Stefan LEHNE: Jean Monnet war ein ganz berühmter Europäer, ein Gründungsvater der Europäischen Union. Er hat gesagt, die EU ist im Grunde genommen eine Summe der Lösungen, die in Krisen gefunden worden sind. Es gibt Krisen, die gemeinsam bewältigt werden und gemeinsam einen europäischen Mehrwert schaffen. Aber es gibt auch Krisen wie die Migrationskrise, die spaltend wirken.
Othmar KARAS: Wir gehen auf diese Spannung, wechselseitig - einseitig, mit mehr Nationalismus, mit mehr Blockaden innerhalb Europas um. Und das ist unsere Bedrohung.
LEHNE: Wenn man eine gemeinsame Währung hat, wenn man einen gemeinsamen Binnenmarkt hat, dann liegt es in der Logik der Entwicklung, dass man irgendwann auch in der Lage ist, sich gemeinsam zu verteidigen. Da bleibt für die Neutralität eigentlich nicht mehr sehr viel Platz.
KARAS: Wir stehen vor einer Richtungsentscheidung zwischen der Bereitschaft und dem politischen Willen, diese Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen und damit die europäische Zusammenarbeit zu stärken oder in die Nationalismen zu zerfallen. Es gibt kein weiter im Status Quo.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.
Tatjana LUKÁŠ: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Rund ums Parlament”, dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name, ihr wisst es, ist Tatjana Lukáš. Schön, dass ihr wieder dabei seid. In den letzten beiden Folgen haben wir hauptsächlich über das Europäische Parlament und die Europawahl gesprochen, die am 9.Juni 2024 wieder ansteht. In dieser Folge wollen wir die Perspektive etwas erweitern und über die EU als Ganzes sprechen. Wir nehmen uns heute also folgende Fragen vor: Vor welchen Herausforderungen steht die Union heute, im Frühjahr 2024? Wie wird, wie muss und wie sollte sie sich weiterentwickeln? Wir versuchen da einen ersten Aufschlag zu geben und keine endgültigen Antworten wahrscheinlich. Und was bedeutet all das für das Europäische Parlament? Ihr seht, heute die ganze Folge geladen mit großen und spannenden Fragen. Ich habe mir zwei Gäste eingeladen, die uns hoffentlich tiefere Einblicke dazu verschaffen können. Herzlich willkommen, Othmar Karas! Danke, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.
KARAS: Gerne.
LUKÁŠ: Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Und herzlich willkommen auch Stefan Lehne, ehemaliger österreichischer Spitzendiplomat und jetzt Gastwissenschaftler beim Thinktank Carnegie Europe.
LEHNE: Guten Tag.
LUKÁŠ: Bevor wir in medias res gehen: Vizepräsident des Europäischen Parlaments erklärt sich, finde ich, ein bisschen von selbst. Aber der Thinktank Carnegie Europe – könnten Sie uns da zwei, drei Worte dazu sagen, was das eigentlich ist, Herr Lehne?
LEHNE: Es ist einer der ältesten Thinktanks, die es gibt, von Andrew Carnegie im Jahr 1911 gegründet. Carnegie war der reichste Mensch der Welt und hat gefunden, wenn man reich stirbt, dann kommt man in die Hölle. Und deshalb hat er einen großen Teil seines Vermögens verteilt und unter anderem auch eine ganze Menge Geld an das Carnegie Endowment for International Peace gegeben, das über internationale Fragen forscht. Ich bin Teil des Brüsseler Büros und konzentriere mich auf die EU und alle Aspekte, die damit verbunden sind.
LUKÁŠ: Wunderbar. Sie haben im Vorgespräch erwähnt, dass Sie auch einen Podcast betreiben.
LEHNE: Richtig, den kann ich sehr herzlich empfehlen. Die wichtigsten Studien, die wir haben, werden auch so präsentiert.
LUKÁŠ: Wunderbar! Dann werden wir auf jeden Fall die EU-Podcasts – hier wird ja auch der Podcast "Irgendwas mit EU” produziert – und den Podcast des Thinktanks in den Shownotes verlinken. Gut, gehen wir rein ins Gespräch. Sehr gut! Wir befinden uns ja für unser Gespräch im Haus der Europäischen Union in Wien. Wir waren auch schon mal hier. Herr Karas, beim Eintreten in das Haus haben Sie gesagt, ich bin ja quasi hier zu Hause und haben uns allen den Vortritt gegeben. Wie oft sind Sie denn hier?
KARAS: Fast wöchentlich. Sehr viele Veranstaltungen, Besuchergruppen, Schulen hier. Wir arbeiten ja auch sehr eng mit Europa Direkt zusammen als Europäisches Parlament. Wir brauchen den direkten Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wir haben die Europaschulen, die wir zu betreuen haben, wir haben die Botschafterschulen. Das ist ein lebendiges Haus, weil es ist ein Brückenbilder, dieses Haus, zwischen den europäischen Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern.
LUKÁŠ: Jetzt würde ich gerne ganz kurz in die Vergangenheit blicken, denn 1985, als Sie noch Nationalratsabgeordneter der ÖVP waren, da haben Sie als erster einen Antrag zum Beitritt Österreichs in die Europäische Union im Nationalrat eingebracht. Jetzt würde mich interessieren: Wann in Ihrem Leben war der Zeitpunkt da, dass Sie erkannt haben, die Welt ist größer als mein Zuhause, als Österreich, da gibt es ein Europa und das interessiert mich?
KARAS: Ich glaube, das ist sehr früh gekommen, weil es für mich eine politische Selbstverständnisfrage ist. Was heißt Politik? Politik heißt für mich Zusammenarbeit. Politik heißt für mich, über die Grenzen blicken, Zukunft gestalten. Daher ist für mich die europäische Idee die Idee der Zusammenarbeit, des Kompromisses, des über den Tellerrand blicken und die gemeinsamen Herausforderungen annehmen. Und ein zweiter Punkt ist, als junger Mensch habe ich immer erlebt, dass wir im Osten den Stacheldraht hatten und im Westen reisen durften. Dass wir in Niederösterreich, im Burgenland und in Oberösterreich auf einmal anstanden und der Lebensraum eine Grenze hatte. Gleichzeitig habe ich immer gehört, dass die Abwanderungsraten daher von diesen Grenzen in den Ballungsraum zunehmen und auf der anderen Seite wir auf einmal Gleise herausreißen, keine Straßen weiterbauen. Das hat mich unglaublich geärgert. Ich wollte einfach mithelfen und das werde ich weiterhin tun, dass wir die Grenzen der Vergangenheit und die Vorurteile der Vergangenheit überwinden. Das holt uns ja auch alles ein, weil alle Themen zur Stunde sind keine nationalen Themen, sondern globale Themen. Jeder Mensch spürt, nicht nur durch die Digitalisierung, sondern auch durch den Klimawandel, durch die Migration, durch die Frage von Krieg und Frieden, dass wir die Zusammenarbeit brauchen, um unsere Probleme zu lösen. Da ist für mich das europäische Projekt eigentlich Teil der Zukunft Österreichs. Für das habe ich mich immer engagiert.
LUKÁŠ: Sehr gut, jetzt frage ich den Herrn Stefan Lehne, wann ihm zum ersten Mal in den Sinn gekommen ist: Ich bin ein überzeugter Europäer! Aber blicken wir auch noch ganz kurz auf Ihre Geschichte zurück. Sie hatten in Ihrer Karriere ja einige exponierte Posten in der europäischen Diplomatie inne. Unter anderem waren Sie im österreichischen Außenministerium für europäische Integration zuständig und haben auch für das Generalsekretariat des Rates der Europäischen Union gearbeitet. Wann war bei Ihnen der Moment da? Waren Sie ebenfalls in den Teenagerjahren bereits inspiriert von lokaler Geschichtsschreibung? Wie ging es Ihnen?
