Parlamentskorrespondenz Nr. 153 vom 31.03.2000

ÜBERLASTUNG: VERWALTUNGSGERICHTSHOF FÜRCHTET UM FUNKTIONSFÄHIGKEIT

Wien (PK) - Bereits seit einigen Jahren macht der Verwaltungsgerichtshof darauf aufmerksam, dass er notorisch überlastet ist. Zuletzt wurden die Hilferufe an Regierung und Parlament immer drastischer. Nun will die Bundesregierung rasch reagieren. Sie beabsichtigt, die Einrichtung von Landesverwaltungsgerichten voranzutreiben; diese sollen den VwGH nachhaltig entlasten. Das kündigt Bundeskanzler Schüssel in einem vor kurzem dem Nationalrat vorgelegten Bericht an, der die Abgeordneten über die Tätigkeit des Verwaltungsgerichtshofes und des Verfassungsgerichtshofes in den Jahren 1997 und 1998 informiert (III-32 d.B.).

Den Plänen der Regierung zufolge sollen die Landesverwaltungsgerichte als Verwaltungsgerichte erster Instanz fungieren und an die Stelle der unabhängigen Verwaltungssenate treten. Für bestimmte Sondermaterien könnte jedoch ein Verwaltungsgericht des Bundes Zuständigkeiten übernehmen ("9 plus 1 Modell"). Was die Entscheidungsbefugnisse betrifft, sollen die Verwaltungsgerichte im Rahmen der Bescheidprüfung nur in Verfahren wegen Verwaltungsübertretungen in der Sache selbst entscheiden dürfen, in allen übrigen Fällen sollen sie lediglich zur Aufhebung des Bescheides ermächtigt sein. Die Entscheidungen sollen von Einzelrichtern getroffen werden.

Den Verwaltungsgerichtshof will die Regierung prinzipiell auf die Rolle eines Revisionsgerichts beschränken. Beschwerden an den VwGH sollen dann erhoben werden können, wenn Entscheidungen der Verwaltungsgerichte erster Instanz Fragen berühren, die für die Rechtsfortentwicklung und für die Einhelligkeit der Rechtssprechung bedeutsam sind. Hinsichtlich der Kostenfrage ist geplant, den Ländern die zusätzlichen Kosten für die Einrichtung von Verwaltungsgerichten auf Landesebene durch den Bund zu erstatten.

Da es sich bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit um eine Verfassungsmaterie handelt, ist für Gesetzesbeschlüsse im Nationalrat eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Auch mit den Ländern, die von entsprechenden Kompetenzänderungen direkt betroffen wären, müsste eine Einigung erzielt werden. Entsprechende Verhandlungen werden bereits seit mehreren Jahren geführt.

Der Verwaltungsgerichtshof appelliert aufgrund der immer prekärer werdenden Situation im jüngsten Tätigkeitsbericht erneut an alle Verantwortlichen, die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit "prioritär einer Lösung zuzuführen". Seine Funktionsfähigkeit als Höchstgericht könne nicht mittels einer schrankenlosen Vermehrung der richterlichen Planstellen, sondern nur mit einer drastischen Verringerung des Beschwerdenanfalls aufrecht erhalten werden, heißt es dort. In diesem Sinn wird die Einführung einer ersten verwaltungsgerichtlichen Instanz als unbedingt erforderlich erachtet.

Zur Diskussion um die Kompetenzen der neuen Verwaltungsgerichte merkt der VwGH an, "das ungemein wichtige Projekt" solle nicht an der "vergleichsweise untergeordneten" Frage scheitern, "ob die Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz überwiegend kassatorische oder reformatorische Elemente umfassen sollte". Er ist überzeugt davon, dass, entsprechender politischer Wille vorausgesetzt, "unschwer ein Modell gefunden werden könnte, das sowohl den Anforderungen an Rechtsschutz und Verfahrensökonomie als auch den Bedürfnissen der beteiligten Gebietskörperschaften nach Wahrung der ihnen gegenwärtig zugeordneten Vollzugsbereiche hinreichend Rechnung trägt". Wichtig ist dem VwGH, dass an seiner grundsätzlichen Funktion, nämlich der Kontrolle der gesamten staatlichen Verwaltung (also Bundes- wie Landesverwaltung), nicht gerüttelt wird.

