Parlamentskorrespondenz Nr. 331 vom 31.05.2000

SOZIALAUSSCHUSS: EXPERTENHEARING (2)

Sickl: Regierung will Gleichbehandlung aller arbeitenden Menschen

Wien (PK) - Zu von einzelnen Abgeordneten aufgeworfenen Fragen bzw. Problemstellungen bezogen die Fachleute im Hearing des Sozialausschusses Stellung. So meinte Dr. BUCHINGER vom AMS, dass die Auflösung des Dienstverhältnisses älterer Arbeitnehmer häufiger durch Kündigung durch den Arbeitgeber als durch eine einvernehmliche Auflösung oder durch Kündigung seitens des Arbeitnehmers erfolgt. Insgesamt gesehen seien aber die Beschäftigungsverhältnisse der älteren Arbeitnehmer stabiler als jene der jüngeren. Im konkreten Fall kann man mit der Gegenwehr der Arbeitnehmer rechnen. Laut Arbeitsrechtlern ist jede Kündigungsanfechtung für ältere Arbeitnehmer über 55 Jahre gewinnbar.

Bis zum Jahr 2003 werden die Regierungsmaßnahmen kompensiert durch einen konjunkturbedingten weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit; heuer wird die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgehen, dann aber bis 2003 stagnieren. Knapp die Hälfte des Rückganges der Arbeitslosenzahl ist auf die Ausweitung der Maßnahmen im Rahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückzuführen.

Um die zusätzlichen 4.600 Arbeitslosen abzufangen, bedarf es bis 2004 eines jährlichen zusätzlichen Aufwandes von 500 Mill. S. In der Pensionsversicherung ist auf der Basis eines durchschnittlichen Notstandshilfebezuges mit Mehrkosten in der Höhe von 658 Mill. S bis 2003 und mit 960 Mill. S bis 2005 zu rechnen.

Präsident KNAFL vom Österreichischen Seniorenrat vertrat den Standpunkt, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes aufrecht bleiben muss und eine Vorlaufzeit notwendig ist. Auch zeigte er Verständnis für die Hinaufsetzung des faktischen Pensionsantrittsalters. Die Pensionisten, meinte er, hätten bereits einen entsprechenden Beitrag zur Sicherung des Systems erbracht.

Univ.-Prof. Dr. MAZAL (von der ÖVP nominierter Experte) sprach das Gesamtsystem an und argumentierte die Aufhebung der "Ausnahmebestimmung" damit, dass diese Regelung zu teuer war und deshalb § 253d ASVG aufgehoben wurde; das Regelsystem kenne nämlich nur die Alterspension und die Invaliditätspension: Fest stehe, dass für ältere Menschen mit gesundheitlichen Problemen die Hürde zur Invaliditätspension hoch ist.

Der Passus betreffend die Verweisungsmöglichkeiten gefällt dem Experten nicht, weil ein Unselbständiger seine Tätigkeit nur beschränkt verändern könne. Seiner Meinung nach müsste in den Erläuterungen niedergeschrieben werden, was man damit exakt meint. Hinzu kommt, dass der OGH eine Übersiedlung als zumutbar ansieht, was aus Mazals Sicht unsozial ist.

Verbesserungen für Hilfsarbeiter sind vorgesehen, meinte der Experte zu einer Detailfrage, wenngleich die Zahl jener Personen, die in den Genuss der Verbesserungen kommen, durch eine Fokussierung nicht mehr so groß ist.

Dr. LEUTNER (ÖGB) bemängelte, dass die Regierung in der Pensionsreform überfallsartig das Anfallsalter und die Abschläge erhöht und die vorzeitige Alterspension wegen geminderter Erwerbsfähigkeit aufhebt. Rund um Ostern, gab der Experte bekannt, war der ÖGB zu Sozialpartnerverhandlungen eingeladen und hat ein Alternativkonzept vorgelegt.