LEHNE: Ich habe ein bisschen länger gebraucht als Othmar Karas, das muss ich ehrlich sagen. Ich war österreichischer Diplomat, habe mich natürlich für Außenpolitik brennend interessiert von Anfang an. Aber für österreichische Diplomaten, wir sind davon ausgegangen, mit der EU wird es nichts für uns, weil Neutralität war das große Hindernis. Es war im Grunde ein Verständnis für uns, dass das unmöglich sein wird leider, in diesem Spiel mitzuspielen. Da war die UNO interessanter und die KSZE damals, die dann zur OSZE geworden sind. Das waren meine primären Interessen. Der Groschen ist bei mir gefallen im Jahr 1984, als ich aus New York zurückgekommen bin. Da hat sich schon im Ost-West-Verhältnis gezeigt, es ändert sich was und die Neutralität ist vielleicht nicht mehr so ein großes Hindernis. Ich kann mich an ein Mittagessen mit einem Kollegen erinnern, wo wir beide gefunden haben, die große strategische Herausforderung für Österreich in den nächsten zehn Jahren ist der EU-Beitritt. Ich habe mich dann sicher auch sehr gefreut, als Othmar Karas diesen Antrag eingebracht hat zwei Jahre später.
LUKÁŠ: Wie war das eigentlich? Wie war die Reaktion rund um Sie herum von den Abgeordneten, die um Sie herumgesessen sind? Hat es da irgendwie eine Reaktion gegeben?
KARAS: Ich habe einen großen Widerstand gehabt, auf der einen Seite aus der Neutralitäts-politischen Sicht. Auf der anderen Seite haben manche geglaubt, man soll sich nicht um Dinge kümmern, die eh nicht kommen. Wir waren ja in einer Minderheit. Wir hatten auch bei den Meinungsumfragen 15, 20, 25 Prozent Zustimmung. Auch der Brief Österreichs an Brüssel, um den Beitritt in Gang zu setzen, hat damals nur als Grundlage den Neutralitätsvorbehalt gehabt. Manche haben gesagt, den Neutralitätsvorbehalt schreiben wir in das Ansuchen hinein, weil es dann eh nicht kommt. Auch das haben manche gesagt. Und ich habe als Obmann der Jungen ÖVP das Jahr '83, '84, '85 unter die Jahre Europa ohne Grenzen gestellt. Weil auf der einen Seite haben wir im Westen die Entwicklung des Binnenmarktkonzeptes gehabt, der stärkeren Erweiterung, wir waren zwölf Staaten. Wir haben im Osten begonnen, mit Solidarność und mit der Charta 77, mit den Bürgerrechtsbewegungen einen Demokratisierungsprozess einzuleiten. Daher wollte ich damals ausbrechen aus dieser Zwangsjacke zwischen Ost und West und Österreich ins Zentrum dieser Entwicklung stellen. Aber Veränderung muss man immer erkämpfen, für Veränderung muss man immer werben. Das geht mir ja auch heute oft ab, dass wir immer wissen, warum was nicht geht und wir uns viel stärker dafür einsetzen sollten, warum wir was tun wollen, tun müssen und welche Veränderungen wir in Angriff nehmen.
LUKÁŠ: Das ist gut. Stichwort: Veränderungen. Widmen wir uns den Veränderungen. Schauen wir mal auf die letzten 15 Jahre. Veränderungen in dieser Zeit mit dem Beginn der Finanzkrise 2008. Da sind ja ein paar Herausforderungen auf uns zugekommen, wie man das modern nennt. Zählen wir mal kurz auf: Brexit, Flüchtlingskrise, Covid, der Ukraine-Krieg. Wirtschaftlich gerät die EU auch immer stärker ins Hintertreffen den USA und China gegenüber. Und die Union hat all diese Entwicklungen natürlich mitbegleitet. Wie sehr hat all das die Union verändert, Herr Lehne?
LEHNE: Ich würde sagen, sehr weitgehend. Das Krisenmanagement ist das neue Normale geworden. Es sind ständige Herausforderungen, mit denen man ununterbrochen fertig werden muss. Ursprünglich waren viele Leute skeptisch, sowohl bei der Finanzkrise als auch beim Brexit. Da haben viele Leute gemeint, das ist der Anfang vom Ende. Die EU ist heute, auch nach 70 Jahren, noch immer ein Experiment. Es gibt nichts in dieser Form in der ganzen Welt und es gibt genügend Skeptiker in den USA, in anglosächsischen Ländern sind sie besonders vertreten. Die sagen, irgendwann muss das auseinanderbrechen, das kann nicht wirklich funktionieren. Ich glaube, dass man schon sagen muss, dass innerhalb dieser 15 Jahre die EU sich als resilienter, als widerstandsfähiger erwiesen hat, als viele angenommen haben. Sie ist in vielen Bereichen stärker geworden. Sie hat wichtige Reformen ergriffen. Zum Beispiel in der Währungsunion hat man das Instrumentarium für den stabilen Euro massiv ausgebaut. In der Pandemie hat man ein gemeinsames Impfprogramm entwickelt, man hat Wiederaufbaufonds hergestellt. So etwas hat es in der Geschichte nie gegeben. In der Frage der Ukraine-Krise hat die EU auch erstmals Waffen an ein angegriffenes Land geliefert. Dinge, die in der Form nie vorgekommen sind. Was zeigt, dass doch durch gemeinsame Bemühungen auch sehr schwierige Herausforderungen überwunden werden konnten. Aber man muss natürlich auch sagen, leider, diese Ära der Krisen ist nicht vorbei. Man muss davon ausgehen, dass das auch so weitergeht und dass die EU weiterhin extrem gefordert sein wird, auch in der Zukunft.
LUKÁŠ: Und ist es jetzt so, dass all diese Entwicklungen das Parlaments eher geschwächt haben oder gestärkt? Denn aus Ihrer Antwort heraus klingt es ja eher wie gestärkt, weil man mehr zusammenhalten musste. Aber die täglichen Nachrichten erzählen einem dann und wann andere Tendenzen. Wie schätzen Sie das ein?
LEHNE: Ich muss den Othmar Karas ein bisschen provozieren.
LUKÁŠ: Oh nein!
LEHNE: Ich muss sagen, dass Krisen nicht wirklich sehr gut sind für Parlamente. Weil im Grunde genommen verschiebt sich in der Krise das Gewicht zur Exekutive. Das operative Handeln rückt in den Vordergrund. Wenn man jetzt zurückdenkt, vor 15 Jahren war das Parlament der große Gewinner unter den Institutionen. Durch den Lissabonner Vertrag massiv gestärkt, gleichberechtigt bei der Gesetzgebung, Kontrolle der Wahl des Kommissionspräsidenten, große neue Rechte. In der Finanzkrise, im Brexit, et cetera, hat das Parlament nicht diese Rolle gespielt, die sie selbst gerne hätte spielen sollen, sondern das Gewicht hat sich verschoben zum Europäischen Rat und teilweise auch zur Kommission. Aber natürlich, das Parlament hat eine extrem wichtige Rolle als Gesetzgebungsorgan, als gleichgewichtiges Gesetzgebungsorgan, als Kontrolle der Exekutive und auch ein bisschen als das Gewissen der Europäischen Union. Der Rat neigt zum Zynismus und auch die Kommission ist nicht ganz frei, eher als transaktioneller Spieler an Probleme heranzugehen. Und immer wieder, vor allem auch in der Rechtsstaatlichkeitsproblematik Polen und Ungarn, hat sich das Parlament als die Institution erwiesen, die darauf schaut, dass auch die Werte der Europäischen Union entsprechend Berücksichtigung finden.
LUKÁŠ: Danke. Herr Karas, Sie haben ein bisschen genickt währenddessen da und dort. Wollen Sie uns vielleicht Ihre Meinung zu dem Thema auch sagen? Also hat diese Krisenaufeinanderfolge das Parlament gestärkt, geschwächt? Ist der Europäische Rat gespalten? Wie sehen Sie das?
