Parlamentskorrespondenz Nr. 62 vom 09.02.2000
PENSIONSREFORMPLÄNE DER REGIERUNG IM ZENTRUM DER KRITIK
Wien (PK) - Die neue Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Dr. Elisabeth Sickl, war am Mittwoch Nachmittag mit einer Dringlichen Anfrage (332/J) der SP-Fraktion konfrontiert. Ihre Amtsvorgängerin Abgeordnete HOSTASCH (SP) begründete die Anfrage, die nicht als unfreundlicher Akt gegenüber der neuen Ressortleiterin gedacht sei, mit der Absicht, der Verunsicherung entgegenzutreten, die in der Bevölkerung angesichts der Pensionspläne der VP-FP-Regierung bestehen. Daher sei es notwendig, eine Reihe von Fragen zur Sozial- und Gesundheitspolitik vorweg zu klären.
Der Bundeskanzler habe heute zu Recht die hervorragenden Sozialstandards Österreichs hervorgehoben. Um sie zu halten, werde es notwendig sein Reformen zu setzen, dazu bekenne sich auch die SPÖ, sofern diese wie bisher mit sozialer Ausgewogenheit und am Menschen orientiert erfolgen. Das Programm der neuen Bundesregierung lasse aber befürchten, dass dieser Weg nicht fortgesetzt wird. Hostasch sprach von Ungereimtheiten und Widersprüche im Sozialprogramm der neuen Regierung und konzentrierte sich auf die beabsichtigten "massiven Verschlechterungen" im Pensionsrecht. Die ehemalige Ministerin gab zu bedenken, dass nur sehr wenige Arbeitnehmer im Stande seien, ihren Pensionsantritt selbst zu bestimmen. "Ich erlebe eine Arbeitswelt, in der dieser Zeitpunkt vom Arbeitgeber bestimmt wird".
Die Fragen zum Thema Gesundheitssystem dienten der Klarstellung, ob auch in Zukunft der Solidaritätsausgleich zwischen Gesunden und Kranken, Älteren und Jüngeren sowie zwischen Frauen und Männern funktioniere. Ein zwanzigprozentiger Selbstbehalt ohne Differenzierung für Arztbesuche, Spitalaufenthalte, Geburten oder Operationen lasse Zweifel aufkommen. Überdies kritisierte Hostasch die undifferenzierte Form der Ermächtigung für die Versicherungsanstalten, die sich hinsichtlich der Beitragskraft ihrer Mitglieder und der Risken, die sie abzudecken haben, sehr unterscheiden. Hostasch warnte vor ersten Schritten der Entsoldidarisierung im Gesundheitssystem.
Schliesslich wandte sich die ehemalige Sozialministerin entschieden dagegen, Kompetenzen für den Arbeitsmarkt vom Sozial- in das Wirtschaftsministerium zu transferieren. Damit werde der Weg der Sozialpartnerschaft verlassen und dokumentiert, dass der Faktor Arbeit nur noch zweitrangig sei.
Sozialministerin Dr. SICKL (F) schickte ihren Ausführungen die Bemerkung voraus, sie sei dankbar für die Gelegenheit, ihre Vorstellungen über die zukünftige Sozialpolitik dem Hohen Haus präsentieren zu können und unterstrich gleich eingangs den hohen Stellenwert, den die neue Bundesregierung der Sozialpolitik einräume.
