird übrigens auch im Englischen verwendet, nur weil sich viele immer über die Anglizismen aufregen.
LUKÁŠ: Ein neues Wort: Spitzenkandidatenprinzip. Und was sagen Sie, Herr Hofinger, dazu? Das Wahlsystem der EU-Wahl – was für einen Einfluss nimmt das auf den gesamten Prozess?
HOFINGER: Das Wahlsystem der EU spiegelt die Komplexität der Europäischen Union, aber spiegelt nicht, wie Menschen politisch funktionieren als Wähler und Wählerinnen. Was Menschen schon sehr gut tut ist, wenn sie auch persönliche Identifikationsangebote haben. Es ist schon spannend, dass in den USA alle glauben, der Präsident oder die Präsidentin, die sie vielleicht dort einmal wählen, ist die Person, die alles in der Hand hat. Aber so einfach ist es ja auch in den USA gar nicht. Da geht es ja dann um Kongressmehrheiten und Senatsmehrheiten. Es gibt ja auch Präsidenten, die dann zu den sogenannten Lame Ducks werden und gerade vielleicht ein Veto durchbringen. Aber das amerikanische System führt dazu, dass es zumindest diesen einen Stimmzettel gibt über diese Vereinigten Staaten von Amerika, die ja auch viel Autonomie haben. Das hilft den Menschen, diese Abkürzung von Komplexität zu erleben, weil sie dann sagen, ich vertraue jetzt lieber dem einen oder lieber der anderen und kann damit eine Stimme abgeben, in der die Komplexität der Konstruktion in den Hintergrund tritt. Das heißt, ich kann den USA emotional wählen, obwohl ich eigentlich das politische System nicht verstanden habe. Ich glaube, das bräuchten die Menschen in Europa auch, weil wenn wir ihnen das System erklären, dann können wir erklären bis wir schwarz werden. Das ist kompliziert, jemand wie der Herr Feichtner, der versteht das System. Aber ich glaube, Sie bräuchten auch Tage, um es einem anderen Menschen wirklich in jedem Detail zu erläutern. So viel Zeit haben die Menschen nicht. Das heißt, dieses Prinzip – ich habe so was wie einen europäischen Stimmzettel mit einer Person – das wäre etwas, das würde dem europäischen demokratischen System sehr guttun.
LUKÁŠ: Es hat ja sogar im EU-Parlament 2022 einen Gesetzesvorschlag für die Reform des Wahlrechts gegeben. Er wurde auf den Weg gebracht. Auf diesen konnten sich die Mitgliedsstaaten aber bisher nicht einigen. Lieber Herr Feichtner, was hätte denn diese Reform geändert?
FEICHTNER: Also zum einen soll einmal das Spitzenkandidatenprinzip auch vertraglich verankert werden. Dass der Spitzenkandidat der Gewinnerpartei der EU-Wahlen auch den Präsidenten der EU-Kommission stellt. Zusätzlich sollen die Bürgerinnen und Bürger nicht nur ihre nationalen Kandidaten wählen, sondern auch einen EU-weiten Kandidaten, also genau das, was der Herr Hofinger sich gerade gewünscht hat. Man soll also zwei Kreuze machen am Stimmzettel. Es soll dann also EU-Politikerinnen und EU-Politiker geben, die in ganz Europa antreten. 28 Sitze im EU-Parlament wären dann für diese sogenannten transnationalen Listen vorgesehen. Dann gibt es noch weitere Sachen wie die EU-weite Einführung der Briefwahl und ein einheitlicher Wahltag. Es wählen nämlich nicht alle am 9. Juni. Dieser Reform müssen aber die EU-Länder einstimmig zustimmen und das ist derzeit eher unrealistisch. Warum? Weil es die Macht der EU-Länder beschneiden würde.
LUKÁŠ: Haben Sie dazu auch noch was zu sagen, Herr Hofinger?
