Parlamentskorrespondenz Nr. 430 vom 08.06.2001

REGIERUNGSVORLAGEN

VERTRAG VON NIZZA LIEGT DEM PARLAMENT ZUR RATIFIZIERUNG VOR

Die Bundesregierung hat nun dem Parlament den Vertrag von Nizza zur Ratifizierung vorgelegt, mit dem die Verträge, auf denen die EU beruht (Vertrag über die Europäische Union, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft), geändert werden. Dieser wurde am 26. Februar 2001 von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in seiner endgültigen Fassung unterzeichnet, nachdem er anlässlich des Europäischen Rates vom 7. - 11. Dezember 2000 beschlossen worden war. (600 d.B.)

Die vorbereitenden Verhandlungen darüber waren von der am 14. Februar 2000 eröffneten Regierungskonferenz geführt worden. Ziel der Vertragsänderung war und ist es, die Funktionsweise der europäischen Organe und Einrichtungen so anzupassen, dass diese auch in der Lage sind, in einer EU mit nahezu doppelt so vielen Mitgliedern im Vergleich zu heute handlungsfähig zu bleiben. Mit der EU führen derzeit zwölf Staaten Beitrittsverhandlungen (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern). Die Türkei wurde als potenzielles Beitrittsland anerkannt.

Dem Vertrag wurde auch eine "Erklärung zur Zukunft der Union" beigefügt, mit der der so genannte "Post-Nizza-Prozess" eingeleitet wird. Demnach soll der Rat im Dezember 2001 unter belgischem Vorsitz darüber entscheiden, wie der Denkprozess fortgesetzt werden kann. Konkret will man über folgende Themen weiter diskutieren: Vereinfachung der Verträge, Abgrenzung der Zuständigkeiten (Subsidiaritätsprinzip), der Status der in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der EU in den Verträgen sowie die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. Im Jahr 2004 ist dann die Einberufung einer neuen Regierungskonferenz geplant.  

Zentrale Punkte bei den Verhandlungen betrafen die Stimmengewichtung und die Ausdehnung der mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschlüsse im Ministerrat, die Stärkung der Position des Kommissionspräsidenten, die Festsetzung der Anzahl der Kommissare sowie der Sitze im Europäischen Parlament und in den anderen Institutionen, die Vereinfachung des Verfahrens für die verstärkte Zusammenarbeit und die Reform des europäischen Gerichtssystems.

Eine wesentliche Frage des EU-Vertrages, die im Zuge der "Sanktionen" gegen Österreich aufgetreten war, konnte durch eine Neuformulierung des Art. 7 gelöst werden. Die alte Textierung des Amsterdamer Vertrages sah die Möglichkeit vor, bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung von in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätzen durch einen Mitgliedstaat Sanktionen (Aussetzung bestimmter Rechte, einschließlich der Stimmrechte) gegen diesen zu verhängen, ohne aber präventive Vorkehrungen zu treffen. Absatz 1 des Art. 7 postuliert nun insofern ein Frühwarnsystem, als der Rat auf begründetem Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Kommission mit einer Vier-Fünftel-Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen kann, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundrechte oder der Grundfreiheiten, auf die sich die Union stützt, durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat kann daraufhin an diesen Mitgliedstaat geeignete Empfehlungen richten, wobei der betroffene Staat zu hören ist. Der Rat hat auch das weitere Vorliegen der Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, regelmäßig zu überprüfen. Gemäß Art. 46 EU-Vertrag unterliegen nun auch die Verfahrensbestimmungen des Art. 7 der nachprüfenden Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes.

Was nun die einzelnen EU-Institutionen betrifft, hat der Vertrag von Nizza die Rolle des Europäischen Parlaments als Mitgesetzgeber gestärkt und die Zahl der Abgeordneten im Hinblick auf die Erweiterung auf maximal 732 (derzeit 626) begrenzt. Auch die Sitzeverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten wurde geändert: Österreich hat zur Zeit 21 Abgeordnete, in Zukunft werden es 17 sein. Der Vertrag schafft auch die Rechtsgrundlage für den Rat, den Status europäischer Parteien sowie deren Finanzierung festzulegen.

Mit dem Vertrag von Nizza wird auch das System der Stimmengewichtung im Rat ab 1. Jänner 2005 im Hinblick auf die Erweiterung geändert, wobei die Bevölkerungsgröße der einzelnen Staaten eine stärkere Berücksichtigung findet. Österreich wird dann über 10 Stimmen verfügen, die vier größten Länder (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Frankreich und Italien) über 29, die kleinsten Staaten, wie Lettland, Slowenien, Estland, Zypern und Luxemburg über 4 Stimmen, Malta über 3.

