Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ab Februar 2022 rückte die militärische Landesverteidigung schlagartig ins Zentrum des politischen Interesses. In ganz Europa und darüber hinaus war von einem "gravierenden Umbruch", einer "Zäsur in der europäischen Sicherheitsarchitektur" und einer "Zeitenwende" die Rede. Für Österreich, das mit seiner Neutralität eine Sonderstellung einnimmt, stellt dies jedoch nicht den ersten sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel dar. Seit der der Wiedererlangung seiner Souveränität 1955 steht Österreichs Sicherheitspolitik im Spannungsfeld zwischen Neutralität, internationaler Einbindung und den Anforderungen einer sich wandelnden Weltordnung.
Retrospektive: 70 Jahre österreichische Sicherheitspolitik
Neuaufbau und Neutralität als Identitätsmerkmal
Nach dem Abschluss des Staatsvertrags 1955 begann Österreich mit dem Aufbau seiner Streitkräfte. Das Bundesheer galt aufgrund der späten Wiedergründung des Verteidigungsministeriums als "zu spät gekommener" Akteur, dem nur geringe Ressourcen überlassen wurden. Zum Vergleich: Der Aufbau der österreichischen Polizei inklusive des Staatspolizeilichen Dienstes (STAPO) als nachrichtendienstlicher Organisation war bereits unmittelbar nach Kriegsende 1945 erfolgt. Zudem schuf Österreich mit dem 1955 beschlossenen Neutralitätsgesetz ein wesentliches Element seiner Eigenstaatlichkeit. Historiker wie Oliver Rathkolb sprechen dabei von der "Magna Charta" der Zweiten Republik. Während sie von Beginn an einen mehrschichtiger Kompromiss darstellte, entwickelte sie sich im Verlauf der Jahrzehnte zu einem zentralen Bestandteil des politischen Selbstverständnisses.
Die erste Parade des Österreichischen Bundesheeres 1955: Ehrenformation für den vorbeischreitenden Bundespräsident Theodor Körner.
Brückenbauer und geheimer Verbündeter
In den 1970er-Jahren verfolgte Österreich unter Bundeskanzler Bruno Kreisky eine aktive Neutralitätspolitik. Prägend für diese Phase war das von General Emil Spannocchi entwickelte Konzept der "Raum- und Territorialverteidigung", das einen Angriff auf Österreich strategisch unattraktiv machen sollte. Trotz offizieller Äquidistanz zu NATO und Warschauer Pakt, sah man die Bedrohung vor allem aus dem Osten kommen. Österreich agierte somit als "geheimer Verbündeter" der NATO. Gleichzeitig ermöglichte es die sparsame Spannocchi-Doktrin, die notwendigen Mittel für eine aktive Neutralitäts- und Außenpolitik zur Verfügung zu haben. Österreich nutzte die Neutralität als außenpolitisches Kapital und wirkte als Vermittler im Nahen Osten und als Brückenbauer zwischen Ost und West.
Staatssekretär Bruno Kreisky und Außenminister Leopold Figl warten 1955 auf US-Außenminister John Foster Dulles. 15 Jahre später wird Kreisky als Bundeskanzler eine aktive Neutralitätspolitik prägen.
Neuorientierung nach dem Ende des Kalten Krieges
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts Anfang der 1990er-Jahre stand Österreich vor einer sicherheitspolitischen Neuorientierung. Die Neutralität verlor ihren ursprünglichen Bezugsrahmen, blieb aber auf ihren harten Kern – Bündnis- und Stützpunktverzicht – reduziert bestehen, im Rahmen der sogenannte "Avocado-Doktrin". Österreich beteiligte sich zunehmend an internationalen Friedenseinsätzen, etwa in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo, trat 1995 der Europäischen Union bei und beteiligte sich unter Verweis auf die "irische Klausel" an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Österreich wandelte sich laut Politikwissenschaftler Franz Eder zu einem "post-neutralen Staat", dessen Sicherheitspolitik eng in europäische und transatlantische Strukturen eingebettet ist.
Vom Bedeutungsverlust zur sicherheitspolitischen Renaissance
Nach dem Jahr 2000 verschob sich der sicherheitspolitische Fokus auf neue Bedrohungen wie Terrorismus und Cyberangriffe. Die Sicherheitsdoktrin von 2001 unterstrich den zunehmenden Bedeutungsgewinn der inneren Sicherheit, während konventionelle militärische Angriffe als unwahrscheinlich galten. Die Debatte um die allgemeine Wehrpflicht mündete 2013 in eine Volksbefragung, bei der sich eine Mehrheit für ihren Erhalt aussprach.
Spätestens seit dem Krieg in der Ukraine erlebt die militärische Landesverteidigung jedoch eine Renaissance. Über Parteigrenzen hinweg herrscht nun Einigkeit, das Bundesheer finanziell und materiell zu stärken – auch, um die Glaubwürdigkeit der Neutralität zu untermauern. Österreichs Sicherheitspolitik bewegt sich damit weiterhin in jenem Spannungsfeld, das sie seit 1955 prägt – zwischen Tradition und Anpassung, Eigenständigkeit und internationaler Verflechtung, Neutralität und geopolitischer Realität.
Soldaten am Heldenplatz am Nationalfeiertag 2022: Der Angriff auf die Ukraine im Februar rückte die Bedeutung einer starken Landesverteidigung ins öffentliche Bewusstsein.