KARAS: Zuerst einmal ist die Europäische Union nie fertig.
LUKÁŠ: Ja.
KARAS: Die Rahmenbedingungen, die sich verändern, die geopolitische Lage, die technologische Entwicklung, das sind alles Herausforderungen. Ich habe ein Problem mit dem Wort Krise. Wir haben beides gehabt, wir haben Krisen wahrgenommen, aber jede Krise ist auch eine Herausforderung. Herausforderungen sollten wir annehmen und Herausforderungen sollten wir als Arbeitsauftrag nehmen. Daher ist die Tatsache, dass die Europäische Union nicht fertig ist, eine Herausforderung und ein Arbeitsauftrag. Das ist das Eine. Das Zweite ist: Ja, wir sind in diesen Jahren, die Themen sind angeschnitten, an die Grenzen des Gemeinschaftsrechts gestoßen. Und wenn man an die Grenzen des Gemeinschaftsrechts stoßt, dann muss man Neues wagen.
LUKÁŠ: Da möchte ich im Sinne unserer Hörerinnen und Hörer doch fragen: Das Gemeinschaftsrecht, an die Grenzen des Gemeinschaftsrechts gestoßen – was heißt das?
KARAS: Das heißt sehr deutlich, wir haben in der Europäischen Union die Regeln für die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten zu gewissen Themen immer wieder erweitert. Wir haben jetzt Krisen, wo wir gemeinsam handeln müssen, aber diese gemeinsame Geschäftsordnung noch nicht haben. Daher brauchen wir den politischen Willen aller Mitgliedstaaten, dass wir gemeinsam handeln können. Nehmen wir nur her: Wir haben zwar eine gemeinsame Währung, aber wir haben keine gemeinsame Budget-Politik. Das hat uns Probleme gemacht bei der finanziellen Beantwortung der Finanzkrise. Aber wir haben einen Weg gefunden, auch mit dem Europäischen Parlament. Ich selbst habe diese Maßnahmen als Parlamentarier kontrolliert und begleitet. Wir haben den Klimawandel, aber nicht jede Antwort auf den Klimawandel ist europäische Zuständigkeit. Daher müssen wir parlamentarisch handeln und wir müssen die Staaten vorantreiben durch gemeinsame Ziele. Die Frage Pandemie ist angesprochen worden. Daher sind wir nicht fertig mit der Beantwortung der Krisen. Wir müssen die Lehren, die sich daraus ergeben, durch eine Stärkung der gemeinsamen Geschäftsgrundlagen, heißt Beseitigung der Einstimmigkeit, demokratische parlamentarische Mitentscheidung statt Einstimmigkeit und Erpressbarkeit, in der nächsten Periode weiterentwickeln und umsetzen. Wir sind auch hier nicht fertig, aber wenn Sie sagen, parlamentarisch, der Lehne hat völlig Recht. Aber es hätte den Green Deal nie gegeben, hätte das Europäische Parlament nicht verlangt, dass wir die Ursula von der Leyen nur wählen, wenn sie eine Antwort auf den Klimawandel vorgibt. Da wurde sie vom Rat, von den Mitgliedsstaaten schon vorgeschlagen ohne Auflagen. Das Parlament hat gesagt, sie hat aber nur eine Mehrheit, wenn sie einen Green Deal vorlegt. Wir haben Gott sei Dank jetzt endlich ein Asyl- und Migrationspaket im ersten Schritt beschlossen. Aber wir haben seit 2015 die Kraft der Zusammenarbeit nicht gehabt, sondern sind eher in Nationalismen zerfallen. Hier müssen wir weitergehen.
LEHNE: Darf ich zu den Krisen noch etwas sagen? Jean Monnet war ein ganz berühmter Europäer, ein Gründungsvater der Europäischen Union. Er hat gesagt, die EU ist im Grunde genommen eine Summe der Lösungen, die in Krisen gefunden worden sind. Aber Jacques Delors, auch ein berühmter Europäer, hat gesagt, er war da ein bisschen optimistisch. Weil im Grunde genommen ist es leider nicht so, dass die EU automatisch gestärkt aus jeder Krise hervorgeht, wie das manche Leute behaupten. Sondern in Wirklichkeit gibt es solche Krisen und solche Krisen. Es gibt Krisen wie die Pandemie, die gemeinsam bewältigt werden und einen gemeinsamen europäischen Mehrwert schaffen. Aber es gibt auch Krisen wie die Migrationskrise, die spaltend wirken, wo Europa auseinandergefallen ist zwischen den Südstaaten, wo die Flüchtlinge ankommen und den Nordstaaten, wo sie hin wollen. Zwischen Staaten, die mehr auf den Schutz von geflüchteten Personen Wert legen und andere, die im Grunde genommen alle draußen halten wollen. Und bis heute ist es nicht wirklich gelungen, da weiterzukommen. Und leider muss ich sagen, das Ding, das da gestern angenommen worden ist, ist sicher besser als wenn man überhaupt nichts gelöst hätte, das neue Asylrecht. Aber ich habe noch keinen Experten getroffen, der sagt, dass das wirklich gut funktionieren wird. Es bleibt eine offene Baustelle. Die Migrationsfrage wird uns Jahrzehnte beschäftigen und leider gibt es auch viele Kräfte in Europa, die nicht an einer Lösung interessiert sind, sondern an der politischen Ausbeutung dieses Problems.
KARAS: Darf ich da vielleicht einsteigen? Weil das, was Sie gesagt haben, dass wir nicht immer mit Krisen uns weiterentwickelt haben, aber doch auch – das hängt auch damit zusammen, dass wir immer mehr nationale Extreme, Nationalismen, Schwächung von Politik haben, wo der Populismus und der Nationalismus stärker oft betont wird als die Europäische Lösung oder die Lösung der Probleme, weil manche mit den Sorgen und Ängsten der Menschen spielen. Europa muss Sorgen und Ängste der Menschen nehmen durch die Zusammenarbeit. Daher ist es immer auch eine Frage, welche Personen wählen wir. Es ist immer eine Frage, wie schauen die Mehrheiten aus. Und es ist immer eine Verantwortungsfrage, wie gehen wir mit den Herausforderungen und Krisen um. Und dieser zunehmende Nationalismus, diese zunehmenden Extreme haben leider auch zu zunehmenden Blockaden der Europäischen Entscheidungsfindung geführt. Aber als Parlamentarier sage ich, das Wichtigste für Europa ist die Demokratisierung der Europäischen Union, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Daher sollte es keine Entscheidung in Europa geben ohne Zustimmung des Parlaments als Bürgerkammern. Überall dort, wo die Parlamente mit dabei sind als gleichberechtigte Gesetzgeber, finden wir einen Kompromiss. Überall dort, wo wir die Einstimmigkeit haben, wird verzögert, blockiert, und erpresst.
LUKÁŠ: Danke für alles, was Sie aus den verschiedenen Richtungen gesagt haben. Wir machen jetzt einen kurzen Schlenker ins Private. Ich hoffe, Sie können sich darauf einstimmen. Es sind drei kurze Fragen, die wir jedem unserer Interviewgäste in diesem Podcast stellen. Ich würde mit dem Herrn Lehne beginnen. Lieber Herr Lehne, Frühling oder Herbst?
LEHNE: Eindeutig Frühling! Da hat die Natur das ganze Potenzial und das wächst und wird immer toller. Leider dauert der Frühling heutzutage nur mehr zehn Minuten und dann bricht der Hochsommer aus. Für mich eine sehr bedauerliche Entwicklung.
LUKÁŠ: Ja, so wahr, so wahr. Kompromiss oder beste Lösung?
LEHNE: Der Kompromiss ist die Essenz der Demokratie. Aber Erhard Busek hat einmal gesagt, der Österreicher schlägt den Kompromiss vor, bevor er das Problem verstanden hat. Es gibt gute Kompromisse und schlechte Kompromisse. Um einen guten Kompromiss zu erzielen, braucht es schon auch eine Art von Hartnäckigkeit und man muss wissen, was man wirklich will.