HOFINGER: Ja, es ist spannend, dass die Europäische Union da gute Ideen hatte. Bei allen Differenzen, die es hier gibt, und nationalstaatlichem Interesse – es wäre dann doch das Übergeordnete, dass es einen Stimmzettel gibt, den ich in allen 27 Ländern ausfüllen kann und wo es dann wirklich spannend wird. Vor Kurzem war der Song-Contest, das ist die einzige europäische Sendung, wo alle Europäerinnen und Europäer zuschauen und wo in alle Sprachen übersetzt wird. Wenn wir so einen Stimmzettel hätten, dann hätten wir auch vielleicht Debatten und die würden dann auch in dutzende Sprachen übersetzt werden. Das wäre so richtig spannend und die Menschen würden dann vielleicht dem Wahltag, so wie in den USA auch, entgegenfiebern. Diese guten Ideen vom Jahr 2022, die würden der EU und ihrem demokratischen System meiner Ansicht nach wirklich guttun.
LUKÁŠ: Aber aufgrund von Machtverhältnissen und Befürchtungen derzeit nicht umsetzbar, lautet die Prognose.
HOFINGER: Bislang, aber wie sehen Sie das, Herr Feichtner? Gibt es da eine Chance? Sie sind Insider in Brüssel.
FEICHTNER: Um ganz ehrlich zu sein, bin ich eher skeptisch, aber vielleicht noch einen Satz zu den EU-Ländern: Eine der wichtigsten Adressen hier in Brüssel, das ist das Hotel Amigo. Das ist ein schönes Fünf-Sterne-Hotel, auch wenn das der Name vielleicht nicht ganz vermuten lassen würde. Das Hotel ist sehr beliebt bei Regierungschefinnen und -chefs. Da gibt es eine wunderschöne 150 Quadratmeter-Suite, die auch Merkel-Suite genannt wird. Dort haben sich die wichtigsten Staats- und Regierungschefinnen und -chefs 2019 spät in der Nacht auf den Namen Ursula von der Leyen geeinigt. Die Wände im Amigo, die bekommen oft schon vor den eigentlichen Gipfeltreffen die wichtigsten Infos zu hören, weil sich dort die Staats- und Regierungschefs die wichtigsten Sachen ausschnapsen. Das wird vom EU-Parlament, aber auch von den kleineren EU-Ländern, die da selten involviert sind, wie ich finde, zurecht kritisiert.
LUKÁŠ: Sehr interessant. Bevor wir zu unserer letzten Frage gehen, würde mich noch interessieren abschließend, inwiefern die Parteien in den einzelnen Mitgliedstaaten den Europawahlkampf für ihre nationalen Themen nutzen und damit teilweise auch gewollt von der europäischen Perspektive ablenken.
HOFINGER: Es ist ganz logisch. Gerade in Österreich, wir haben im Herbst, wahrscheinlich am 29. September, das ist der wahrscheinlichste Wahltermin, Nationalratswahlen. Da geht es für die österreichischen Parteien um alles. Jede österreichische Partei ordnet diesen EU-Wahlkampf zumindest in die Dramaturgie der Nationalratswahl ein. Wahrscheinlich ordnen sie die EU-Wahl auch der Dramaturgie für die Nationalratswahl unter. Abgesehen davon kann eine Partei ja auch nicht sagen, im Juni sind es die drei Themen und im September dann drei andere. Es gibt ja dann schon so etwas wie Werthaltungskontinuität und so etwas wie Treue zur eigenen politischen Marke. Das ist einfach gegeben und damit müssen wir leben, wobei ich schon sehe, dass es immer mehr international spannende Themen gibt. Beispiel Zuwanderung, das war sehr partikular. Früher gab es die Angst, wie ist das mit den neuen Mitgliedsstaaten? Jetzt sind eigentlich die EU-Länder untereinander vergleichsweise entspannt, was die Zuwanderung betrifft, haben aber dann eher eine gesamteuropäische Perspektive, egal ob sie von rechts oder von links sind. Andere Dinge, wie den Krieg in der Ukraine. Das heißt, wir haben vielleicht sowieso eine Zunahme an europäischer Themenlage und die Parteien, trotz der Dominanz der Nationalratswahl, haben damit auch durchaus die Bühne für europäische Debatten und nutzen sie auch bis zu einem gewissen Grad.
LUKÁŠ: Und, Herr Feichtner, sehen Sie dadurch Auswirkungen auf die Europäische Union?
