Wie sah Ihre Kindheit vor 1938 aus?
Benno Kern (Zeitzeuge): Jedes Kind zwischen sechs und zwölf Jahren hat gewisse Eigenheiten gehabt. Wir haben den Quai-Park, die Roßauer Lände gehabt, im Prater unsere Hauptkindheit verbracht, so wie alle anderen Kinder. Und dort ist es sehr, sehr oft durch die Eltern zu Zwistigkeiten gekommen. Es waren zum Beispiel, will ich Ihnen sagen, im Quai-Park und in anderen Parks Volksbäder, Freibäder. Dort haben die Kinder aller Altersgruppen, von acht bis zehn, zwölf Jahren, herumgeplanscht. In den Parks waren die Sportsachen, entweder Fußballspielen, Tennisspielen, Fangerln, was halt Kinder alles so machen. Und da war es, der Beginn: Jud, Jud, spuck in’ Hut und sag der Mutter, das ist gut – zum Beispiel.
Dann hat es circa 60 Bethäuser gegeben im 2. und 20. Bezirk, da waren alle kulturellen, privaten Seiten erfasst. Das Gebiet des 2. und der 20. Bezirk hat einen besonderen Beinamen gehabt, man hat es die Mazzesinsel genannt. Also, das war eine religiöse Gruppe. Da hat man auch bei fröhlichen Zusammenkünften den Antisemitismus sehr stark gespürt. Zum Beispiel im Quai-Park, da hat es verschiedene, entweder lustige oder anders produzierte Gereime gegeben. Wie soll ich Ihnen das sagen, dass es, wie man sagt, ankommt? Soll ich das alles offen sagen? – Zum Beispiel: Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei, da nahm der Koch ein Messer und schnitt den Hund entzwei. Da kamen viele Hunde und gruben ihm ein Grab, worauf geschrieben ward: Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei.
Jetzt war die ganze Hitlerjugend im Park und hat gesagt: Stopp! Das Lied, die Melodie stimmt, aber der Text ist falsch. Und alle Hitlerjungen kriegen jetzt den Text – in Wirklichkeit heißt es: Ein Jud kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch ein Messer und schnitt den Jud entzwei. Da kamen viele Juden und gruben ihm ein Grab, worauf geschrieben ward: Ein Jud kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Und jetzt Stopp! Alle Hitlerjungen vertreiben alle Juden von unserem Park – und lasst euch hier nie mehr blicken!
Und die, die den HJ-Dolch gehabt haben, haben den alle rausgenommen und haben uns hinausgetrieben: Lasst euch hier nie mehr blicken!
Am nächsten Tag war auf allen Bänken – mit einer Ausnahme – die Aufschrift: "Nur für Arier". Eine Bank nicht, und auf die haben sich die jüdischen Müden gesetzt. Und dann sind sie gekommen, die HJ, haben die Bank genommen und haben sie umgedreht. Die Leute sind alle hinuntergefallen.
Wie haben Sie die Novemberpogrome erlebt?
Benno Kern: Ich bin am 10. November in der Früh in meine Schule, die Talmud-Thora-Schule in der Malzgasse, gegangen und habe Unmengen SS, SA, Hitlerjugend in den Straßen gesehen. Ich bin noch bis zur Schule gelaufen und komme zur Schule, da liegt der Direktor von der Schule, Pollak hat er geheißen, blutüberströmt, und im Hof drin waren 28 Lehrer halb totgeschlagen. Die hat man alle von den Klassenzimmern heruntergeholt und man hat sie halb totgeschlagen beziehungsweise getreten.
Von jedem Stock, vom ersten, zweiten, dritten und vom vierten, dort war das Museum, hat man alle Schulsachen, Gebetsbücher, alles Mögliche aus dem Schulbetrieb von den Fenstern hinuntergeschmissen und man hat einen Scheiterhaufen gemacht. Der Scheiterhaufen hat 4 bis 5 Meter hoch gebrannt.
Und in der Schule unten, im Parterre, war der Talmud-Thora-Schultempel. Da hat man alle Thorarollen und die Gebetsbücher und alles herausgenommen, auf der Straße aufgerollt – so eine Thorarolle geht über die ganze Straße –, das hat man auch von der Leopoldsgasse, auch von der Großen Schiffgasse und so weiter genommen, auf den Straßen aufgerollt und die wilden Horden - - Ich kann nicht sagen, was sie dort gemacht haben, darüber kann man nicht vor Damen reden. Es war schrecklich.
Ich bin auf und davon, bin neben dem Polizeikommissariat vorbeigelaufen, habe die Schultasche in die Polizei geschmissen, damit ich schneller laufen kann, und hinter mir ist die ganze Hitlerjugend gelaufen. Das war eine Gruppe von circa 20 bis 30 Hitlerjungen, angefangen von zwölf bis 17 Jahren, und die sind mir nachgelaufen. Und ich war schon fast bei unserem Haus, in der Wohnung am Karmelitermarkt, dort war ein Kohlenhändler – im Winter hat er Kohlen verkauft und im Sommer Eislutscher –, und der sieht mich rennen, stellt mir ein Haxl, und ich falle, und die Hitlerjugend über mich. Man hat mich damals halb totgeschlagen.
