Parlamentskorrespondenz Nr. 335 vom 21.06.1999
JUSTIZMINISTER MICHALEK: RECHTSPOLITIK HAT ZUKUNFT
Wien (PK) – Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER begrüsste heute Abend ein zahlreiches und prominentes Publikum zur Präsentation eines neuen Buches über Rechtspolitik im Parlament. Es trägt den Titel "Rechtspolitik der Zukunft – Zukunft der Rechtspolitik" und fasst die Ergebnisse eines Symposiums zusammen, das sich im Mai des letzten Jahres mit "Rechtspolitischen Perspektiven für das 21. Jahrhundert" befasste. Organisatoren dieser Veranstaltung waren die Österreichische Parlamentarische Gesellschaft und das "Journal für Rechtspolitik", in dessen Schriftenreihe das neue Buch als Band 3 erscheint.
Über die Präsentation des Buches und die Darstellung seines Inhaltes durch die Herausgeber Univ.-Prof. Dr. Michael HOLOUBEK (Wien) und Ass.-Prof. Dr. Georg LIENBACHER (Salzburg) hinaus bot der Abend Gelegenheit zur Behandlung aktueller justizpolitischer Fragen durch Justizminister Dr. MICHALEK und den deutschen Staatssekretär im Justizministerium, Dr. Hans-Jörg GEIGER, der die deutsche Justizministerin Dr. Hertha Däubler-Gmelin vertrat.
Justizminister Dr. MICHALEK ging in seinen Ausführungen von der These aus, dass Justizpolitik, wie er sie verstehe, weitgehend Rechtspolitik sei. Er räumte ein, die Rechtssetzung in Österreich gehe weg von grossen gesetzgeberischen Würfen und hin zu legistischem Stückwerk. Dem Gesetzgeber fehle die Kraft zu grossen legislativen Konzepten, er erschöpfe sich vielfach in der Lösung von Detailfragen, wobei das legislative Tagesgeschäft im Aufspüren des kleinsten gemeinsamen Nenners für tagespolitische Lösungen bestehe. Von "Gesetzesflut" im Sinne einer unangemessen grossen Zahl von Normen wollte Michalek aber nicht sprechen.
Der Minister bekannte sich zu einer konsistenten, kontinuierlichen und für den Bürger überschaubaren Rechtspolitik und ging auf die Frage ein, wer Rechtspolitik mit welchen Methoden betreiben soll. Wichtig ist dem Justizminister die Kooperation, die politische Symbiose zwischen Parlament und Regierung. Dies sei die Voraussetzung für ein funktionierendes Regierungssystem. Die dreifache Mitwirkung der Exekutive an der Gesetzgebung bestehe in der politischen Gestaltung im Vorfeld des parlamentarischen Entscheidungsprozesses, der Unterstützung der parlamentarischen Willensbildung sowie in der Vorbereitung und Überwachung der Gesetzesvollziehung. In diesem Zusammenhang erläuterte Minister Michalek das Begutachtungsverfahren und unterstrich die Transparenz des Gesetzgebungsprozesses durch den Dialog mit der Öffentlichkeit.
Zur Behebung der Defizite im Gesetzgebungsverfahren der EU hielt Minister Michalek die blosse Verstärkung des Europäischen Parlaments nicht für ausreichend. Es bedürfe einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit und Medienwelt und ausreichender Sachkompetenz in der Normenvorbereitung.
Für ein wesentliches Ziel der europäischen Rechtsentwicklung hielt der Justizminister die Aufrechterhaltung der zivilrechtlichen Gestaltungsfreiheit und der privaten Autonomie, was freilich nicht bedeute, sich seitens des Gesetzgebers auf einen Laisser-faire-Standpunkt zurückzuziehen. Er müsse den Schutz des Schwächeren weiterhin im Auge behalten. Überdies werde jede Reformpolitik gut beraten sein, so Michalek weiter, der Einheit von zivil- und strafrechtlichen Regelungen Augenmerk zu schenken.
