Parlamentskorrespondenz Nr. 84 vom 08.02.2001

SICHERHEITSPOLITIK UND NEUTRALITÄT - REGIERUNGSEXPERTEN ANALYSIEREN

Wien (PK) - Am 23. Jänner 2001 hat die Bundesregierung ihren von einer Expertenkommission verfassten "Bericht betreffend Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin: Analyse-Teil" (III-87 d.B.) beschlossen und dem Nationalrat übermittelt. Darin gehen die Sicherheitsexperten von der Einschätzung aus, dass das Ende des Kalten Krieges und der politische Umbruch von 1989/90 zu einem grundlegenden Wandel, einem Paradigmenwechsel in der europäischen Sicherheitspolitik geführt haben. An die Stelle eines klar erkennbaren militärisch dominierten Bedrohungsbildes sei eine komplexe Mischung politischer, wirtschaftlicher, militärischer, sozialer, kultureller, informationstechnischer und ökologischer Risiken getreten, konstatieren die Experten und machen darauf aufmerksam, dass moderne Gesellschaften wegen ihrer zunehmenden internationalen Verflechtungen immer verwundbarer werden. Räumliche Entfernung zu Krisenherden biete keinen ausreichenden Schutz mehr, auch kleinere Staaten müssten Vorgängen fern der eigenen Grenze Aufmerksamkeit und Engagement widmen. Ganz oben in der Liste konkreter Sicherheitsrisiken stehen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und die fortschreitende Entwicklung und Verfügbarkeit weitreichender Luftkriegsmittel. Dazu kommen der  Kampf um und mit Information, Folgewirkungen von Konflikten außerhalb Europas, etwa Flüchtlingsbewegungen, Störungen des Außenhandels, grenzüberschreitende Umweltbelastungen, Waffen-, Drogen- und Menschenhandel sowie Gefahren, die von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ausgehen können, dabei warnen die Experten vor terroristischen Bewegungen, organisierter Kriminalität, Sekten und Einzeltätern.

Für Österreich gebe es keine "nationale" Sicherheit ohne ein entsprechendes Maß an "europäischer" Sicherheit. Gleichzeitig plädieren die Experten nachdrücklich dafür, die neue Möglichkeit zu nutzen, eine ganz Europa umfassende Ordnung des Friedens und der Stabilität zu schaffen.

Dies sowie die Gesamtheit der bisherigen Veränderungen zwinge auch Österreich zu einer grundlegenden Neuorientierung seiner Sicherheitspolitik. Bloßes Anpassen alter Konzepte reiche nicht aus, sagen die Experten. Statt einer "Bedrohungs-Reaktionspolitik" bedürfe es einer präventiven, umfassenden Sicherheitspolitik mit dem Ziel einer möglichst hohen Stabilität des politischen, wirtschaftlichen, militärischen, sozialen und ökologischen Umfelds. Es gehe um die Verbindung aller nichtmilitärischen und militärischen Sicherheitsaspekte, um das kooperative (Mit-)Gestalten des eigenen Umfeldes und die Reduzierung von Verwundbarkeiten gemeinsam mit Partnern.

Von daher rücken die Experten den Begriff der Solidarität in den Vordergrund der Sicherheitsdebatte und sehen dem Konzept der dauernden Neutralität in Europa die Grundlagen entzogen. Statt einer Politik des "bewussten Sich-Heraushaltens" gehe es nun um eine Politik des solidarischen Mitwirkens. Eine Beschränkung auf das Anbieten "guter Dienste", auf "sicherheitspolitische Nischen" oder auf die zivile Dimension der Sicherheitspolitik sei mit dem Solidaritätsprinzip und einer gleichmäßigen Lasten- und Risikoverteilung in Europa unvereinbar. Man könne davon ausgehen, dass ein starkes militärisches Engagement der USA auch weiterhin die sicherheitspolitische Entwicklung, den Frieden und die Stabilität Europas bestimmen werden. Als entscheidend wird aber auch angesehen, dass die EU den Weg der sicherheitspolitischen Integration zu einer "gemeinsamen Verteidigung" fortsetzt. Nur mit vereinten Kräften kann die EU eine maßgebliche politische "Gestaltungsmacht" entwickeln und eine größere Verantwortung für Frieden und Sicherheit im eigenen Umfeld wahrnehmen, als dies heute der Fall ist.