Behauptungen über geplante massive Verschlechterungen für Arbeitnehmer, Pensionisten, Frauen und sozial Schwache seien völlig aus der Luft gegriffen, sagte sie. Österreich gibt 30 Prozent seines BIP für soziale Sicherheit aus. Rund 700 Mrd. S davon entfallen auf die Vorsorge für Alter, Hinterbliebene und Invalide. 80 Prozent der gesamten Sozialausgaben hängen direkt mit dem Alterungsprozess zusammen, analysierte die neue Sozialministerin und ging dann im Detail auf die bisherige und die absehbare künftige Entwicklung des österreichischen Pensionssystems vor dem Hintergrund der aktuellen demographischen Situation ein. Der Anstieg der Lebenserwartung und die Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung würden den Bundesbeitrag in Prozent des Bruttoinlandprodukts - er betrug 1970 zwei Prozent, derzeit 2,5 Prozent - bis 2030 auf 6,1 Prozent erhöhen. Das System könnte nur durch Beitragserhöhungen, späteres Pensionsantrittsalter oder Leistungskürzungen erhalten werden. Bereits 1991 sei bekannt gewesen, dass das derzeit gesetzlich verankerte Pensionsversicherungssystem und die dort zugesicherten Leistungen auf Dauer nicht finanzierbar seien, da die zu seiner Weiterführung notwendigen Beitrags- und Steuererhöhungen zu einer Aufkündigung des Generationenvertrages führen würden. Die Pensionsreform 1997, die verschlechterte Pensionsanpassungen, längere Durchrechnungszeiten usw. gebracht hat, habe ihr Ziel einer Sicherung des Systems weit verfehlt, sagte Bundesministerin Dr. Sickl. Um eine Problemlösung zu skizzieren, verwies sie auf Experten, die "den Dritten Beitragszahler", die Rendite der Finanzmärkte, nützen wollen. Als Vorbild gelten die Schweiz und die Niederlande mit ihren bekannten Mehrschichtensystemen bei der Pensionssicherung.
Der Kritik der Abgeordneten Hostasch wegen massiver Verschlechterungen für Arbeitnehmer, Frauen, Pensionisten und sozial Schwache hielt Ministerin Dr. Sickl die Zahl von 1 Million Österreicher entgegen, die heute unter der Armutsgrenze leben. "Dies ist das Ergebnis der unter jahrzehntelanger sozialdemokratischer Führung betriebenen Sozialpolitik."
Die Punktation für ein Regierungsprogramm zwischen SPÖ und ÖVP für Maßnahmen im Bereich der Pensionsversicherung hätten gezeigt, dass die SPÖ das Pensionssystem selbst nicht für sicher erachtet und daher gravierende Einschnitte für notwendig halte. So war etwa vorgesehen, das Pensionszutrittsalter um zwei Jahre anzuheben. Das jetzige Regierungsprogramm sieht lediglich 1,5 Jahre vor. Der Pensionssicherungsbeitrag für Pensionisten und die Pensionsbeiträge der Beamten soll nur 0,8 Prozent und nicht um 0,95 Prozent angehoben werden. Außerdem sind ein effizientes Bonus-Malus-System als Anreiz für eine längere Erwerbstätigkeit und die Entwicklung eines Pensionskassensystems durch die "Abfertigung Neu" vorgesehen. Eine Expertenkommission unter Mitwirkung der betroffenen Bürger, von Vertretern des ÖGB und der Pensionistenverbände wird eingerichtet, um unter ihrem Vorsitz die Rahmenplanung vorzunehmen, kündigte Sozialministerin Dr. Sickl an.
Schliesslich wies sie Behauptungen einer drohenden Zweiklassenmedizin zurück, bekannte sich zum gleichen Zugang aller zu den medizinischen Versorgungsleistungen, zur Verstärkung der Gesundheitsvorsorge, zum Ausbau der Patientenrechte und trat Befürchtungen wegen einer "Krankenbestrafungssteuer" entgegen. Der Selbstbehalt solle nur für praktische Ärzte, Fachärzte und Ambulatorien gelten, nicht aber für Krankenhausaufenthalte oder Operationen. Kinder, chronisch Kranke und sozial Schwache seien selbstverständlich ausgenommen.
Da die Gesetzesentwürfe noch nicht vorliegen, auf die sich die 63 Detailfragen der Abgeordneten Hostasch beziehen, kündigte die Sozialministerin eine Beantwortung auf schriftlichem Wege an.
In Wortmeldungen zur Geschäftsbehandlung bezeichneten es die Abgeordneten ÖLLINGER (G) und Dr. KOSTELKA (SP) als eine Zumutung, dass Sozialministerin Dr. Sickl keine einzige der an sie gerichteten Fragen beantwortet habe. Die von ihr vorgebrachte Begründung treffe nicht auf alle Fragen zu. Dies sei ein Stil, den sich dieses Haus nicht bieten lassen könne, sagten die Oppositionsredner unisono. - Demgegenüber verwiesen die Klubobleute von ÖVP und FPÖ, Dr. KHOL und Ing. WESTENTHALER, unter Zitierung der Geschäftsordnung darauf, dass sich Sozialministerin Dr. Sickl gesetzeskonform verhalten habe. Ing. Westenthaler erinnerte überdies an Fallbeispiele aus der Zeit des Bundeskanzlers Vranitzky, der sich in vergleichbaren Fällen ähnlich verhalten habe.