Dr. NOSZEK (Präsidentenkonferenz) wies auf die große Bedeutung der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Erwerbstätigkeit für die Bauern hin und machte auf den bestehenden Unmut über die Verweisregelung aufmerksam, zumal die Bauern als ungelernte Arbeiter eingestuft sind. Auch bei den Bäuerinnen wird es erhebliche Auswirkungen geben; man nimmt an, dass sich für 3.500 bis 3.800 Personen Verschlechterungen ergeben könnten.

Dr. TRITREMMEL (Industriellenvereinigung) trat dafür ein, das Problembewusstsein bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusätzlich für die Anliegen der älteren Arbeitskräfte zu schärfen. Das AMS hat gemeinsam mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen im letzten halben Jahr eigene Veranstaltungen abgehalten.

Es gibt eine Alternative zu dem, was nun zur Diskussion steht, sagte Mag. ZINIEL von der Arbeiterkammer. Es liegen Alternativen vor, die geschechtsneutral ausformuliert sind. Über den Abänderungsantrag gab es keine Sozialpartnerverhandlungen, bemängelte der Direktor-Stellvertreter der AK und wies auf dramatische Verschlechterungen hin.

Nach einer zweiten Fragerunde legten die Experten nochmals ihre Standpunkte dar.

Auf eine Wortmeldung der Abgeordneten Pittermann hin erklärte Univ.-Prof. Dr. MAZAL, dass bei der Diagnose von psychischen und den Bewegungs- und Stützapparat betreffenden Erkrankungen die medizinische Bandbreite sehr groß sei. Sollte jedoch die - oft einseitige - Tätigkeit verändert werden, können seiner Meinung nach auch die medizinischen Belastungen reduziert werden.

Weiters kam er auf den von Abgeordnetem Öllinger angesprochenen Fall des männlichen Arbeitnehmers, der im Vertrauen auf das EuGH-Urteil per 30.6. gekündigt hat, aber jetzt durch die Rückwirkung des Gesetzes betroffen wird, zu sprechen. Er persönlich glaube nicht, dass der Verfassungsgerichtshof einer diesbezüglichen Klage Recht gebe, da die Richter von einer durchschnittlichen Betrachtung ausgehen. Was die Kritik an der ungenauen Definition der Zumutbarkeitsbestimmungen betrifft, so sei auch er der Meinung, dass eine derartige Bestimmung im Gesetzestext besser aufgehoben wäre.

Er könne nicht verhehlen, meinte Dr. GLEITSMANN (Wirtschaftskammer), dass die Wirtschaft der Ausdehnung des Kündigungsschutzes für ältere Arbeitnehmer große Bedenken entgegenbringe. Trotzdem habe man sich aber entschlossen, das Gesamtpaket zu akzeptieren. Grundsätzlich hielt er die Regierungsvorschläge für treffsicher, da gleichzeitig Ausgleichsmaßnahmen, z.B. für ungelernte Arbeiter, vorgesehen sind.

Hinsichtlich der Bestrebungen der Wirtschaft im Bereich des Gesundheitsschutzes führte er aus, dass die Unternehmen bereits sehr große Anstrengungen in diesem Bereich unternommen haben. Außerdem versuche man, die Firmen zu animieren, auf freiwilliger Basis betriebliche Gesundheitsförderungsmodelle zu entwickeln. Auch Dr. TRITREMMEL (Industriellenvereinigung) war davon überzeugt, dass sich die Unternehmen an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, v.a. was die Ergonomie und die Arbeitsorganisation betrifft, orientieren.

Dr. PROBST (Hauptverband der Sozialversicherungsträger) hob eingangs die Bedeutung des Berufsschutzes für die Hilfsarbeiter hervor. Aus den letzten Analysen (1993) gehe hervor, dass ein 60jähriger männlicher Invaliditätspensionist eine um 4,1 Jahre kürzere Lebenserwartung habe als ein 60jähriger Alterspensionist. Bei den Angestellten betrage die Differenz sogar 5,3 Lebensjahre, stellte Probst fest. Auf die Frage nach der mengenmäßigen Relevanz der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit führte er aus, dass 20 % der Pensionszugänge im Jahre 1998 auf diese Pensionsform zurückzuführen sind (13.000).