Unter der Überschrift "Österreichs Weg von der Neutralität zur Solidarität" untermauern die Experten ihre Auffassung der österreichischen Neutralitätspolitik auch historisch. Die Neutralität wird als Preis Österreichs für die Wiedererlangung seiner vollen Souveränität im Jahr 1955 dargestellt. Seine Neutralitätspolitik habe sich aber sehr bald vom expliziten Vorbild Schweiz unterschieden, schreiben die Experten und führen dazu den UNO-Beitritt und das österreichische Konzept einer "aktiven Neutralitätspolitik" an. Dazu zählten das Bemühen, als Brückenbauer zwischen Ost und West eine nützliche Rolle für die Staatengemeinschaft zu spielen. Österreich aktive Rolle in internationalen Organisationen, seine Initiativen zur Minderung internationaler Spannungen, der Einsatz für die Wahrung des Völkerrechtes und das Bestreben, als Ort der Begegnung und als Sitz internationaler Organisationen zu dienen, sei international geschätzt und gewürdigt worden. 

Durch die umfassende Teilnahme Österreichs an der europäischen Integration, den Fall des Eisernen Vorhangs, die Entstehung demokratischer Staaten im Osten und den strategischen Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Mitteleuropa habe sich mit der außen- und sicherheitspolitische Lage aber "auch das österreichische Neutralitätsverständnis" gewandelt, schreiben die Experten und führen als Beispiel das Verhalten Österreichs im zweiten Golfkrieg 1991 an. Österreich hat damals fremden Streitkräften auf der Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrates Überflugs- und Durchfuhrgenehmigungen erteilt. Grundlage war die neue Rechtsauffassung, dass der Durchführung von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates Vorrang vor den Neutralitätspflichten zukomme.

Geändert hatte sich auch die ursprüngliche Ansicht, eine Mitgliedschaft in der EG sei mit der Neutralität Österreichs unvereinbar. Die Mitwirkung in der EG und an dem epochalem Friedensprojekt der europäischen Integration erschien laut Bericht wichtiger als das Festhalten an einer Neutralitätspolitik, die im europäischen Kontext kaum noch eine Funktion hatte.

Bei seiner Aufnahme in die EU hat Österreich keinen Neutralitätsvorbehalt angemeldet, sondern deren gesamten rechtlichen und politischen Besitzstand und damit auch den Maastricht-Vertrag inklusive seiner Bestimmungen über die GASP und die Perspektive einer Gemeinsamen Verteidigungspolitik übernommen. Die Aufnahme eines eigenen Artikels 23f in die Bundesverfassung sollte eine Kollision von GASP und Neutralitätsgesetz verhindern. Eine weitere Verfassungsnovelle diente im Zusammenhang mit der Ratifikation des Amsterdamer Vertrages 1998 dazu, Österreichs Mitwirkung an der Erfüllung der Petersberg-Aufgaben und an friedensschaffenden Maßnahmen der EU - auch solchen ohne UN-Mandat - zu ermöglichen.

"Die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes und der Schutz der sonstigen Güter der Republik und seiner Staatsbürger" werde heute am wirksamsten "durch eine umfassende und gleichberechtigte Integration Österreichs in die Solidargemeinschaft der europäischen Staaten erreicht, wozu auch eine Teilnahme am euro-atlantischen Sicherheitsverbund gehört", schreiben die Sicherheitsexperten. Nur so könne ein kleiner, entwickelter und wirtschaftlich eingebundener Staat seine eigene Interessenlage wirksam artikulieren und umsetzen bzw. zur Konsolidierung der europäischen Friedensordnung beitragen. Die Alternative zu einem solchen aktiven Gestaltungskonzept wäre eine irrationale und extrem kostspielige Abkoppelungsstrategie oder der Verzicht auf einen eigenen Akteursstatus durch eine passive Hinnahme der Entwicklung.

Das klassische Neutralitätsverständnis sei zunächst durch den Beitritt zu den Vereinten Nationen und dann durch den EU-Beitritt relativiert bzw. weiterentwickelt worden. Als Resultat dieses Prozesses sei Österreich heute "wie Finnland und Schweden bündnisfrei", meinen die Sicherheitsexperten der Bundesregierung und fügen hinzu: "Das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs kann aber nur vom Verfassungsgesetzgeber geändert werden. Ob Österreich in der Folge bündnisfrei bleiben oder einem Verteidigungsbündnis beitreten möchte, bleibt dann einer weiteren Entscheidung vorbehalten."