Abschliessend zeigte sich der Justizminister überzeugt, dass die Bereitschaft zur Anerkennung gemeinsamer Rechtsstandards in der EU überall dort besonders gross ist, wo es um die Lösung von Problemen geht, die für alle Mitgliedsländer neu sind. Die Rechtspolitik hat Zukunft, lautete die Schlussfolgerung des Justizministers.
Der deutsche Staatssekretär Dr. Hans-Jörg GEIGER berichtete, dass die Frage nach der Zukunft der Rechtspolitik auch Deutschland bewege, und befasste sich mit den Ursachen und psychologischen Faktoren der Tendenz, immer mehr Regelungen in Gesetzesform zu giessen. Er registrierte eine abnehmende Bereitschaft, ausserrechtliche Vereinbarungen und Normen zu akzeptieren, eine abnehmende Kraft gesellschaftlicher Gruppen wie Kirchen und Gewerkschaften, Regelungen für das soziale Leben zu vereinbaren. Dazu komme die Notwendigkeit, das Recht im europäischen Rahmen zu harmonisieren. Der erreichte Stand der Verrechtlichung werde sich nicht mehr zurückdrehen und daher die Zahl der Gesetze nicht entscheidend verringern lassen. Als wichtig bezeichnete auch er es, die Schutzfunktion der Gesetzgebung, die Rechtsstaatlichkeit sowie die Grund- und Menschenrechte zu erhalten, in der Gesetzgebung Schwerpunkte zu setzen und legistisch sorgfältig zu arbeiten. In diesem Zusammenhang brachte Staatssekretär Geiger ein pointiertes Zitat Montesquieus, der sagte: "Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen." Überdies gehe es in der Gesetzgebung darum, dem "Diktat des Aktuellen" zu widerstehen.
Schliesslich erläuterte Geiger Schwerpunkte der Justizpolitik der deutschen Regierungskoalition: das Zivilrecht, die Förderung aussergerichtlicher Streitbeilegung, den Kampf gegen die Gewalt in der Erziehung und den Schutz von Frauen. Dazu kommen Bemühungen zur Stärkung der Zivilgesellschaft, etwa in der Auseinandersetzung mit multinationalen Unternehmen, die sich nationalem Recht entziehen. Dies durch neue Formen der Zusammenarbeit von Staat und Organisationen wie Amnesty International und Greenpeace.
In der europäischen Rechtspolitik verfolge die deutsche Regierung das Ziel einer europäischen Grundrechtscharta, wobei sie sich auch neuen Problemen im Bereich der Biotechnologie stellen möchte. Die Frage, ob Rechtspolitik Zukunft habe, bejahte Staatssekretär Dr. Geiger und bekannte sich nachdrücklich für eine weitsichtige Rechtspolitik in Deutschland, in Österreich und in Europa.
DIE ERGEBNISSE EINES PARLAMENTS-SYMPOSIUMS IN BUCHFORM
Unter dem Titel "Rechtspolitik der Zukunft - Zukunft der Rechtspolitik" haben Michael Holoubek und Georg Lienbacher als Herausgeber die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Symposiums in Buchform gefasst, das sich am 18. und 19. Mai 1998 im Parlament mit "Rechtspolitischen Perspektiven für das 21. Jahrhundert" befasst hat. Während Univ.–Prof. Dr. Michael HOLOUBEK (Wien) die grundsätzliche Überzeugung der Herausgeber des "Journals für Rechtspolitik" erläuterte, sich seitens der Rechtswissenschaft mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Möglichkeiten für die Gestaltung wichtiger Rechtsprobleme bestehen, stellte Ass.-Prof. Dr. Georg LIENBACHER (Salzburg) die Haupthesen der einzelnen Beiträge in knapper Form dar.
MUSS DIE GESETZGEBUNG UMGEBAUT WERDEN?