LUKÁŠ: Danke. Und wo fängt für Sie Demokratie an?
LEHNE: Im Grunde genommen in jedem Gespräch. Wenn man Rücksicht nimmt auf das, was der andere zu sagen hat, wenn man seine Position als legitim erachtet, dann ist das schon das erste Stück Demokratie, das man leisten kann.
LUKÁŠ: Vielen Dank. Herr Karas, die selben Fragen werden Sie jetzt ereilen: Frühling oder Herbst?
KARAS: Beides hat seinen Charme und seinen Reiz. Priorität hat für mich der Frühling, weil hier alles wieder neu beginnt. Wir freuen uns über jeden Sonnenstrahl, über jede Knospe, über jede Blüte und es wird wärmer und es weckt auf. Und der Herbst ist eher die Balance. Es ist mir aber beides lieber als der Winter und der heiße Sommer.
LUKÁŠ: Ich finde, diese Frage ist sehr lustig, wenn man über alle Folgen drüber hört, denn sie ist wie ein Charaktertest. Entweder die Antwort Frühling oder Herbst. Oder es gab in letzter Zeit auch viele Menschen, die gesagt haben: Winter, Sommer. Auswahlmöglichkeiten gewählt haben, die es gar nicht gab. Insofern danke für Ihre Antworten im Spektrum. Zweite Frage: Kompromiss oder beste Lösung?
KARAS: Die beste Lösung ist immer ein Kompromiss, weil sie aufeinander Rücksicht nimmt, weil man miteinander reden muss. Und daher: Beste Lösung ist Kompromiss und Europa ist immer Kompromiss.
LUKÁŠ: Und wo fängt für Sie Demokratie an?
KARAS: Da bin ich wie der Herr Lehne, bei jedem Gespräch, beim respektvollen Umgang miteinander, bei jeder Übernahme von Verantwortung, de facto in der Familie, am Arbeitsplatz, als Klassensprecher, Schulsprecher, als Jugendvertrauensrat. Wenn wir bereit sind, auf den anderen zuzugehen, miteinander zu reden, respektvoll miteinander umzugehen und gemeinsam zusammenzuarbeiten.
LUKÁŠ: Gut, dann kommen wir zurück zum Thema. Und zwar würden wir gerne mit Ihnen zuerst über die wirtschaftlichen Herausforderungen sprechen. Die OECD vergleicht pro Jahr das Bruttoinlandsprodukt verschiedener Staaten. Die USA wird da als die 100 Prozent genommen. Das heißt, die USA gilt als der Orientierungspunkt und die anderen Staaten beziehungsweise Staatengemeinschaften werden daran gerankt. Wenn wir uns jetzt die EU ansehen, dann ist sie im letzten Vierteljahrhundert, also in den letzten 25 Jahren, um 5 Prozent auf 65 Prozent des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt der USA gesunken. Soll heißen, wir haben an Wirtschaftskraft verloren in den letzten 25 Jahren und zwar um 5 Prozent. China hingegen hat gewonnen. Und auch, wenn man die weltweiten Bruttoinvestitionen anschaut, dann sieht es in der EU gar nicht so rosig aus. Was hat das für Ursachen?
LEHNE: Aus meiner Sicht ist das ein bisschen irreführend, weil gemessen an Kaufkraftparitäten, also das, was die Leute sich wirklich kaufen können, ist der Abstand zwischen den USA und der EU viel geringer. Aber es ist richtig, in den letzten Jahren ist die USA davongezogen in verschiedenen Bereichen. Aus meiner Sicht gibt es da hauptsächlich drei Gründe. Das eine ist Demografie. Demografisch, von der Bevölkerung her, stagniert Europa, während die USA in den letzten Jahren um 6 Millionen mehr Leute hatte, und 6 Millionen mehr arbeitende Menschen bedeutet mehr Bruttonationalprodukt. Ein zweiter Faktor ist natürlich die Energie. Da hat sich die Situation für die Europäische Union verschärft, auch aufgrund des russischen Angriffs gegen die Ukraine, während die USA aufgestiegen ist zum wichtigsten Exporteur von fossilen Kraftstoffen. Durch das Fracking, Gas und Öl ist sie einfach in einer viel besseren Position und hat viel billigere Energie. Und der dritte Faktor ist der Kapitalmarkt. Durch diese riesigen Pensionsfonds ist es in den USA viel leichter, viel Kapital aufzustellen für innovative neue Technologie et cetera, während in Europa der Kapitalmarkt zersplittert ist nach wie vor. Die Unternehmen sind überwiegend von Banken abhängig. Das ist alles ein viel mühsamerer Prozess. Deshalb ist gerade in dem Bereich entscheidend, dass wir in den nächsten Jahren es schaffen, einen echten Kapitalmarkt herzustellen, dass wir den Binnenmarkt wirklich ausschöpfen, das Potenzial wirklich herausholen. Aber letztlich muss man natürlich auch sagen, nur das Bruttonationalprodukt im Vergleich sagt nicht alles aus. In Wirklichkeit liegt vom Standpunkt der Lebensqualität insgesamt in vielen Bereichen die EU weit vor den USA. Was China anbelangt ist es eine völlig andere Frage. China war bis zum Jahr 1800 mit Abstand die größte Wirtschaft der Welt, gefolgt von Indien. Aufgrund der industriellen Revolution und des Imperialismus und der Kolonialreiche hat sich das gedreht. Wir kehren jetzt zurück eigentlich zu der natürlichen Ordnung: 1,3 Milliarden sehr fleißige Leute müssen zwangsläufig zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren aufsteigen. Das ist sozusagen ein Rebalancing der Weltsituation, über das man sich eigentlich freuen muss. Das darf man nicht zu bedauern.
LUKÁŠ: Lieber Herr Karas, freuen Sie sich? Wie groß ist die Freude über das Rebalancing?
KARAS: Zum ersten muss man mal sagen, dass wir das ganzheitlich denken müssen. Wir haben auch ein Abhängigkeitsproblem. Wir sind abhängig von der Energie aus Russland. Wir haben uns abhängig gemacht durch viele Produktionen von China, nämlich die ganzen medizinischen Medikamente, Impfstoffe und andere. Wir haben uns sicherheitspolitisch abhängig gemacht von den USA. Das ist ganz entscheidend, weil diese Abhängigkeit führt zu Lieferkettenproblemen und die Abhängigkeit und die Lieferkettenprobleme führen zur Erpressbarkeit. Und die Erpressbarkeit erhöht die Preise und die erhöhten Preise führen zu einer erhöhten Inflation und zu erhöhten Kosten. Das spiegelt sich jetzt alles wider. Daher ist die Antwort doch völlig klar. Wir müssen als Kontinent unabhängig werden. Einige Beispiele hat der Herr Lehne angeschnitten. Wir müssen zur Energie-Union werden. Wir müssen unabhängig werden von der Energie anderer Kontinente. Wir müssen auch in der Verteidigungspolitik unabhängiger werden, um die Abhängigkeit von Amerika zu reduzieren. Und wir müssen die Produktion in neue Technologien, die Investitionen in neue Technologien vor allem auf Europäischen Ebenen durchführen. Wir benötigen ein umfassendes Konzept des Binnenmarkts, Wettbewerbsfähigkeit und wir brauchen eine Stärkung der Europäischen Union, was die Gemeinschaftskompetenzen in den Bereichen Gesundheit, Wettbewerbspolitik, Steuer, Energie und Sicherheit betrifft.
LUKÁŠ: Wenn ich mir diese Frage anhöre, dann frage ich mich, wir leben doch in einer globalisierten Welt. Ist es nicht der Gegenentwurf zu einer globalisierten, miteinander vernetzten, und jeder besinnt sich auf seine Stärken Welt, wenn man versucht, alles im Kontinent zu bündeln?
