News in einfacher Sprache 12.09.2024, 10:56

#MehrAlsEinKreuzerl: Wie sich unser Wahlsystem entwickelt hat

Als das Wahlrecht eingeführt wurde, durften nur Personen wählen, die einen gewissen Stand hatten oder genug Steuern zahlten. 1907 durften dann alle Männer über 24 Jahren wählen. Bis Frauen wählen konnten, dauerte es noch weitere 11 Jahre. Erst durch das Ende der Monarchie bekamen auch die Frauen eine Stimme.

Doch das war nur ein Zwischenschritt in der langen Entwicklung zu dem Wahlsystem, wie wir es heute in Österreich kennen.

Entscheidung für Verhältnis-Wahlrecht

Nach dem Ende des Nationalsozialismus 1945 stand die Zweite Republik vor einer wichtigen Frage: Soll man ein konkurrierendes Mehrheits-Wahlrecht einführen? Dann erhält die Person das Mandat, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen bekommen hat. Oder soll man ein konsensorientiertes Verhältnis-Wahlrecht einführen? Dann werden die Mandate im Verhältnis zu den abgegebenen Stimmen verteilt.

Wegen der konfliktreichen Geschichte in der Ersten Republik entschied man sich für das Verhältnis-Wahlrecht. In den meisten Bundesländern wurde außerdem ein Proporz-System eingeführt: Wenn eine Partei genug Stimmen bekommen hat, hatte sie damit automatisch Anspruch auf eine Regierungs-Beteiligung und stellte Mitglieder für die Landesregierung. Das wurde später zum großen Teil wieder abgeschafft. Proporz-Systeme gibt es noch in Oberösterreich, Niederösterreich und Wien.

"Die Geschichte des Wahlsystems ist eine Entwicklung zu mehr Proportionalität und Anbindung an die Wählerinnen und Wähler." Das sagt Politikwissenschafterin Katrin Praprotnik von der Universität Graz im Gespräch mit der Parlamentsdirektion. Sie ist Mitherausgeberin des Buchs "Das politische System Österreichs" und kennt die Entwicklung des österreichischen Wahlsystems. Die Zahl der Stimmen soll sich besser in der Zahl der Mandate niederschlagen und damit dem Willen der Wähler:innen besser entsprechen.

Änderung als Folge einer Minderheitsregierung

Österreichs Wahlsystem machte drei große Veränderungen durch. Die erste war 1970. Kein Zufall, sagt Praprotnik. Das war genau zu der Zeit, als es die einzige Minderheits-Regierung Österreichs unter Bruno Kreisky gab. Denn: Kreiskys SPÖ-Alleinregierung wurde damals von der FPÖ "mit dem Ziel einer Wahlrechtsreform" gestützt. Dieses Ziel hat sie auch erreicht.

Mit der Reform von 1970 gab es statt 165 dann 183 Nationalrats-Mandate. Die Wahlkreise wurden von 25 auf neun reduziert. Es wurde auch ein anderes mathematisches Verfahren zur Berechnung der Mandatsverteilung eingeführt. Dadurch werden kleinere Parteien begünstigt.

Bis dahin waren kleine Parteien bei Vergabe der Mandate benachteiligt. Die beiden großen Parteien waren im Vorteil. Die FPÖ wollte das ändern. Laut Praprotniks Forschung hat sie das auch geschafft: Die Mandate werden seither entsprechend der Zahl der Stimmen vergeben. Die Kleinparteien haben seit 1970 keine Nachteile mehr.

Weg frei für neue Parteien

Für Praprotnik ist das ein Parade-Beispiel: Ein scheinbar theoretisches Thema, wie zum Beispiel das mathematische Verfahren zur Berechnung der Mandate, ist in Wahrheit hochpolitisch. Denn die Entscheidung für ein Wahlrecht bestimmt mit: Wie sieht ein Parteien-System aus, wie sieht der Nationalrat aus und wie sieht eine Regierung aus?