Da heute auch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 2000 beschlossen werden soll, das die Bezahlung des Krankengeldes für nur mehr 52 Wochen vorsieht, stehe man seiner Auffassung nach vor einer Situation, in der Löcher im sozialen Netz auftreten können.

Ferdinand EHRENSTEIN berichtete über seine Erfahrungen in der Pensionsversicherungsanstalt für Arbeiter und machte darauf aufmerksam, dass 98 % der Entscheidungen im Invaliditätsfall nicht angefochten sondern bestätigt werden oder im Form eines Vergleiches enden. Es sei schwer vorzustellen, wie eine höhere Quote erreicht werden könne. Ehrenstein stand dem Entwurf kritisch gegenüber, da seiner Meinung nach die Arbeiter in den Bereichen Bau, Metall und Verkehr sowie die Frauen, insbesondere im Reinigungswesen, die Vorgaben nicht erreichen können. Zudem unterstrich er, dass er es für seine Pflicht halte, dass die Versicherung die Arbeiter rechtzeitig über die aktuellen Entwicklungen informiere, da es ohne Antrag keine Leistung gebe.

Dr. BUCHINGER (Arbeitsmarktservice) pflichtete Abgeordneter Mag. Prammer bei, dass das Einstellungsverhalten der Unternehmen in Bezug auf ältere Arbeitnehmer geändert werden müsse. Da dieses sehr stark vorurteilsgeleitet sei, setze man auf bessere Information, erklärte Buchinger, der auf diesbezügliche Kampagnen verwies. In einzelnen Bundesländern gebe es auch Versuche in Richtung Individualjob-Coaching, wobei die Arbeitslosen auch zu Vorstellungsgesprächen begleitet werden, um eventuelle Vorurteile ausräumen zu können. Auf der finanziellen Seite habe man mit der Eingliederungsbeihilfe ein wichtiges Instrument geschaffen. Der Qualifizierungsoffensive seien gerade bei älteren Arbeitnehmern in der Praxis Grenzen gesetzt, da diese zu wenig Wirkung zeige und es auch zu wenig Bereitschaft gebe, fügte er an.

Bezüglich der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt informierte Buchinger darüber, dass man mit einem Beschäftigungswachstum von knapp 1 % rechne, das sind 30.000 zusätzliche Arbeitsplätze. Mit einem deutlichen Sinken der Arbeitslosigkeit könne jedoch nach 2000 nicht gerechnet werden. Er wäre für eine Anhebung des Pensionsantrittsalters nach 2004 eingetreten, merkte er weiter an, weil ab 2005 - aufgrund der demographischen Entwicklung - von einer Verknappung des Arbeitskräfteangebots ausgegangen werden müsse.

Bundesministerin Dr. SICKL erklärte, durch die Judikatur des EuGH sei rascher Handlungsbedarf gegeben. Ziel müsse es sein, die Pensionsrechte zu harmonisieren, um eine Gleichbehandlung aller arbeitenden Menschen zu erwirken. Die von der Regierung angepeilte Pensionsreform werde auch in Zukunft allen den Zugang zur Pension sichern. Einen Sozialabbau könne sie in den Massnahmen der Regierung nicht sehen, zeigte sich das Regierungsmitglied überzeugt.

Zu den Vorschlägen von Gewerkschaft und Arbeiterkammer merkte Sickl an, diese hätten sich in ausschliesslich beschäftigungspolitischen Massnahmen erschöpft, wodurch aber das Pensionssystem nicht dauerhaft gesichert werden könne, weshalb es komplexere Lösungen brauche. Sodann erläuterte ein Vertreter des Finanzministeriums die budgetären Auswirkungen der von der Regierung geplanten Massnahmen.