Wie kam es zu Ihrer Deportation nach Auschwitz?
Benno Kern: Das (auf eine blau-weiß gestreifte KZ-Häftlingskleidung weisend) war meine Bekleidung in Auschwitz. Wir sind geflüchtet, von hier nach Antwerpen. Dann hat man in Antwerpen den Judenstern herausgegeben, nicht mit deutscher Aufschrift, sondern nur – weil es zweisprachig war – mit dem Anfangsbuchstaben J – Jood und Französisch Juif. Und daraus (auf die Aufschrift "Jude" auf dem Judenstern weisend) hat man einen Reim gemacht: Juden überleben Deutschlands Ende. – Das ist der Reim.
Dann: Von Antwerpen nach Brüssel, von Brüssel nach Paris, und von Paris wollten wir in den unbesetzten Teil von Frankreich – Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich wurden besetzt –, nur der südliche Teil von Frankreich war unbesetzt. Wir sind dorthin geflüchtet und wollten nach Nordafrika. Wir waren schon auf dem Boot – wir haben so kleine Ausflugsboote gehabt, ganz primitive –, und wir sind schon unterwegs nach Nordafrika gewesen, dann war plötzlich Kanonenbeschuss von der italienischen Marine – retour. Wir haben sofort wieder nach Frankreich retour müssen. Was in der Zwischenzeit war, das dauert viel zu lange.
Wir haben 1942 versucht, vom unbesetzten Frankreich, von Lyon – das ist relativ nah zur Schweizer Grenze –, illegal in die Schweiz zu flüchten. Wir haben es dreimal probiert. Beim dritten Mal hat man uns derart verhaftet: Wir lassen euch jetzt zwar frei, ihr müsst euch aber jeden Tag bei der Präfektur vormittags melden – eine Pflicht!
Ich will Ihnen die Zeit dazwischen nicht erzählen. Wir sind uns jeden Tag melden gegangen, und eines Nachts war eine Razzia mitten in der Nacht und man hat uns verhaftet. Wir waren eine große Verwandtengruppe und Bekanntengruppe. Und wie das Ganze vor sich gegangen ist, das dauert zu lange - -, und es war lebensgefährlich. Jede Stunde, jede Sekunde waren wir in Lebensgefahr. Sie sind mit entsicherten Pistolen dagewesen und haben uns in die Sûreté verhaftet. Von der Sûreté hat man uns nach Drancy gebracht. Haben Sie von Drancy gehört? – Das ist neben Paris, dort hat man eingeteilt für die Transporte in den Osten. Das war das Wort: Ihr kommt alle in den Osten! (Shlomo Kern –Benno Kerns Sohn –: Wie viele Personen waren das?) – Wir waren in den verschiedenen Hotels untergebracht, und wir waren über 20 Personen auf dem Platz, wo man uns verhaftet hat. (Shlomo Kern – Benno Kerns Sohn –): Zum Transport Papa: Wie viele waren im Transport?) – Es waren 4 500 und dann sind noch 1 000 von einer anderen Gruppe dazugekommen. Wenn Sie jetzt den Strich sehen wollen: Es haben 16 überlebt!
Wir waren eingeteilt auf drei Züge zu je Tausend – Männer, Frauen, Kinder unter 5 Jahre und über 60-Jährige, alle zusammen.
Da sind wir – soll ich das erzählen vom Priester? – in Auschwitz angekommen und man hat eingeteilt. eine Gruppe Männer von 15 bis 60, dieselbe Gruppe Frauen, auch von 15 bis 60. Die anderen waren inzwischen noch in den Zügen und sind dann auf einem freien Feld versammelt worden. Das waren die über 60- und die unter 15-Jährigen, kleine Kinder.
Warum ist es Ihnen wichtig, Ihre Geschichte zu teilen?
Benno Kern: Erstens einmal, weil ich sie persönlich mitgemacht habe, mit meiner ganzen Familie, und ich bin sozusagen der einzige lebende Zeuge. Und das möchte ich in erster Reihe meinen Kindern, Enkeln und den weiteren Generationen mitteilen. Ich fühle mich diesbezüglich auch dazu verpflichtet.
Was wollen Sie nachkommenden Generationen mitgeben?
Benno Kern: Erstens einmal, sie sollen die Wahrheit wissen – Nummer eins –. Zweitens, leider ist die Wahrheit nicht bei jedem willkommen. Dann muss man gewisse Aufklärung betreiben, denn die Informationsquellen – von Radio, Fernsehen, Zeitungen –, Propaganda sind sehr verschieden – und zum Teil durchdringend. Also ist die Frage, wie es gebracht wird und wie es ankommt, weil die Jungen zum Großteil auch in den von ihren Eltern und Großeltern vorgetretenen Schritten gehen. Und das ist auch sehr diffizil. Es sind die Großeltern leider zum Großteil infiziert, deren Kinder schon ein bisschen mehr aufgeklärt und die dritte Partie ist wissbegierig, sie wollen wissen.