In der Debatte sprach auch Abgeordnete REITSAMER (SP) ihr Bedauern darüber aus, dass die Kompetenzen für die Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitsinspektion in das Wirtschaftsministerium transferiert werden sollen. Es bleibe der Phantasie der Abgeordneten überlassen, wessen Interessen dadurch obsiegen würden - jene der Arbeitnehmer sicher nicht, zeigte sich Reitsamer überzeugt.
Die Rednerin ging dann auf die von Ministerin Dr. Sickl angesprochene Pensionsreform 1997 ein und warf der Ressortleiterin vor, zwar nicht eine einzige Antwort auf die an sie gerichteten Fragen, dafür aber eine Kritik an einer Reform geboten zu haben, die erst seit 1.1. dieses Jahres umgesetzt werde, deren Auswirkungen daher noch nicht einschätzbar seien.
Reitsamer wies darauf hin, dass die Vereinbarungen der neuen Koalitionspartner nicht nur eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters, sondern darüber hinaus auch Pensionsabschläge vorsehen. Das werde nicht zu einer Sanierung des Sozialbudgets führen, die Arbeitnehmer aber maximal belasten. Die Vorsitzende des Sozialausschusses kritisierte die Verlängerung der Beitragszeiten für die frühzeitige Alterspension auf 45 Jahren, was etwa bedeute, dass keine Frau mit 55 Jahren in Pension gehen könne und bewertete die angekündigten Bestimmungen für die krankheitsbedingten Frühpensionen als "gefährliche Drohung". Grundsätzlich qualifizierte sie die Pensionspläne der neuen Regierung als einen "Angriff auf den Vertrauensschutz" und als Förderungsmassnahme für die private Altersvorsorge.
Abgeordneter GAUGG (F) hielt den Sozialdemokraten vor, für massive Versäumnisse in der Sozialpolitik in den letzten 30 Jahren verantwortlich zu sein. Die SPÖ solle hinterfragen, ob sie aus ihrem Namen nicht das Wort „sozial“ streichen sollte, denn ihre Politik sei nicht im Interesse der Menschen gewesen.
Abgeordneter Dr. FEURSTEIN (VP) vermisste die nötige Fairness beim Vorgehen der Sozialdemokraten. Das Sozialsystem müsse von Zeit zu Zeit angepasst werden. Durch das Wirken der ÖVP habe es schon seit 1986 maßgebliche Verbesserungen im Sozialbereich gegeben, diesen Kurs werde man fortsetzen.
Abgeordneter ÖLLINGER (G) warf der Regierung mangelnde Sensibilität in sozialen Fragen vor, und kritisierte konkrete Missstände im Sozialbereich, dies an einzelnen Beispielen veranschaulichend. Die Kürzung der Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik sei fatal.
Bundesminister Dr. BARTENSTEIN meinte, man werde die Sozialdemokratie daran erinnern, dass die Positionen des Regierungsprogramms bis vor kurzem auch die der Sozialdemokratie gewesen seien, wie es ja auch ein Vorschlag des ehemaligen Finanzministers Edlinger gewesen sei, das Pensionsantrittsalters anzuheben. Er könne daher die Kritik, welche von den Sozialdemokraten nun gegen diese Schritte vorgebracht werde, nicht nachvollziehen.
Abgeordnete SILHAVY (SP) wies auf den Widerspruch zwischen Beitrags- und Versicherungsjahren hin, der es selbst Leuten mit 45 Versicherungsjahren schwer machen würde, ohne Abschläge in Pension gehen zu können. Diese Menschen hätten eine Lebensplanung und seien nun ob der Pläne der neuen Regierung zu Recht verunsichert. Die Menschen würden sich weiter ängstigen, weil die zuständige Ministerin keine Antworten auf die brennenden Fragen gebe.
Abgeordneter Mag. HAUPT (F) kündigte an, seine Fraktion werde für Solidarität, für bessere Verhältnisse für Frauen sorgen. Durch die Aufhebung von einschränkenden Maßnahmen werde man dafür sorgen, dass Frauen mit Kindern sich fortbilden könnten und so arbeitsmarktfähig blieben. Auch der Diskriminierung von älteren Arbeitnehmern in der Arbeitswelt werde man entgegentreten.