Heinrich DÜRR (G-Experte) wies auf die spezielle Problemlage älterer Arbeitnehmer hin, die – aus unterschiedlichen Gründen – nach vielen Jahren ihres alten Arbeitsplatzes verlustig gehen. Wenn auch die Erfolgsquote in daraus resultierenden arbeitsrechtlichen Prozessen eine hohe sei, so dauerten die Verfahren in der Regel zu lange, wobei sich inzwischen auch die Situation am ehemaligen Arbeitsplatz verändere, sodass eine allfällige Rückkehr des Arbeitnehmers in seine alte Umwelt sich selten als Vorteil herausstelle.

Ein weiteres Problem sah Dürr in der unscharfen Formulierung des vorliegenden Gesetzestextes. Dieser erfordere eine authentische Interpretation durch die Gerichte, wobei die langjährige Praxis zeige, dass eine solche selten zugunsten der Arbeitnehmer ausfalle. Dürr trat weiters der Auffassung entgegen, im Bereich der vorzeitigen Alterspension gebe es Missbrauch. Er zeigte sich davon überzeugt, dass man unter den 7.000 Betroffenen keine fünf Fälle finden würde, wo ein solcher Missbrauch vermutet werden könnte.

Dr. LEUTNER (ÖGB) erklärte, seitens der Gewerkschaften und der AK seien sowohl weit mehr Vorschläge als bloss beschäftigungspolitische Massnahmen eingebracht worden. Konkret nannte er eine Erhöhung des Eigenbetrages von Bauern und Selbständigen. Man müsse als Gewerkschaft aber zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung andere Prioritäten setze, etwa mit dem "Karenzgeld für alle" oder den Erleichterungen für Unternehmer.

Es könne jedenfalls nicht davon gesprochen werden, dass ältere Arbeitnehmer in Österreich eine Art pragmatisierte Stellung besäßen, sonst sehe die Altersarbeitslosigkeit in diesem Lande jedenfalls anders aus. Die rückwirkende Beschlussfassung erscheine ihm rechtspolitisch bedenklich, wie er auch darauf hinweisen müsse, dass hier auf Kosten kranker und armer Menschen eingespart werde. Als Alternativen zu der von der Regierung geplanten Vorgangsweise nannte Leutner ein Beschäftigungsprogramm, neuere und gerechtere Ersatzzeitenregelungen sowie einen parlamentarischen "Optionenbericht", den die im Nationalrat vertretenen Parteien über mögliche zukünftige Pensionsformen erstellen sollten.

Dem hielt Bundesministerin Dr. SICKL entgegen, dass eine derartige Vorgangsweise zu viel Zeit in Anspruch nehmen und somit die Gefahr evozieren würde, dass Österreich die Maastricht-Kriterien nicht erfüllen könnte.

Mag. ZINIEL (AK) hielt fest, dass es die Aufgabe der Kammern wie der Pensionsversicherungsanstalten sei, den Normunterworfenen exakte und richtige Rechtsauskunft zu geben, und das bedeute, dass derzeit von 55 Jahren auszugehen sei. Aus dieser Rechtsauskunft sei aber keinesfalls eine "Anwerbekampagne", wie von mancher Seite insinuiert, abzuleiten.

Zwar wünschten sich alle ein funktionierendes Pensionssystem, die Wahrnehmung sei aber, dass die Betroffenen tatsächlich nicht mehr arbeiten könnten. Die nun in Aussicht genommene Neuregelung würde zudem bedeuten, dass die finanziellen Mittel, über welche die Betroffenen dann verfügen könnten, halbiert würden, hätten sie doch bisher im Schnitt 13-14.000, künftig aber nur noch 6-8.000 S zur Verfügung. Dies betrachte die AK als Kürzung sozialer Leistungen, wobei noch darauf hingewiesen werden müsse, dass etliche künftig überhaupt keine Leistungen mehr bekommen würden.

Ausschussvorsitzende Reitsamer unterbrach nach dem Ende des Hearings die Sitzung des Sozialausschusses auf 15 Minuten, um sodann mit der eigentlichen Tagesordnung fortzufahren. (Fortsetzung)