Ausgangspunkt des Symposiums wie des nunmehr vorliegenden Buches ist die Diskussion über den Verlust der Steuerungsfunktion der Gesetzgebung und die daran geknüpfte Frage, ob und inwieweit die Gesetzgebung grundlegend umgebaut werden müsse. Eingeleitet wird der Reigen der Diskussionsbeiträge von Heinrich Neisser, der es begrüsst, dass sich die Gesetzgebungswissenschaft als eine eigene Disziplin etabliert hat und sich mit den Ursachen der "unbändigen Lust an der Durchnormierung aller Lebensbereiche" und der "Reglementierungswut" befasst. Eine der Kernfragen, die Neisser besonders interessieren, lautet, inwieweit der Europäisierungsprozess über die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts hinaus zur Vereinheitlichung nationaler Rechtskreise und -kulturen führen wird.
RECHTSPOLITIK ALS NEUE WISSENSCHAFTLICHE DISZIPLIN
Michael Holoubek setzt sich in seinem Beitrag mit den Problemfeldern "Gesetzesflut", "Steuerungskrise" des Rechts und "Einheitlichkeit" der Rechtsordnung auseinander. Er plädiert dafür, die wissenschaftliche Rechtspolitik als Teil der Rechtswissenschaft zu etablieren. Sie soll, so Holoubek, die rechtssetzende Politik bei der Gestaltung des Rechts beraten.
LEGISTISCHE BERATUNG DER PARLAMENTSAUSSCHÜSSE
Karl Korinek klagt über die schlechte Qualität der Gesetze und konkretisiert seine Kritik anhand jüngerer Beispiele rückwirkender Inkraftsetzungen, Nichtbeachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben, mangelnder Abstimmung, verfehlter Gesetzessystematik, allzu häufiger Novellierungen, systematischer Insuffizienz sowie legistisch-technischer Fehler. Er schlägt die Einbindung hochqualifizierter Juristen in die legistischen Abteilungen der Ressorts und die Installierung eines den Ausschüssen zugeordneten legistischen Dienstes im Parlament vor.
REFORM DER JURISTENAUSBILDUNG
Einen Blick in die Zukunft der Rechtserzeugung im 21. Jahrhundert tut Bernd-Christian Funk, indem er die zu erwartenden Veränderungen im Verhältnis zwischen Struktur und System der Rechtsquellen einerseits sowie der Rechtsgestaltung und Rechtsentwicklung andererseits untersucht. Sein Schluss: "Die Ausbildung der Juristen an den Universitäten wird sich stärker als bisher an der Nachfrage zu orientieren haben. Von dieser Seite kommen Signale, die darauf hinweisen, dass nicht so sehr das konkrete Regelwissen entscheidet, sondern vielmehr der Überblick, der Zugang zu den Zusammenhängen im Recht und nach aussen, die Fähigkeit zur Problemanalyse und zu methodisch bewusster Problemlösung."
ZWEI-KAMMER-GESETZGEBUNG IN DER EUROPÄISCHEN UNION
"Legitimationsdefizite im Rechtssetzungsprozess der EU" analysiert Martin Nettesheim, und zwar hinsichtlich Parlamentarismus, Identität, Effizienz und Transparenz. Seine konstruktiven Vorschläge laufen auf ein Zwei-Kammer-System hinaus, in dem EU-Parlament und Rat unterschiedliche Funktionen in der Rechtssetzung der Europäischen Union erfüllen. Als eine irregeleitete Idealvorstellung bezeichnet Nettesheim die Vorstellung, dass die Legislativfunktion der EU beim Europäischen Parlament monopolisiert werden könnte.
GERICHTE ALS MOTOREN DER RECHTSENTWICKLUNG
Auf "Die zukünftige Bedeutung der Staatsfunktion
Gerichtsbarkeit für die Rechtssetzung" macht Gabriele Kucsko-Stadlmayer aufmerksam. Sie beschreibt die Gerichtsbarkeit
als "Motor der Rechtsentwicklung", vor allem auf europäischer Ebene, wo der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der EuGH die Rechtsentwicklung vorantrieben. Davon gehen vielfältige und teilweise entscheidende Einflüsse auf die nationale Gesetzgebung aus. Angesichts der steigenden Komplexität der "ökonomischen, technischen und zivilisatorischen Verhältnisse" und schwer überschaubarer, komplexer Regelungssysteme komme Gerichtsentscheidungen Orientierungsfunktion zu. In diesem Zusammenhang unterstreicht Kucsko-Stadlmayer die Bedeutung der Unabhängigkeit der Richter. Die Pflege der demokratischen Basis der Justiz hält sie auch im nächsten Jahrhundert für eine wesentliche Aufgabe der Rechtssprechung.