Die Überlastung des Verwaltungsgerichtshofes wird durch die in den Tätigkeitsberichten 1997 und 1998 enthaltenen Zahlen deutlich dokumentiert. So harrten mit Ende 1998 13.126 Rechtssachen einer Erledigung, 8.115 Beschwerdefälle waren zu diesem Zeitpunkt bereits länger als ein Jahr anhängig. Eine Reihe offener Fälle datiert sogar noch aus den Jahren 1993, 1994 und 1995. Selbst wenn kein einziger neuer Beschwerdeakt dazukommen würde, wäre der VwGH seinen Angaben zufolge rund drei Jahre mit der Aufarbeitung der unerledigten Beschwerdefälle beschäftigt.

Da der Beschwerdenanfall aber nach wie vor die Erledigungszahl übersteigt, können die VwGH-Richter nicht nur die Rückstände nicht abbauen, vielmehr muss mit einem weiteren Ansteigen der Rückstände und einer weiteren Verlängerung der Verfahrensdauer gerechnet werden. Dabei betrug die durchschnittliche Erledigungsdauer der im Jahr 1998 4.223 mit Sachentscheidung (Erkenntnis) erledigten Bescheidbeschwerden ohnehin schon fast 17 Monate, mitunter, beispielsweise in Fragen des Steuerrechts, mussten Beschwerdeführer durchschnittlich sogar mehr als zwei Jahre auf eine Entscheidung warten.

Eine Reform müsste, so der VwGH, langfristig sicherstellen, dass der Neuanfall der streitigen Beschwerden, die der Verwaltungsgerichtshof zu erledigen hat, 3.000 pro Jahr nicht übersteigt. Diesem gewünschten "Normalbetrieb" steht derzeit allerdings ein Neuanfall von mehr als doppelt so vielen Beschwerden gegenüber.

Als strukturelle Verbesserung nennt der VwGH in seinem Tätigkeitsbericht 1998 einzig und allein die Einrichtung des Unabhängigen Bundesasylsenats. Er erwartet sich von diesem Schritt jedoch höchstens einen langfristigen Entlastungseffekt, der noch dazu durch steigende Asylwerberzahlen wieder kompensiert werden könnte.

BILANZ 1998: ERSTMALS SEIT 1991 ÜBERSTEIGT ERLEDIGUNGSZAHL NEUANFÄLLE

Die im Fremdenrechtspaket 1997 enthaltenen Übergangsbestimmungen sorgten allerdings dafür, dass zumindest die Statistik des Jahres 1998 - auf den ersten Blick - durchaus positiv ausfällt. So wurden im betreffenden Jahr 7.661 neue Beschwerdefälle eingebracht, 10.858 Rechtssachen konnten erledigt werden. Damit lag die Zahl der Erledigungen erstmals seit 1991 wieder über dem Neuanfall. In insgesamt 1.167 Fällen wurde der angefochtene Bescheid aufgehoben, in 3.056 Fällen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Der Rest der Erledigungen kann unter dem Begriff Formalentscheidungen subsumiert werden, dazu gehören etwa Verfahrenseinstellungen aufgrund der Zurückziehung von Beschwerden. Eine sehr große Anzahl dieser Formalentscheidungen betrifft aber Angelegenheiten aus dem Fremdenrecht; dieser Einmaleffekt kommt in den folgenden Jahren nicht mehr zum Tragen. Zum Vergleich: 1997 waren beim VwGH 11.097 neue Beschwerden angefallen, 8.412 Rechtssachen konnten erledigt werden.

Weitere Zahlen aus der Bilanz 1998: Der Verfassungsgerichtshof hat an den Verwaltungsgerichtshof 1.201 Beschwerden abgetreten. Umgekehrt machte der VwGH in 101 Fällen ein Normenprüfungsverfahren beim Verfassungsgerichtshof anhängig. In zwölf Beschwerdefällen wandte sich der Verwaltungsgerichtshof an den Europäischen Gerichtshof (z.B. in der Frage der Getränkesteuer), darüber hinaus wurde in rund 30 Erkenntnissen und Beschlüssen zu Rechtsfragen des EU-Rechts Stellung genommen. Zu zwei Vorlagen des Verwaltungsgerichtshofes ergingen im Berichtsjahr Vorabentscheidungen des EuGH, eine davon betraf die Kammerumlage I.

Wie aus dem Tätigkeitsbericht 1998 darüber hinaus hervorgeht, leidet der Verwaltungsgerichtshof nicht nur unter einer notorischen Überlastung, auch die drückende Raumnot bereitet ihm zunehmend Probleme. Während für den VwGH hier noch keine Lösung in Sicht ist, wurde im Berichtsjahr immerhin die Umsetzung des 1994 ausgearbeiteten IT-Konzeptes und damit der Austausch der völlig veralteten ADV-Zentralanlage gegen moderne Computer-Arbeitsplätze in Angriff genommen.