KARAS: Unabhängigkeit bedeutet nicht Abgrenzung. Unabhängigkeit bedeutet auch Freiheit. Und Unabhängigkeit bedeutet auch Wettbewerbsfähigkeit. Europa wird sich nicht abschotten, aber Europa darf nicht abhängig werden in dieser neuen geopolitischen Ordnung, wo es nicht mehr um Ost und West geht, sondern um Europa, Amerika, Brasilien, Afrika, Asien, China. In dieser kontinentalen neuen geopolitischen Auseinandersetzung darf Europa nicht zerfallen in die Nationalismen, darf nicht abhängiger werden, sondern wir müssen Vorreiter in verschiedenen Fragen werden. Das ist kein Gegenprojekt zur Globalisierung. Aber wir müssen in der Globalisierung natürlich auch unsere eigene Marke bilden und wir dürfen unsere Bevölkerung nicht ausliefern der Entwicklung in anderen Staaten, sondern müssen selbstbewusst agieren.
LEHNE: Ich sehe es ein bisschen anders als der Herr Karas. Ich glaube, dass die wechselseitige Abhängigkeit bleiben wird. Die Globalisierung wird nicht zurückgeführt werden. Wir werden weiterhin Produkte aus China brauchen, wir werden weitere Dinge nach Lateinamerika liefern müssen et cetera. Aber was schon stimmt, und da bin ich ganz bei ihm, die Wirtschaftspolitik der EU war ein bisschen naiv. Die Vorstellung war, wirtschaftliche Beziehungen sind Situationen, wo beide automatisch gewinnen. Da braucht man keine besonderen Regeln. Das Vertrauen auf den Kapitalismus war einfach sehr groß. Mittlerweile ist die Geopolitik zurück. Die Machtverhältnisse drücken sich auch aus in den Wirtschaftsbeziehungen und die EU muss deshalb mehr aufpassen, worauf sie sich einlässt. Sie muss einseitige Abhängigkeiten vermeiden. Wechselseitige Abhängigkeiten sind okay, weil dann beide ein Interesse haben. Aber die Einseitigkeit, dass man 90 Prozent unserer Produkte aus China braucht, das macht uns extrem verwundbar. Also, wir müssen resilienter werden, robuster, wir müssen schauen, dass in Schlüsselfragen wir einfach mehr Eigenständigkeit leisten können. Aber die wechselseitige Abhängigkeit als Grundmuster der Weltwirtschaft wird bleiben. Das ist auch ganz wichtig, weil, wenn es die nicht gibt, wenn die Welt fällt in Handelsblöcke, Wirtschaftsblöcke, dann wird es viel unsicherer, weil im Grunde im Moment diese wechselseitige Abhängigkeit extrem stabilisierend wirkt, auch was die Sicherheitspolitik anbelangt.
KARAS: Da sind wir völlig einer Meinung. Wir einigen uns auf die Frage: Wechselseitige Abhängigkeit wird es weiter geben, sie wird auch stärker werden. Aber die einseitige Abhängigkeit schadet uns. Und mit dem müssen wir umgehen.
LUKÁŠ: Danke für die Detailantwort.
KARAS: Ich möchte nur einen Satz noch sagen
LUKÁŠ: Bitte.
KARAS: Wir haben ja in Europa momentan teilweise eine andere Entwicklung. Wir gehen auf diese Spannung wechselseitig, einseitig, mit mehr Nationalismus, mit mehr Blockaden innerhalb Europas um. Das ist unsere Bedrohung. Dass wir nicht die gemeinsame Lösung suchen und das gemeinsame Europäische in der Welt suchen, sondern dass wir sehr oft mit der nationalen Karte gegen Europa spielen.
LEHNE: Es gibt eine Partei, die hat vor ein paar Jahren gesagt, man braucht die Festung Europas. Und jetzt sagen sie, man braucht die Festung Österreichs. Das ist die Entwicklung der letzten Jahre in die falsche Richtung.
LUKÁŠ: Es gibt mehr als nur diese eine Partei. Das wollen wir uns bewusst machen. Es gibt viele andere Menschen und viele andere Meinungen in dieser Demokratie ebenso. Im direkten Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik, jetzt schwenke ich mal kurz um Richtung Klima, steht ja auch die Klimapolitik. Der sogenannte Green Deal ist ein Maßnahmenpaket, durch das Europa bis 2050 – scheint in weiter Ferne, aber 25 Jahre vergehen schneller als man meint – der erste klimaneutrale Kontinent werden will. Und es wird auch davon gesprochen, dass durch Innovation und Wirtschaftswachstum die ganze Entwicklung angetrieben werden soll. Geht sich das in der aktuellen Situation mit teurer Energie, Inflation et cetera überhaupt aus?
LEHNE: Ich glaube, einiges ist geleistet worden. Die Zielsetzungen sind ambitioniert: 2050 Klimaneutralität, 2030 55 Prozent Reduktion. Die Reduktion findet auch schon tatsächlich statt, in Teilbereichen. Man hat riesige Gesetzespakete geschmiedet, die die Staaten verpflichtet, auf diesem Weg weiterzugehen. Aber jetzt geht es um die Umsetzung und bei der Umsetzung hakt es ziemlich, weil einfach die Leute teilweise einsehen, dass etwas gemacht werden muss, aber nicht bereit sind, ihren eigenen Lebensstil zu modifizieren. Die Politiker sind teilweise nicht ehrlich genug, um den Leuten zu sagen, dass sich tatsächlich etwas ändern muss. Die Zumutbarkeitsschwelle liegt in der jetzigen politischen Lage ganz weit unten und das reicht nicht. Ich glaube, man muss einfach ehrlich sagen, dass man mit den jetzigen Maßnahmen und den jetzigen Planungen nicht hinkommen wird zu dem Ziel. Also, man braucht einen viel ehrlicheren Umgang mit den Leuten und man muss offener mit ihnen reden. Aber es ist irgendwie das Problem, das menschliche Hirn ist nicht so konfiguriert, dass man auf abstrakte Fragen reagiert, die man schon spürt, wenn es heiß wird, aber dann wird es wieder kühler und dann ist es wieder weg. Es ist nicht besonders gut geeignet, mit derartigen Problemen zurande zu kommen.
LUKÁŠ: Wobei, man muss sagen, nach der kognitiven Revolution hat der Mensch eigentlich sich dadurch immer wieder neu erfinden können, indem er Phantasien und Utopien kommunizieren konnte und sich so in die Zukunft entwickelt hat.
LEHNE: Aber in [...] ist er noch immer ein Jäger und Sammler. Wenn es im Busch raschelt und der Tiger kommen könnte, reagieren wir mit Adrenalin unmittelbar. Bei Fragen, die uns anders betreffen, aber genauso bedrohen, sind wir nicht so gut vorbereitet von unserer Natur her.
LUKÁŠ: Herr Karas, wie sehen Sie das?