DETAILANALYSEN
Untersuchungen in konkreten Rechtsbereichen bieten Georg Graf (Zivilrecht), Rudolf Mosler (Arbeits- und Sozialrecht), Christian Kopetzki (Medizinrecht), Ewald Wiederin (Innere Sicherheit), Hans-Heinrich Trute (Informationsrecht) und Franz Merli (Umweltrecht).
VERFASSUNGSDIENST IM PARLAMENT
Den Schlusspunkt bilden die Beiträge der Abgeordneten. Madeleine Petrovic von den Grünen plädiert für eine effizientere Gesetzgebung und eine stärkere Rolle des Parlaments im Gesetzwerdungsprozess. Sie fordert, den Verfassungsdienst in das Parlament zu transferieren und im Bundeskanzleramt einen zentralen Rechtsdienst der Regierung einzurichten, um die Tendenz zur Rechtszersplitterung zu stoppen.
MUSS DER STAAT ALLES REGELN?
Abgeordnete Heide Schmidt (L) konstatiert eine "Gesetzesflut" und immer komplizierter werdende Gesetzestexte. Folge sei eine "Zwei-Klassen-Gesellschaft" jener, die sich Experten leisten können, um den Rechtsbestand zu durchschauen und jener, die dies nicht vermögen. Dieser Entwicklung müsse der Gesetzgeber gegensteuern, indem er grundsätzlich fragt, was vom Staat geregelt werden soll und was staatlicher Regulierung nicht bedürfe.
MEHR TRANSPARENZ IN DER GESETZGEBUNG
VP-Abgeordneter Walter Schwimmer beschreibt ein typisch österreichisches Dilemma: Alle wollen weniger Gesetze, fordern angesichts eines konkreten Problems aber jeweils ein spezielles Gesetz. Schwimmer schlägt strengere Regeln gegen allzu kasuistische Gesetzestexte sowie mehr Transparenz und Partizipation der Bürger im Gesetzwerdungsprozess vor.
STÄRKERE ROLLE DES PARLAMENTS
Abgeordneter Ewald Stadler (F) kritisiert die Erosion des Stufenbaus der Rechtsordnung durch Erhebung einfacher Gesetze in den Verfassungsrang, wodurch der Zugang zum Verfassungsrecht zunehmend schwieriger werde. Für klärungsbedürftig hält Stadler das Rangverhältnis zwischen EU-Gemeinschaftsrecht und Verfassungsrecht. Ausserdem will er die Rolle des Parlaments als eines "Vollzugsorgans der Bundesregierung" überwinden, irrelevant gewordene Gesetze abschaffen, das Recht vereinheitlichen und die Kontrollmöglichkeiten der Gerichte stärken.
EINE KOMPLEXE GESELLSCHAFT BRAUCHT KOMPLEXE NORMEN
Schliesslich definiert Nationalratspräsident Heinz Fischer Gesetze als "Gebrauchsanweisungen für das demokratische Zusammenleben". Die Gesetz werden in dem Masse komplexer, in dem die Gesellschaft komplexer werde. Eine moderne Gesellschaft braucht viele Rechtsnormen, will sie auf die vielfachen Anforderungen adäquat reagieren. Den Einfluss des Nationalrates auf die Gesetzgebung hält der Nationalratspräsident für grösser als früher. Hinsichtlich der Lesbarkeit der Gesetze hiesse es, am Thema vorbeizuargumentieren, wenn man sagt, das ASVG müsse so formuliert sein, dass sich jeder genau ausrechnen könne, wieviel Pension er in 22 Jahren bekommen werde.
"Rechtspolitik der Zukunft - Zukunft der Rechtspolitik" wird von Michael Holoubek und Georg Lienbacher als Band 3 der "Texte zur Rechtspolitik" im Springer-Verlag (Wien, New York) herausgegeben. Der broschierte Band hat 428 Seiten und kostet 1.295 S. (Schluss)