News 24.10.2025, 12:54

Nationale Identität im Wandel: Die Selbst(er)findung Österreichs

Österreichs Identität als Kleinstaat erschien 1945 alles andere als selbstverständlich. Nach den politischen, gesellschaftlichen und moralischen Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs musste sich die Republik neu definieren. Die junge Republik stand vor der Aufgabe, aus den Trümmern einer untergegangenen Ordnung nicht nur Institutionen, sondern auch ein neues Selbstbild zu formen. Diese "Selbst(er)findung" vollzog sich nicht geradlinig, sondern in Etappen und Brüchen als ständiger Aushandlungsprozess.

"Kein zweiter deutscher Staat": Der erste Bundeskanzler Leopold Figl war eine der prägendsten Persönlichkeiten für die Festigung der österreichischen Eigenstaatlichkeit.

Nationen definieren sich in Abgrenzungen, wie Historiker Ernst Bruckmüller schreibt. Für die österreichische Nationsbildung sei die Abgrenzung zu Deutschland "am problematischsten, aber auch am wichtigsten" gewesen. So erklärte Österreichs erster Bundeskanzler Leopold Figl in seiner Regierungserklärung im Dezember 1945, "daß wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren noch werden wollen, sondern daß wir nichts sind als Österreicher." Vor allem bildungs- und kulturpolitisch setzte man im "nation building" auf eine "radikale Verösterreicherung".

Ein Österreichbewusstsein bildet sich

Trotz zwischenzeitlichen Auflebens deutschnationaler Tendenzen, etablierte sich über die Jahre ein breites Österreichbewusstsein. Die Existenz einer eigenständigen und von der deutschen deutlich abgegrenzten österreichischen Nation war seit den späten 1960er-Jahren kein wirkliches Thema mehr. So konnte 1983 konnte der ehemalige Bundeskanzler Bruno Kreisky bei seiner Abschiedsrede im Parlament sagen: "Niemand stellt heute mehr die Lebensfähigkeit Österreichs in Frage. Es ist ein neuer, sehr ruhiger und stiller Patriotismus entstanden."

Bruno Kreiskys aktive Neutralitätspolitik und der damit verbundene internationale Reputationsgewinn prägten Österreichs Nationalbewusstsein nachhaltig.

Kreisky war auch eine der prägendsten Figuren für die Profilierung einer bis heute zentralen Säule österreichischen Nationalbewusstseins: der Neutralität. Stellte diese zunächst eher einen mehrdeutigen Verhandlungskompromiss mit den Siegermächten dar, entwickelte sie sich im Verlauf der Jahrzehnte zu einem "Code für Wohlstand, Sicherheit und internationale Reputation", wie Historiker Oliver Rathkolb formuliert. Entscheidend dafür war die von Kreisky praktizierte aktive Neutralitätspolitik, durch welche Österreich als Brückenbauer zwischen Ost und West aber auch als Vermittler im Nahen Osten hohes weltweites Ansehen genoss. Ein Höhepunkt dieses "Goldenen Zeitalters" österreichischer Außenpolitik war die Wahl des ehemaligen Außenministers Kurt Waldheim zum Generalsekretär der Vereinten Nationen im Jahr 1971.

Opferthese: Gründungsmythos und Selbsttäuschung

Waldheims Kandidatur zum Bundespräsidenten im Jahr 1986 markierte jedoch eine Zäsur in der Selbstwahrnehmung der Zweiten Republik. Die internationale Kritik an seiner verschwiegenen Wehrmachtsvergangenheit löste eine breite öffentliche Debatte über Österreichs Rolle im Nationalsozialismus aus. Die bis dahin weitgehend vorherrschende Opferthese – die Vorstellung, Österreich sei 1938 das "erste Opfer" Hitler-Deutschlands gewesen – wurde nachhaltig erschüttert. Schließlich relativierte Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 im Nationalrat die Opferthese zum ersten Mal auch von offizieller Seite und räumte die Mitschuld vieler Österreicherinnen und Österreicher an den Verbrechen des Nationalsozialismus ein.

Die "Waldheimaffäre" löste eine breite Debatte über die Mitschuld der Österreicherinnen und Österreicher an den Verbrechen des NS-Regimes aus.

Die Entwicklung der Opferthese zeigt exemplarisch, wie sehr nationale Identität im Wandel begriffen ist. So bewirkten und bewirken auch spätere Entwicklungen wie der EU-Beitritt, verstärkte Migrationsbewegungen oder auch die Umwälzungen durch den Krieg in der Ukraine, dass die nationale Identität - oder einzelne ihrer Stränge - in einem anderen Licht erscheint.