VERÄNDERTE UND NEUE AUFGABEN FÜR DAS BUNDESHEER

Die heutige Gestalt des Bundesheeres und der österreichischen Verteidigungspolitik resultiert aus mehreren Anpassungsschritten an sicherheitspolitische Gegebenheiten der letzten Jahrzehnte. Das Konzept der Umfassenden Landesverteidigung wurde seit 1961 entwickelt und im Jahr 1975 in die Verfassung aufgenommen. Zugleich verabschiedete der Nationalrat damals einstimmig seine Entschließung "über die grundsätzliche Gestaltung der umfassenden Landesverteidigung in Österreich (Verteidigungsdoktrin)". Auf ihr wurde der Landesverteidigungsplan aufgebaut und als operativ-militärische Konzepte die "Abhaltestrategie" und die "Raumverteidigung" formuliert. Die Raumverteidigung konnte aber "aus finanziellen Restriktionen" nie wie vorgesehen umgesetzt werden. Noch vor Ende des Kalten Krieges reduzierte die "Heeresgliederung 87" die Mobilmachungsstärke von 3000.000 Mann auf 186.000 Mann.

War das Bundesheer von 1955 bis 1989 nie gezwungen gewesen, seine Effizienz in einem konkreten Verteidigungsfall zu beweisen, zeigten sich im blutigen Jugoslawien-Konflikt bald die neuen sicherheitspolitischen Risiken: Heer, Luftraumüberwachungssystem "Goldhaube" und die "Draken" bestanden beim Einsatz zur Sicherung der Staatsgrenze im Juli 1991 ihre Bewährungsprobe.

Aufgrund dieser Erfahrungen und der geänderten Lage wurde die Raumverteidigung durch ein "flexibles Einsatzkonzept für die grenznahe Sicherung und Abwehr" ersetzt und die Gesamtstärke der Einsatzorganisation auf 120.000 Mann reduziert. Fast alle bis dahin raumgebundenen Truppen wurden aufgelöst und die mobilen Kräfte von elf auf fünfzehn Brigaden aufgestockt. 15.000 Mann - 10.000 Mann Präsenzkräfte und 5.000 Mann Miliz - sollten rasch eingesetzt werden können. Auch dieses Konzept wurde aber - mangels ausreichender budgetärer Mittel - nicht vollständig umgesetzt.

Die jüngste Strukturreform des Bundesheeres erfolgte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre unter den Titeln "Heeresgliederung Neu" und "Strukturanpassung". Die Zahl der großen Verbände wurde von 15 auf 5 reduziert und Personal sowie modernes Gerät in den verbleibenden Verbänden konzentriert. Geringfügige Investitionen galten den mechanisierten Kampftruppen und der Artillerie sowie der Fähigkeit zur Teilnahme an internationalen Einsätzen. Investitionen in die Luftstreitkräfte seien ebenso unterblieben wie der dringend notwendige Schutz der Infanterie mit Mannschaftstransportpanzern, klagen die Experten und merken an: "Zur Durchführung prestigeträchtiger internationaler Einsätze wurden die ohnedies beschränkten Mittel für nationale Verteidigungsvorkehrungen weiter reduziert."

Während der neunziger Jahre verlagerten sich die Prioritäten zunehmend auf internationales Krisenmanagement, Katastrophenhilfe und auf den Assistenzeinsatzes an der EU-Außengrenze. Infolgedessen wandelte sich das Bundesheer von einer Friedensarmee mit passivem Abhaltecharakter zu einer Einsatzarmee. 3.500 Soldaten (1.400 im Ausland und 2.100 an der Ostgrenze) sind derzeit ständig im Einsatz.

Stark verändert haben sich Quantität und Qualität der internationalen Missionen. Die Zahl der ständigen Einsätze stieg seit den achtziger Jahren von drei auf 17, wobei die Soldaten nicht mehr ausschließlich als leicht bewaffnete Blauhelme unter UN-Flagge auftreten, sondern an robusteren, von der NATO geführten Einsätzen mit umfassenderen Peace-Enforcement-Mandaten teilnehmen. Die Missionen in Bosnien, Albanien und im Kosovo schließen eine Friedensdurchsetzung notfalls mit militärischen Gewaltmitteln ein. Laut Bericht hat das österreichische KFOR-Infanteriebataillon im Kosovo die bisher am weitesten gefassten "Rules of Engagement", die je ein österreichisches Kontingent im Auslandseinsatz hatte.