Durch diese Reform konnten auch andere Parteien miteinander eine Koalition bilden, nicht nur SPÖ und ÖVP.

Die Folge war eine Normalisierung der Parteien-Landschaft in den achtziger und neunziger Jahren, sagt Praprotnik. Das Verhältnis-Wahlrecht ist eigentlich dadurch gekennzeichnet, dass es mehrere Parteien gibt. Österreich hatte bis dahin ein Zwei-Parteiensystem und später ein Drei-Parteiensystem. Mit der Zeit wuchs die Zahl der Parteien aber auf eine international übliche Größe an. Derzeit sind fünf Parteien im Nationalrat vertreten

Dritte Ebene beim Wahlgang

Die zweite größere Änderung im Wahlsystem kam 1992. Damals führte man eine dritte Ebene beim Wahlgang ein. Seither kann man seine Stimme nicht nur auf Bundes- und Landesebene vergeben, sondern auch auf regionaler Ebene.

Die Idee war: Wenn es auf regionaler Ebene schon Grundmandate zu vergeben gibt, müssen die Politiker:innen stärker in ihrer Heimatregion sichtbar sein und um Stimmen werben.

Dafür wurden 43 neue Regional-Wahlkreise in ganz Österreich eingeführt. Mitte der 2000er-Jahre schrumpften sie auf 39. Das war die Folge von Zusammenlegungen von Gemeinden in der Steiermark.

Außerdem wurde das System der Vorzugsstimmen ausgebaut: Wähler:innen können Kandidat:innen direkt unterstützen. Sie können sie auf den Regional-, Landes- und Bundeslisten nach vorne reihen. In der Theorie können so Kandidat:innen mit genügend Stimmen ein Mandat bekommen, das sie sonst wegen ihres Listenplatzes nicht bekommen hätten.

Die Praxis hat aber gezeigt: Einerseits sind die Hürden zu hoch, um wirklich weit vorgereiht zu werden. Andererseits sind es ohnehin die Spitzenkandidat:innen der Parteien, die die meisten Vorzugsstimmen bekommen, sagt Praprotnik.

Senkung des Wahlalters und Ausweitung der Briefwahl

Die letzte Aktualisierung des Wahlrechts gab es 2007: Das aktive Wahlalter wurde von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Die Legislatur-Periode des Nationalrats wurde von vier auf fünf Jahre verlängert. Nationalrats-Wahlen finden also nur noch alle fünf Jahre statt.

Dass schon 16-Jährige wählen dürfen, hat vor allem den Vorteil: Sie müssen mit ihrer neuen Verantwortung nicht allein gelassen werden. "Wenn man so jungen Menschen das Wahlrecht gibt, befinden sie sich in der Regel noch im Schulsystem. Dort können sie auch begleitet und unterstützt werden", so Praprotnik. Eine Studie der Universität Wien zeigte 2017: 16- bis 17-jährige Erstwähler:innen waren besser informiert als ältere Erstwähler:innen.

Österreich nimmt mit seinem Wahlalter von 16 Jahren eine Vorreiterrolle ein. In Europa dürfen 16-Jährige sonst nur in Malta ihr Parlament wählen. Auch die Dauer der Legislatur-Periode macht Österreich zur Ausnahme: In den meisten Ländern der EU beträgt sie vier Jahre.

Die letzte wesentliche Änderung von 2007 war eine Ausweitung der Briefwahl. Das war davor nur als Not-Maßnahme gedacht. So sollten auch Menschen ihre Stimme abgeben können, die aus gesundheitlichen Gründe nicht in ein Wahllokal gehen können. Mit der Reform können nun alle Wahlberechtigten ihre Stimme per Briefwahl abgeben.

1970 1992 2007
Mandate 183 183 183
Legislaturperiode 4 4 5
Wahlkreise 9 53 (später 49) 49
Prozenthürde 5 Prozent 4 Prozent 4 Prozent
Aktives Wahlalter 19 18 16
Passives Wahlalter 25 19 18