KARAS: Ich bin erst einmal der Auffassung, dass der Green Deal, die Ziele des Green Deals richtig sind. Das hat auch einen wettbewerbspolitischen Zusammenhang. Der Green Deal hat das Ziel, bis 2050 klimaneutral zu werden als erster Kontinent. Seitdem wir dieses Ziel festgelegt haben, einstimmig, in ganz Europa, alle Mitgliedsstaaten, haben manche Mitgliedsstaaten wie Österreich gesagt: Wir sind schneller! 2040. Deutschland, 2035. Die Amerikaner haben gesagt, wir schaffen das auch, und die Chinesen haben gesagt, bis 2060 sind wir das auch. Das heißt, es gibt einen Wettbewerb, weltpolitisch. Wer ist schneller bei diesem Ziel? Und damit hat es Auswirkungen auf die Wettbewerbspolitik eines Landes. Für mich ist der Green Deal auch ein Wirtschaftsprogramm, ein Steuerprogramm, ein Investitionsprogramm, ein Technologieprogramm und ein Bildungsprogramm. Und daher ist es einfach unehrlich, wenn wir sagen, wir können den Status Quo gegenüber dem Ziel verteidigen. Wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben das Ziel sehr schnell definiert und haben uns viel zu wenig gleichzeitig um die Auswirkungen bei der Zielerreichung gekümmert. Wir müssen eine Entwicklung einsetzen, wo wir mit den unterschiedlichen Branchen, mit der Bevölkerung, über die notwendigen Maßnahmen zur Zielerreichung reden. Wenn wir die Ziele nicht erreichen, verlieren wir den Wettbewerb bei den grünen Technologien. Auch heute werden schon Autos aus China, Elektroautos, eingekauft, weil sie schneller sind, besser sind und billiger sind. Und wir diskutieren überhaupt, ob wir dieses Ziel erreichen. Es ist im Interesse Europas, hier Vorreiter zu sein und mehr in die Zukunft zu investieren und mit der Bevölkerung zu kommunizieren. Ehrlichkeit, Verantwortungsbereitschaft, das ist der entscheidende Punkt.
LUKÁŠ: Und, neben allen wirtschaftlichen Dingen, unser Lebensraum und unsere Lebensqualität stehen ebenfalls auf dem Spiel. Zum Punkt Sicherheitspolitik: Der Krieg in der Ukraine und die Angst vor einer Abkehr der USA von Europa, sollte Mr. Trump nochmal Präsident werden, zeigt, dass ganz viele alte Gewissheiten passé sind. Wir haben vorher schon die Sicherheitspolitik ein bisschen angesprochen, aber wo liegen jetzt hier die Aufgaben der EU? Vielleicht können wir das ganz kurz umreißen, die wichtigsten Gebiete. Es würde mich auch interessieren, wie es in diesem Zusammenhang mit der Neutralität Österreichs oder um die Neutralität Österreichs steht. Herr Lehne, wollen Sie beginnen mit dem Aufriss?
LEHNE: Da gibt es im Augenblick eine ganz zentrale Problematik und das ist die Ukraine. Die EU hat gut reagiert auf diese Herausforderung. Sie war in der Vergangenheit oft gespalten, wenn es um die Beziehungen zu Russland gegangen ist. Da sind sie zusammengekommen, es sind Sanktionen beschlossen worden, Waffenlieferungen an den angegriffenen Staat. Das hat es noch nie gegeben. Massive wirtschaftliche Hilfe und die EU hat sich geöffnet gegenüber den geflüchteten Personen aus der Ukraine. Eine große Leistung! Aber man muss ehrlich sagen, nach den Anfangserfolgen der Ukraine in der Verteidigung ihres Territoriums schaut es jetzt sehr düster aus. Die Sanktionen haben nicht die Wirkung gehabt, die wir gehofft haben. Russland ist im Vormarsch. Es ist einfach ein viel größeres Land mit viel mehr Potenzial. Die EU macht eine gewisse Kriegsmüdigkeit durch. Es ist nicht in der Lage gewesen, bisher so zu mobilisieren, um dieses russische Übergewicht zu kompensieren. Die USA ist irgendwie ausgefallen aufgrund der Probleme im amerikanischen Kongress. Wenn Putin diesen Krieg gewinnt, ist es eine massive Destabilisierung Europas. Er wird dort nicht Halt machen. Er hat eine offene Agenda. Er möchte die Sowjetunion im ursprünglichen Ausmaß wieder zu der Macht führen, die sie einmal war. Dann schaut es sehr düster aus. Ich glaube, das steht in den nächsten zwei, drei Jahren absolut im Vordergrund. Hier muss Europa viel stärker werden, viel mehr leisten und viel mehr liefern.
LUKÁŠ: Herr Karas, haben Sie dem was hinzuzufügen?
KARAS: Ja, es geht in dieser Auseinandersetzung um die Frage Demokratie oder Diktatur, Freiheit oder Gewalt. Das ist die große Auseinandersetzung. Ich möchte sehr klar sagen, dass wir dringend eine verstärkte europäische Sicherheits- und Verteidigungsdebatte benötigen. Wir haben die Schritte gesetzt, die Europäische Union zu einer Verteidigungsunion zu machen. Einstimmiger Beschluss der Mitgliedsstatten im März letzten Jahres über die Frage des strategischen Kompasses. Eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa mit einem aktiven Partner Österreich steht nicht im Widerspruch zur österreichischen Bundesverfassung. Wir haben einen eigenen Artikel in unserer Bundesverfassung, in dem wir klarstellen, dass unsere Neutralität nicht im Widerspruch für ein gemeinsames Engagement sicherheits- und verteidigungspolitisch ist. Daher sage ich auch sehr klar, in Österreich wird schnell die Neutralität in die Debatte geworfen und die Neutralität als Begründung genommen, warum wir etwas nicht tun könnten. Wir benötigen eine europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Die wird auch nicht gegen die NATO gehen, sondern nur mit der NATO gehen, weil 23 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Mitglieder der NATO sind. Aber wir müssen auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unabhängiger werden. Wir müssen eine europäische Rüstungsindustrie aufbauen. Wir dürfen nicht außerhalb Europas einkaufen. Auch hier sind erste Schritte in der Europäischen Union gesetzt. Ich wünsche mir eine österreichische Sicherheits- und Verteidigungsdebatte darüber, wie wir unsere Bevölkerung und unser Land gegen die neuen Bedrohungsfelder am besten schützen. Wir schützen unsere Bürgerinnen und Bürger auch dadurch, indem wir die Ukraine in ihrem Kampf gegen den Aggressor unterstützen.
LEHNE: Aus meiner Sicht war die Neutralität, die österreichische Neutralität, das Produkt einer ganz spezifischen weltpolitischen Konstellation. Aber in den Zeiten nach '55 haben die österreichischen Politiker, die politische Elite, die Neutralität zu einer Art Staatsreligion hinauf stilisiert. Die Botschaft an die Bevölkerung war recht simpel: "Das schützt uns wunderbar. Wenn jemand anderes angegriffen ist, müssen wir nichts tun. Wenn wir angegriffen werden, werden wir beschützt. Und, wie in der Möbelix-Werbung, es kost' fast nix.” Das hat sich über Jahrzehnte erstreckt und die Leute glauben das auch. Kein Wunder, man hat es ihnen wirklich eingeimpft.
LUKÁŠ: Mit der Muttermilch.
LEHNE: Mit der Muttermilch im Grunde genommen. Deshalb bin ich ganz bei Othmar Karas. Wir brauchen eine sicherheitspolitische Debatte. Ich glaube, dass die in der Schweiz zum Beispiel viel offener geführt wird als in Österreich. Bei uns ist das noch immer tabuisiert als Thema. Wenn man ganz ehrlich ist, wenn man eine gemeinsame Währung hat, wenn man einen gemeinsamen Binnenmarkt hat, dann liegt es in der Logik der Entwicklung, dass man irgendwann auch in der Lage ist, sich gemeinsam zu verteidigen. Da bleibt für die Neutralität eigentlich nicht mehr sehr viel Platz.
LUKÁŠ: Wir haben heute eine wunderbare Folge, wo wir von einer Herausforderung in die nächste springen dürfen. Danke, dass Sie uns da aber so eine gute Orientierung geben, möchte ich zwischendrin mal ganz kurz sagen. Das ist alles sehr interessant und auch schön, einmal aus einer Meta-Perspektive ein bisschen darüber zu sprechen. Kommen wir doch zum Thema Migration. Die Migration beschäftigt uns, und das wird so bleiben. Alle Prognosen zur Klimakrise sagen, Europa wird auf jeden Fall der Sehnsuchtsort bleiben. Im Dezember 2023 haben sich die EU-Länder auf eine Asyl-Reform geeinigt. Wir haben vorher schon kurz anklingen lassen, ja, das war ein Fortschritt. Wie gut ausgeformt ist dieser Fortschritt, wie viel muss da noch nachgearbeitet werden beziehungsweise weiterentwickelt? Das würde mich interessieren.