Die Bereitschaft Österreichs, künftig an militärischen EU-Einsätzen zur Krisenbewältigung teilzunehmen, macht eine entsprechende Vorbereitung des Bundesheeres notwendig. Denn die Fähigkeit zur Bewältigung des gesamten Aufgabenspektrums gemäß Petersberg, die es laut EU-Ratsbeschluss zu entwickeln gilt, gehe über die vorwiegend auf Friedenserhaltung abgestimmten österreichischen Standards hinaus. Das bisherige Konzept der "Vorbereiteten Einheiten" (Vorein) aus dem Jahr 1993 entsprach friedenserhaltende Einsätze in Konflikten niedriger Intensität. Die Fähigkeitsziele von EU und NATO/PfP erfordern aber die dauerhafte Vorbereitung der Kräfte auch für internationale Operationen zur Friedensdurchsetzung. Wie internationale Vergleiche zeigten, sei das Bundesheer von seinem  Ausbildungsniveau her in der Lage, an internationalen Operationen teilzunehmen. Erheblicher Nachholbedarf bestehe aber bei der Ausrüstung und der personellen Verfügbarkeit, analysieren die Experten. 

GLOBALE, TRANSATLANTISCHE UND EUROPÄISCHE SICHERHEITSINSTITUTIONEN

Sicherheit und Stabilität können heute nur durch ein Zusammenwirken einander funktionell ergänzender und sich gegenseitig unterstützender Institutionen gewährleistet werden, lautet eine der Kernaussagen der Analyse. Genannt werden insbesondere UNO, OSZE, EU und NATO. Keine dieser Organisationen könne alle sicherheitspolitischen Herausforderungen allein bewältigen. Als entscheidend für die Konsolidierung der europäischen Friedenszone gilt eine enge Verflechtung und Zusammenarbeit zwischen EU und NATO.

Die "neue NATO" wird von den Experten als umfassende Sicherheitsgemeinschaft und ein auf festen demokratischen Werten beruhendes politisches Bündnis dargestellt. Durch Öffnung für neue Mitglieder und Übernahme neuer Aufgaben (Krisenmanagement, umfassende sicherheitspolitische Kooperation mit Russland, Ukraine und der Mittelmeer-Region) trage die NATO entscheidend zur Erweiterung und Festigung der europäischen Friedens- und Stabilitätszone bei.

Österreich beteilige sich aktiv in allen genannten Organisationen, ohne dafür jedoch im Falle einer eigenen "Notlage" Anspruch auf die solidarische militärische Hilfe anderer Staaten zu haben.

DIE SICHERHEITSLAGE ÖSTERREICHS

Eine existenzbedrohende militärische Aggression gegen Österreich sei derzeit nicht möglich, stellen Militärstragen fest. Eine derartige Bedrohung sei erst nach einer strategischen Veränderung der politischen und militärischen Situation denkbar, wobei die Vorlaufzeit auf 7 bis 10 Jahre geschätzt wird. Da sich die Lage aber ändern könne, müsse eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik auch weiterhin mit der Entstehung militärischer Bedrohungen rechnen. Die meisten europäischen Staaten erhalten daher bei ihren Reformen eine gewisse militärische "Aufwuchsfähigkeit", um im Verteidigungsfall ausreichend militärisches Potential zur Verfügung zu haben. Denn solange der sicherheitspolitische Integrationsprozess Europas nicht vollständig abgeschlossen sei, bestehe zumindest potentiell die Gefahr einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik.

Derzeit könne davon ausgegangen werden, dass die "militärische Verteidigungsfähigkeit" eine selbstständige Verteidigung des gesamten österreichischen Staatsgebietes nicht erfordere. Die von der NATO ausgehende Abhaltewirkung senke das "militärische Restrisiko" auch für Österreich. Militärische Kernfunktionen sollten in einer "operativen Mindestgröße" aufrecht bleiben, um eine adäquate Reaktionsfähigkeit und alle weiterführenden Optionen Österreichs im Bereich der Sicherheitspolitik zu gewährleisten, schlagen die Experten vor.

Als die größte Gefahr für die Sicherheit Österreichs nennen die Sicherheitsfachleute eine Destabilisierung Europas, wobei der geographischen Nähe zu dem noch immer instabilen Balkan besondere Bedeutung zukomme. Diesen Risiken könne am effizientesten durch eine Stabilisierung vor Ort begegnet werden. Dazu bedürfe es multinationaler Anstrengungen in Form umfassender politischer, wirtschaftlicher und militärischer Maßnahmen unter Einschaltung internationaler Sicherheitsorganisationen (Schluss).