Ebenso wird für die Erreichung der qualifizierten Mehrheit das demographische Element gestärkt: Für die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ist sowohl eine Mindestzahl von 169 Stimmen erforderlich als auch – bei Vorliegen eines Kommissionsvorschlages - die Zustimmung der Mehrheit der Mitgliedstaaten, in allen anderen Fällen die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder. Außerdem kann ein Mitgliedstaat beantragen, dass bei einer Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob diese Mehrheit mindestens 62% der Gesamtbevölkerung der Union umfasst. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, kommt der Beschluss nicht zustande. Die Stimmenschwelle für eine qualifizierte Mehrheit muss nach jedem Beitritt neu geprüft werden. In der Erklärung Nr. 21 wird gesondert eine dem Beitrittsrhythmus entsprechende Entwicklung der Schwelle für die qualifizierte Mehrheit sowie die Erhöhung der Sperrminorität(bei einer EU der 27 beträgt diese 91 Stimmen) vereinbart. Die "Erklärung zur Erweiterung der Union" (Erklärung Nr. 20) sieht dann vor, dass in einer Union der 27 die qualifizierte Mehrheit mit mindestens 258 von 345 Stimmen bei gleichzeitiger Zustimmung der Mehrheit, bzw. von zwei Dritteln der Mitgliedstaaten, je nachdem, ob ein Kommissionsvorschlag vorliegt oder nicht, zustande kommt. Die 62%-Klausel behält weiter ihre Gültigkeit.

Sobald der Vertrag von Nizza in Kraft tritt, werden 30 weitere Politikbereiche in die qualifizierte Mehrheitsentscheidung übergeführt, und zwar betreffen diese unter anderem: Erleichterungen bei der Personenfreizügigkeit, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Zivilbereich, bestimmte Maßnahmen in der Sozialpolitik, bestimmte internationale Verhandlungen über Dienstleistungen und geistiges Eigentum, eine Reihe von Ernennungsvorschriften sowie die Genehmigung der Verfahrensordnung des EuGH und des Gerichts erster Instanz.

Ab dem Jahr 2005 soll jedes Mitgliedsland nur noch ein Kommissionsmitglied stellen, mit dem Beitritt des 27. Staates wird die Zahl der Kommissionsmitglieder begrenzt, wobei die konkrete Höchstzahl erst dann vom Rat einstimmig festgelegt wird. Um die Gleichbehandlung der Staaten zu gewährleisten, soll ein Rotationsprinzip eingeführt werden. Zudem wird die Stellung des Kommissionspräsidenten gestärkt. Er soll in Hinkunft nicht nur über die Ressortverteilung entscheiden, sondern er kann auch mit Billigung des Kollegiums ein Kommissionsmitglied bindend zum Rücktritt auffordern. Der Nominierungsprozess für den Kommissionspräsidenten und die Kommissionsmitglieder erfordert nur noch einen qualifizierten Mehrheitsbeschluss des Rates. Nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erfolgt die Ernennung der Kommission durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit.

Um die Arbeit des EuGH zu erleichtern und damit die Verfahren zu verkürzen, wird der Rat ermächtigt, die Aufgabenverteilung zwischen Gerichtshof und Gericht erster Instanz neu zu regeln. Für besondere Rechtsgebiete, etwa für das europäische Beamtenrecht, ist auch die Einrichtung eigener Kammern vorgesehen. Wie bisher kann jedes Mitgliedsland einen Richter entsenden. Vollsitzungen soll es im Interesse der Straffung nur mehr in Einzelfällen geben.

Die Mitglieder des Rechnungshofes, von denen jedes EU-Land eines stellt, sollen in Hinkunft mit qualifizierter Mehrheit und nicht mehr einstimmig für die Dauer von sechs Jahren ernannt werden. Auch hier sollen für die Annahme bestimmter Arten von Berichten Kammern eingerichtet werden. Im Interesse einer besseren Zusammenarbeit mit den Rechnungshöfen der Mitgliedstaaten ist geplant, einen Kontaktausschuss einzusetzen, dem der Präsident des EU-Rechnungshofes sowie die Präsidenten der einzelstaatlichen Rechnungshöfe angehören.

Sowohl für den Wirtschafts- und Sozialausschuss als auch für den Ausschuss der Regionen wird die maximale Mitgliederzahl mit 350 festgesetzt.