Allgemein spricht sich der Verwaltungsgerichtshof für eine Wahrung der Gleichwertigkeit der Höchstgerichte aus, eine Notwendigkeit der Vorschaltung von verwaltungsgerichtlichen Verfahren vor das verfassungsgerichtliche Verfahren kann er nicht erkennen. 1998 waren im VwGH neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten 12 Senatspräsidenten und 48 weitere Richter tätig.

VERFASSUNGSGERICHTSHOF: KAPAZITÄTSGRENZE IST ERREICHT

Die Situation am Verfassungsgerichtshof ist zwar nicht so dramatisch wie jene am Verwaltungsgerichtshof, aber auch der VfGH arbeitet, wie er in seinem Tätigkeitsbericht 1998 vermerkt, an der Grenze seiner Kapazität. Zwar war die Entwicklung des Aktenanfalls im Berichtsjahr gegenüber den vorangegangenen Jahren rückläufig, der Gerichtshof sieht sich aber in zunehmendem Ausmaß mit überaus schwierigen Rechtsfragen konfrontiert, die sich insbesondere aus der Beziehung von EU-Recht und österreichischem Recht ergeben. Trotzdem ist es dem VfGH auch 1998 gelungen, nennenswerte Rückstände aus weit zurückliegenden Jahren zu vermeiden. So waren am Jahresende aus dem Jahr 1996 noch 87 Fälle anhängig, die übrigen offenen Fälle stammten ausschließlich aus den Jahren 1997 und 1998.

Konkret wurden 1998 an den Verfassungsgerichtshof 2.897 neue Fälle herangetragen. 3.272 Fälle konnten im gleichen Zeitraum erledigt werden. Die Zahl der offen gebliebenen Fälle wird zum Stichtag Ende 1998 mit 1.967 angegeben. Zum Vergleich: 1997 standen 4.029 neuen Fällen 14.869 Erledigungen gegenüber, wobei in der Erledigungszahl eine 11.167 Fälle umfassende Serie zur Mindestkörperschaftssteuer enthalten ist.

Ein Großteil der 1998 an den VfGH herangetragenen 2.897 Fälle, nämlich 2.463, betraf Beschwerden von Bürgern, die sich durch einen Bescheid in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt sahen oder meinten, der betreffende Bescheid beruhe auf einer gesetzwidrigen Verordnung bzw. einem verfassungswidrigen Gesetz. Darüber hinaus gingen beim VfGH 270 Gesetzesprüfungsanträge, davon 222 bezogen auf Bundesgesetze und 48 bezogen auf Landesgesetze, und 106 Anträge auf Prüfung von Verordnungen ein. Die restlichen Fälle betrafen Kompetenzkonflikte, Wahlanfechtungen, vermögensrechtliche Ansprüche und Anträge auf Mandatsverlust. Zur Bearbeitung der Fälle wurden vom VfGH 1998 vier Sessionen abgehalten, insgesamt berieten die Verfassungsrichter an 58 Tagen.

Scharfe Kritik übt der Verfassungsgerichtshof in seinem Tätigkeitsbericht 1998 an der steigenden Zahl von so genannten Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag. Sowohl Ausmaß als auch Gewicht dieser Kollegialbehörden hätten sich der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen so weit genähert, dass weitere Einrichtungen bzw. Kompetenzausweitungen "einer besonderen Rechtfertigung durch gewichtige Gründe" bedürften, sagen die Verfassungshüter. Der VfGH sieht das Problem insbesondere darin, dass solche Behörden zwar wesentliche Staatsaufgaben übernehmen, die Besorgung dieser Aufgaben aber der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof und der parlamentarischen Kontrolle entzogen ist.

Zum Thema "einstweilige Verfügung/Staatshaftung" merkt der VfGH an, dass Regeln des EU-Rechts die Erlassung einstweiliger Verfügungen erforderlich machen könnten, dem Gerichtshof jedoch nur das Instrument der Gewährung der aufschiebenden Wirkung in Verfahren nach Art. 144 B-VG zur Verfügung stehe. Für Normenkontrollverfahren gibt es keine entsprechende Bestimmung. Zwar vertritt der VfGH die Ansicht, dass das Gemeinschaftsrecht selbst eine ausreichende Basis für die Erlassung einstweiliger Verfügungen böte, er wünscht sich dennoch eine ausdrückliche innerstaatliche gesetzliche Regelung. Schließlich weist der Verfassungsgerichtshof auf Gefahren hin, die seiner Funktionsfähigkeit durch Massenverfahren erwachsen können.

Sowohl die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes als auch jene des Verwaltungsgerichtshofes können im Internet unter http://www.ris.bka.gv.at abgerufen werden. (Schluss)