FEICHTNER: Wahlkampf ist das eine und Realpolitik wieder ganz was anderes. In Europa leben fünf Prozent der Weltbevölkerung. Ich glaube, alle Politikerinnen und Politiker wissen, dass die großen Krisen nur auf EU-Ebene zu lösen sind. Sehr vieles ist ja auch gelungen in den letzten Jahren, das darf man auch nicht vergessen. Es gibt dutzende neue Umwelt- und Klimaschutzgesetze, es gibt ein Gesetz über Künstliche Intelligenz und zwei Digitalgesetze, mit denen die Macht der großen und vor allem amerikanischen Internetriesen beschnitten wird. Das sind alles Dinge, die kein EU-Land alleine schaffen würde. Aber was mir gerade in Österreich auffällt, ist, dass sich keine Politikerin und kein Politiker hinstellt und sagt, das haben wir gerade auf EU-Ebene geschafft. Wenn was gelingt, dann wird das als nationale Errungenschaft gefeiert und wenn irgendwas schlecht läuft, dann ist oft die EU schuld.
LUKÁŠ: Dann würde ich mich bedanken und zur letzten Frage kommen. In dem Moment, in dem wir diese Folge aufzeichnen, stehen wir kurz vor der EU-Wahl 2024. Was haben Sie beobachtet? Welche nationalen Themen nehmen Einfluss auf die Wahl? Und als Zusatzfrage: Sind das überhaupt Bereiche, für die die EU zuständig ist? Ich würde mit Ihnen anfangen, Herr Hofinger, aber die Frage dann auch an Sie weitergeben, Herr Feichtner.
HOFINGER: Gerade Themen wie Zuwanderung sind immer zuerst national diskutiert worden, aber das ist natürlich eine europäische Debatte. Wir haben Fragen des Gesundheitssystems, der Verteilungsgerechtigkeit. Wir haben auch Fragen der internationalen Sicherheit, die schon auch in Österreich eine Rolle spielen. Das heißt, ich sehe mehr als früher eine Verschränkung von nationalen mit internationalen Themen.
LUKÁŠ: Und Sie, Herr Feichtner?
FEICHTNER: Das sehe ich ganz genauso. Die EU ist de facto für fast alle Bereiche zuständig. Aber die EU, das ist ja auch Österreich. Da sitzt aktuell Bundeskanzler Karl Nehammer haben im Rat, also im Gremium der Regierungschefs. Das sitzen 19, künftig 20 EU-Abgeordnete aus Österreich im EU-Parlament. Wenn ich mir die nationalen Debatten anschaue, dann wirkt es manchmal so, als ob Österreich überhaupt nicht mitverhandelt hat. Als ob diese EU in Brüssel, also ganz weit weg, immer irgendwas über unsere Köpfe hinweg beschließt. Aber Österreich sitzt immer mit am Tisch und die meisten dieser großen Themen – Energie, Migration, Klima –, die wird Österreich nicht alleine lösen können, da braucht es die EU.
LUKÁŠ: Vielen Dank. Dann bedanke ich mich für diese spannenden Antworten und das Erklären des Prozesses. Danke, dass Sie heute zu Gast waren und sich die Zeit genommen haben für uns.
HOFINGER: Sehr gerne und danke.
FEICHTNER: Danke für die Einladung.
HOFINGER: Dankeschön!
LUKÁŠ: Dann war es das heute auch schon wieder mit unserem "Rund ums Parlament"-Podcast. Ich hoffe, ihr habt gerne zugehört und wenn ja, dann gebt uns eine Bewertung, das freut uns nämlich sehr. Abonniert uns, wenn ihr das noch nicht getan habt, dann verpasst ihr nämlich auf keinen Fall die nächste Folge. Da spreche ich nämlich mit dem Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Othmar Karas, und dem Europa-Experten Stefan Lehne über die großen Herausforderungen, vor denen die EU steht. Bis dahin könnt ihr auch gerne mal in die früheren Folgen von "Rund ums Parlament" zum Thema EU reinhören. Dort erfahrt ihr mehr über die EU im Allgemeinen und beispielsweise darüber, wie Österreich selbst im Europäischen Rat an der Gesetzgebung der EU teilhat. Falls ihr Fragen, Kritik oder Anregungen zum Podcast habt, dann schreibt uns gerne eine E-Mail an podcast@parlament.gv.at und schaut auch gerne mal auf der Website und den Social-Media-Kanälen des österreichischen Parlaments vorbei. Also, ich freue mich schon auf die nächste Folge mit euch. In diesem Sinne, vielen Dank fürs Zuhören. Mein Name ist Tatjana Lukáš, wir hören uns.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.