LEHNE: Es wird riesige Schwierigkeiten geben, das umzusetzen. Die Mitgliedsstaaten haben zwei Jahre Zeit, aber es ist ein sehr anspruchsvolles Konzept, das unheimlich kompliziert ist. Es sind tausende Seiten von Vorschriften. Die Gegensätze unter den Mitgliedsstaaten sind nach wie vor vorhanden. Es gibt ein paar Länder, die sagen, an diesem Solidaritätsmechanismus, dass sie entweder geflüchtete Personen übernehmen und finanziell beteiligt werden, werden sie nicht teilnehmen. Das ist gerade festgeschrieben worden im Europäischen Parlament, aber viele distanzieren sich schon davon. Also es bleibt eine offene Baustelle und ein Riesenproblem. Ich glaube, das, was sich aber geändert hat im Verhältnis zu der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16, ist, dass immer mehr Regierungen sich im Klaren sind, dass sie massive Migration brauchen, einfach aufgrund der demografischen Entwicklung. Wenn man das Verhältnis zwischen arbeitender und nicht arbeitender Bevölkerung stabil halten will, dann müssen viel mehr Leute hereinkommen. Sogar die Frau Meloni von einer postfaschistischen Partei, die ganz strikt gegen Migration war, hat jetzt ein Programm beschlossen, dass über 300 000 Leute in den nächsten Jahren nach Italien kommen sollen. Weil man einfach einsieht, dass man das unbedingt braucht. Dieses Thema wird sich massiv verschärfen. Es gibt interessanterweise Umfragen, die zeigen, unter den EU-Staaten gibt es nur mehr zwei Länder, wo die Migration an erster Stelle der Sorgen steht. Das ist Deutschland und Österreich. In den meisten anderen ist man diesem Thema schon etwas pragmatischer gegenüber eingestellt. Ich glaube, dass einfach aufgrund der wirtschaftlichen Erfordernisse und der Fragen des Arbeitskräftemangels, der schon so spürbar ist, wird man einfach sich mehr und mehr bewusst sein, dass man mehr Leute braucht. Man muss die aber auch ausbilden, teilweise in den Ländern, von denen sie kommen. Man muss das regulieren und Lösungen finden in Partnerschaft mit den Sendestaaten. Da sind wir noch weit entfernt. Aber da liegt eher die Lösung als in sehr komplizierten Strukturen über Lager an den Grenzen. Das ist, glaube ich, letztlich nicht wirklich ein sehr erfolgsversprechender Weg, um die Sache in den Griff zu bekommen.
LUKÁŠ: Beziehungsweise auch Ausbildungen nostrifizieren, also einfach anerkennen, wenn jemand in einem anderen Land studiert hat oder eine Ausbildung gemacht hat.
LEHNE: Richtig. Absolut.
LUKÁŠ: Herr Karas, Asylpolitik?
KARAS: Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir nicht alles in einen Topf werfen. Wir haben ein Problem, das steht ja wohl außer Streit. Aber wir werfen in der politischen Debatte die Frage von Flüchtlingen, die sich auf die Flucht machen müssen aufgrund der innenpolitischen Situation, in einen Topf mit Migration, illegaler Migration.
LEHNE: Nur sitzen die im selben Boot.
KARAS: Ja, aber der Punkt ist, wir müssen auch gegenüber der Bevölkerung sorgen. Flucht, illegale Migration und Migration, die wir brauchen, sind drei paar Schuhe mit drei unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen und mit einer unterschiedlichen Antwort. Sie sitzen alle in einem Boot. Daher muss man die Frage stellen, die wir jetzt hier gesagt haben. Wir müssen Hilfe vor Ort machen, wir müssen Abkommen mit den Ländern machen, woher sie kommen, wir müssen dem Schlepper das Handwerk legen, wir müssen einen gemeinsamen europäischen Außengrenzschutz haben, wo registriert und kontrolliert wird, und wir brauchen einen innereuropäischen Solidaritätsmechanismus. Das, was jetzt im Parlament beschlossen wurde, ist ja etwas, was ein wichtiger Schritt nach vorne ist, definitiv, aber nicht alle Fragen löst. Erstens nicht alle Fragen löst bei der Umsetzung. Und auch wenn das alles umgesetzt ist, ist das noch kein gemeinsames europäisches Asyl- und Migrationspaket. Daher müssen wir uns verantwortungsvoll um das Thema weiter bemühen, unabhängig von der Demografie. Es geht immer um Menschen. Ich sage Ihnen, es irritiert mich, wenn jemand wie ich, der sich dafür einsetzt, dass Menschen im Mittelmeer nicht ertrinken und dass man nicht in Boote steigt, dass der als ein Linker bezeichnet wird. Das hat nichts mit links oder rechts zu tun, sondern wir brauchen einen gemeinsamen Außengrenzschutz und legale Fluchtwege und eine geordnete Migrationspolitik. Das eine steht nicht im Widerspruch zum anderen.
LUKÁŠ: Man nennt es auch Menschlichkeit, eigentlich. Ich hoffe, in diesem Raum sind sich hier alle einig. Das wäre schön. Ach Gott, es gibt so viele Themen. Es gibt so viele Herausforderungen und es gibt so viel, was es zu tun gibt: Wirtschaft, Klima, Sicherheitspolitik. Angesichts all dieser Dinge frage ich mich: Steht die EU an einem großen Wendepunkt? Wird jetzt etwas Einschneidendes passieren? Kommt jetzt gerade alles zusammen und wirkt deshalb so viel größer? Wo ist die Hoffnung zu Hause, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen könnte eines Tages?
LEHNE: Ich glaube, es gibt absolut Politiker und Menschen, die sich die Europäische Union ganz anders aufstellen wollen. Die verlangen – das war teilweise bei dieser Zukunftskonferenz, die vor zwei Jahren stattgefunden hat, spürbar – einen großen Schritt nach vorn. Einen neuen Vertrag, der wirklich viel ambitionierter ist, der eine Art Europäische Föderation zum Ziel hat. Interessanterweise wird das auch im Programm der deutschen Bundesregierung angesprochen als Wunschvorstellung. Aber man muss realistisch sein. Aufgrund der Krisen, der permanenten Krisensituation, des dauerhaften Krisenmanagements, fehlt einfach den Politikern die geistige Freiheit, sich auf ein so großes Projekt einzulassen.
LUKÁŠ: Und die Zeit.
LEHNE: Und die Zeit. Und das Risiko ist auch sehr groß, dass das an irgendwelchen Referenten in irgendwelchen Ländern scheitern wird. Deshalb glaube ich, realistischerweise wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren dieser Krisenmodus nicht weggehen, er wird sich möglicherweise sogar verschärfen. Man muss weiter, so wie in den letzten 15 Jahren, gut und konstruktiv auf diese Krisen reagieren, indem man einfach die EU schrittweise stärkt im Rahmen des bestehenden Vertrages. Man kann alles Mögliche machen, wenn sich die EU-Mitgliedsstaaten einig sind und so eine laufende Stärkung der Europäischen Union zusammenbringt und sie in die Lage versetzt, mit diesen Problemen zurande zu kommen. Und das interessante ist, wenn man Fortschritte erzielt, wie das durchaus bei manchen Fragen in der Vergangenheit der Fall war, erzeugt man auch Vertrauen und damit wieder die Kraft, auch den nächsten Schritt erfolgreich zu machen. Auf diese Weise muss man weitergehen. Große revolutionäre Schritte, neue Verträge, neue Verfassungen sehe ich nicht in absehbarer Zeit.
LUKÁŠ: Ihr Credo ist, wenn wir zusammenhalten, dann sind wir gemeinsam stärker und können den Krisen besser die Stirn bieten. Das kann uns über alles drüber schiffen.
LEHNE: Das ist eine Hoffnung.