Abgeordneter Dr. TRINKL (VP) führte aus, das Ziel seiner Fraktion sei es, das Sozialsystem auch für die Zukunft sicherzustellen, auch den Jüngeren eine Perspektive zu geben. Seine Fraktion verfolge keine „kaltschnäuzige Sozialpolitik“, vielmehr eine Politik, die vom Willen der Partner zur Verbesserung getragen sei.
Abgeordneter Dr. GRÜNEWALD (G) kritisierte, dass im Regierungsprogramm kein Wort darüber verloren wird, dass Einkommen, Bildung, Wohnverhältnisse, Arbeitsplatzsicherheit und -zufriedenheit mehr Einfluss auf Erkrankung und Sterben haben, als die technischen Fortschritte in der Medizin der letzten 40 Jahre zustande gebracht haben. Er befürchtete, dass das Ausmaß der Einkommensunterschiede steigen werde und wies insbesondere darauf hin, dass es heute schon eine Rationierung im Gesundheitssystem gebe, da man zwischen somatischen und psychischen Erkrankungen unterscheide. Föderalismus im Gesundheitswesen garantiere seiner Meinung nach keineswegs eine Qualitätssteigerung. Abschließend wies der Abgeordnete in einer historischen Replik darauf hin, dass bereits im Mai 1938 Ministerien und Kompetenzen verschoben worden seien. „Es war Seyss-Inquart, der ein Ministerium für Wirtschaft und Arbeit ins Leben gerufen hat“, beendete Grünewald seine Rede.
Abgeordnete Mag. PLANK (SP) schloss aus der Lektüre des Regierungsprogramms, dass die Zukunft die Gefahr der Entsolidarisierung mit sich bringe. Es werde mit Sicherheit nicht besser werden für die Menschen, warnte die Abgeordnete. Österreich verfüge über eines der besten Gesundheitssysteme, vor allem bedeute die beitragsfreie Mitversicherung eine große Solidaritätsleistung. Sie forderte die Bundesministerin auf, den Menschen die Angst vor der Zweiklassenmedizin zu nehmen und zu erklären, wie sie das solidarische Gesundheitssystem auch in Zukunft gewährleisten wolle.
Abgeordneter FISCHL (F) warf den Sozialdemokraten vor, einen Trümmerhaufen angerichtet zu haben, der nun zur Seite geräumt werden müsse. Es sei die SPÖ gewesen, die eine Zweiklassenmedizin verursacht habe, weil man bisher dem Gesundheitswesen zu wenig Bedeutung geschenkt habe. Für ihn ist es Zeit, dass die Sozialromantik ein Ende nimmt.
Abgeordneter DONABAUER (VP) erinnerte daran, dass nicht nur die Sozialdemokraten das Gesundheitssystem aufgebaut haben, sondern auch die Sozialpartner. Er zeigte sich betroffen, in der Dringlichen Anfrage Gruppendenken vorzufinden und appellierte, weiterhin Solidarität unter Beweis zu stellen.
Abgeordneter ÖLLINGER (G) knüpfte an das Ende der Wortmeldung von Abgeordneten Grünewald an und stellte die Frage, ob der Abgeordnete Jung tatsächlich den Hinweis auf den Beginn der NS-Herrschaft in Österreich mit dem Satz „dann kann es nicht so schlimm gewesen sein“, kommentiert habe. Er ersuchte Jung, das klarzustellen, denn jede falsche Bewegung in diese Richtung stehe vor allem der FPÖ nicht zu. Als ungeheuerlich bezeichnete er auch den Punkt 12. im Koalitionsübereinkommen, wo die NS-Zwangsarbeit durch einen Vergleich mit den Vertriebenen relativiert werde.
Für Abgeordneten Dr. PUMBERBERGER (F) bot die Dringliche Anfrage Gelegenheit, den Diffamierungen über das Regierungsprogramm entgegenzutreten. Der Gesundheitspolitik werde darin ein hoher Stellenwert eingeräumt. Der Abgeordnete meinte, dass bislang der Hauptverband der Sozialversicherungsträger die Sozialpolitik vorgegeben habe. Das werde sich ändern, versicherte Pumberger. (Schluss)