LUKÁŠ: Ich habe nach einer Hoffnung gefragt, ich bin selbst schuld. Aber ich glaube, viele Menschen derzeit fragen nach einer Hoffnung. Auch zur Europa-Wahl zu gehen, kann Hoffnung stiften beziehungsweise die Richtung zum Ausdruck bringen. Herr Karas, Sie haben vorher kurz mit dem Kopf geschüttelt, habe ich gesehen, während der Herr Lehne gesprochen hat. Was ist Ihnen denn aufgestoßen?
KARAS: Es werden sich diese Probleme und diese Herausforderungen nicht von selbst in Wohlgefallen auflösen.
LUKÁŠ: Schade.
LEHNE: Das habe ich auch nicht behauptet.
KARAS: Sondern wir müssen politisch handeln. Wir müssen politisch Verantwortung übernehmen. Und wir müssen die Lehren aus den herausfordernden Krisen, die wir alle kennen, gemeinsam ziehen. Es geht gar nicht primär, das haben Sie auch nicht gesagt, um eine Vertragsform. Es geht um den politischen Willen. Wir stehen vor einer Richtungsentscheidung zwischen der Bereitschaft und dem politischen Willen, diese Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen und damit die europäische Zusammenarbeit zu stärken oder in die Nationalismen zu zerfallen. Es gibt kein weiter im Status Quo. Wir sind gefordert, und daher geht es auch bei der Europaparlamentswahl um die Frage: Welche Richtung? Demokratie oder Autokratie? Verantwortung oder Schuldzuweisung? Hoffnung oder Destruktivität werden gewählt. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil wir brauchen überall eine demokratische Mehrheit. Für diese müssen wir werben. Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt. Wir werden keine Stimmen gewinnen, indem wir den Leuten immer erklären, was alles nicht geht und was man uns alles nicht zutraut. Wir brauchen Leuchtfeuer für die Ziele und dem müssen wir nachgehen und dafür werben. Das wird die nötigen Veränderungen bringen. Ein Step-by-step ist im Moment, glaube ich, etwas zu wenig. Ein Reduzieren der Lösung auf Polstertürendeals und gegenseitige Abtausche ist zu wenig. Wir müssen den Kontinent Europa einen und Europa eine Rolle in der Welt geben. Das, was wir alles jetzt erzählt haben, täglich tun. Der politische Wille kann Berge versetzen. Wir haben leider zu wenig politischen Willen, für Europa einzutreten, und zu viel Bequemlichkeit, in den Mitgliedsstaaten den Status Quo gegen Europa zu verteidigen. Mut und Ehrlichkeit und politischer Wille kann mehr tun als ein Schritt für Schritt weiter.
LEHNE: Das wäre jetzt ein wunderschönes Schlusswort, aber ich habe noch einen kleinen Punkt anzuführen. Wir haben gerade bei Carnegie eine Studie gemacht über den Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien in Europa und ihre Absichten für die Europaparlamentswahl. Das muss man schon auch sagen, ich bin ganz bei Herrn Karas. Das ist wirklich ein Problem, wir haben eine desintegrative Dynamik in der Europäischen Union, wir haben mehr Nationalismus als noch vor verschiedenen Jahren. Wir haben eine Reihe von Parteien, die Europa im Grunde genommen zerstören oder entscheidend schwächen wollen. Der Herr Orban ist neulich gefragt worden, ob er den Austritt Ungarns aus der EU anstrebt, und er hat gesagt, nein, wir wollen nicht austreten, wir wollen Europa erobern. Das ist irgendwie der Anspruch von einer ganzen Reihe nationalistischer Politiker, die nicht mehr sagen, wir wollen heraus, sondern wir wollen von innen diese EU verändern in eine lose Allianz von Nationalstaaten. Darum wird es sehr entscheidend bei den Europäischen Parlamentswahlen, da Parteien zu stärken, die Europa ernst nehmen, die die Gemeinsamkeit fördern wollen und den Politikern, die auf Spaltung aus sind, auf Nationalismus aus sind, möglichst viel entgegenzuwirken. Das ist, glaube ich, eine der entscheidenden Fragen dieser Wahl.
LUKÁŠ: Dann hätte ich nur mal eine letzte Frage für Sie, und zwar wie das Europäische Parlament bei dieser Weiterentwicklung mithelfen beziehungsweise welche Rolle es spielen kann.
KARAS: Eine zentrale. Das Europäische Parlament ist das Herzstück der Demokratie in Europa. Das Europäische Parlament ist die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger. Es kann keine Zukunft der Europäischen Union ohne Bürgerinnen und Bürger geben. Es kann die Zukunft Europas nicht ohne Parlamente und eine wehrhafte Demokratie geben. Daher muss das Europäische Parlament seine Rolle spielen. Es muss sie wahrnehmen wollen und es muss sich auf die Seite von Lösungen stellen, von Zusammenarbeit stellen und vor allem auf die Seite der Transparenz stellen. Jede Öffentlichkeit stärkt die Demokratie, jede Öffentlichkeit verhindert Erpressbarkeit und Hinterzimmerdeals. Wir benötigen diese Ehrlichkeit, diese Offenheit, diese Fähigkeit zur politischen Auseinandersetzung, um die Bürger zu Beteiligten zu machen. Der Herr Lehne hat eine Studie angeschnitten über die Extreme. Ich sage, die Extreme sind eines, aber die Frage ist, wie die Mehrheit in der Mitte mit diesen Extremen umgeht. Biedert man sich an, geht man den bequemsten Weg, statt sich auseinanderzusetzen oder setzt man sich zusammen, um an Problemen und Veränderungen verantwortungsvoll zu arbeiten? Wir alle sind gefordert. Es ist nicht nur eine Frage der Abgrenzung gegenüber den Extremen, es ist eine Frage der Wahrnehmung der politischen Verantwortung aller.
LEHNE: Und dem habe ich nichts hinzuzufügen.
LUKÁŠ: Das ist ein Schlusswort. Herr Lehne, Herr Karas, vielen Dank, dass Sie mit uns heute diesen Ritt durch das aktuelle EU-Geschehen gemacht haben. Danke für das interessante Gespräch und dass Sie sich die Zeit genommen haben.
KARAS: Wir danken.
LEHNE: Vielen Dank für die Einladung.
LUKÁŠ: Und das war es auch schon wieder mit "Rund ums Parlament”. Ich hoffe, diese Folge hat euch gut informiert und vielleicht auch gefallen. Wenn ja, dann gebt uns eine Bewertung, das würde uns sehr freuen. Und abonniert uns, wenn ihr das noch nicht getan habt, dann verpasst ihr sicherlich auch nicht die nächste Folge. Beim nächsten Mal in "Rund ums Parlament” widmen wir uns einem neuen Thema. Der Frage nämlich, wie stark die Demokratie als Regierungsform weltweit und auch in Europa unter Druck steht und was wir gegen diesen Druck tun können. Angesichts der weltweiten Tendenzen weg von der Demokratie, wir haben ja heute auch schon drüber gesprochen, bis hin zur Autokratie und Diktatur, ist es eine ganz spannende und wichtige Frage, die wir mit tollen Gästen besprechen werden. Bis dahin könnt ihr euch gerne noch die früheren Folgen von "Rund ums Parlament” anhören, zum Beispiel die Folge "1933 bis heute: Was kann unsere Demokratie erschüttern?”. Da kann man sich schon mal ein bisschen vorbereiten. Falls ihr Fragen, Kritik oder Anregungen zu unserem Podcast habt, dann schreibt uns immer gerne eine E-Mail an podcast@parlament.gv.at und schaut auch gerne auf unserer Website und den Social-Media-Kanälen des österreichischen Parlaments vorbei. Ich freue mich schon auf die nächste Folge mit euch. Danke, dass ihr mit dabei war. In diesem Sinne, vielen Dank fürs Zuhören. Mein Name ist Tatjana Lukáš. Wir hören uns.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.