Ein wichtiger Vertragspunkt betrifft die Reform der verstärkten Zusammenarbeit. Bereits der Vertrag von Amsterdam eröffnete für eine Gruppe von Mitgliedstaaten unter restriktiven Bestimmungen die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit in einzelnen Bereichen. Diese Restriktionen werden nun im Interesse der Erleichterung der verstärkten Zusammenarbeit gelockert, vor allem wird das bisherige Vetorecht, das jedem Mitgliedstaat zusteht, weitgehend abgeschafft. Nizza sieht vor, dass für die Begründung einer verstärkten Zusammenarbeit eine Mindestzahl von acht Mitgliedstaaten erforderlich ist, diese auch dem Ziel der Kohärenz der Unionspolitik dienen und stets allen anderen Mitgliedern offen stehen muss. Sie kann nur als "letztes Mittel" herangezogen werden, wenn für das angestrebte Ziel eine Einigung aller Mitgliedstaaten nicht zustande kommt. Erstmals ermöglicht der Vertrag, dass auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine verstärkte Zusammenarbeit erfolgen kann, allerdings nur hinsichtlich der Umsetzung einer gemeinsamen Aktion oder eines gemeinsamen Standpunktes. Bereiche mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen sind ausgeschlossen.

Die verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres wird damit begründet, dass sich die Union unter Wahrung der Zuständigkeiten der EU rascher zu einem "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" entwickeln kann. Allgemein wurde für die sensiblen Fragen der Justiz und des Inneren bereits in Amsterdam die Kompetenzgrundlage für eine Vergemeinschaftung beschlossen. Die damals festgelegte Fünfjahresfrist für einstimmige Beschlüsse bleibt prinzipiell erhalten, erst dann hat der Rat alle oder Teile der Bereiche dem Mitentscheidungsverfahren und somit einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen. Abweichendes wurde jedoch für das Zivil-, Asyl- und Flüchtlingsrecht festgelgt.

Auch in Bezug auf die Vergemeinschaftung des Handels mit Dienstleistungen und der Handelsaspekte des geistigen Eigentums wurde ein Kompromiss gefunden, der trotz grundsätzlicher Entscheidungsfindung mit qualifizierter Mehrheit in besonders sensiblen Fragen weiterhin die Einstimmigkeit vorsieht.

Die sozialpolitischen Zuständigkeiten werden ebenfalls neu geregelt. Der Vertrag hält jedoch explizit fest, dass die "anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen", nicht berührt würde und diese auch nicht daran gehindert würden, strengere Schutzmaßnahmen beizubehalten oder zu treffen. Als neues Tätigkeitsfeld kommt die "Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes" hinzu. Nach Anhörung des Europäischen Parlaments soll der Rat einen "Ausschuss für Sozialschutz" mit beratender Aufgabe einsetzen, um die Zusammenarbeit im Bereich des sozialen Schutzes zwischen den Mitgliedstaaten und mit der Kommission zu fördern.

In Fragen der Umweltpolitik, die grundsätzlich der qualifizierten Mehrheitsentscheidung unterliegen, konnten die bisherigen Ausnahmebestimmungen für das Erfordernis der Einstimmigkeit beibehalten werden. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der für Österreich wichtigen Punkte der mengenmäßigen Aspekte der Wasserressourcen, der Raumordnung, der Bodennutzung (mit Ausnahme der Abfallbewirtschaftung) und der Wahl des Energieträgers. Die Erklärung Nr. 9 hält fest, dass die Vertragsparteien entschlossen sind, "dafür zu sorgen, dass die Europäische Union eine führende Rolle bei der Förderung des Umweltschutzes in der Union sowie auf internationaler Ebene bei der weltweiten Verfolgung desselben Zieles spielt".

Für die wirtschaftliche, finanzielle und technische Zusammenarbeit mit Drittländern wird in einer eigenen Bestimmung festgelegt, dass derartige Maßnahmen der "Fortentwicklung und Festigung der Demokratie und des Rechtsstaates" zu dienen sowie das "Ziel der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verfolgen" hätten. 

In einer eigenen Erklärung vereinbarten die Mitgliedstaaten, dass alle Tagungen des Europäischen Rates in Brüssel stattfinden, sobald die Union 18 Mitglieder zählt.     

KLEINE B-VG-NOVELLE ALS NACHTRAG ZU NIZZA

Der Abschluss des Vertrages von Nizza macht auch eine Novelle des Bundes-Verfassungsgesetzes notwendig, da dessen Art. 23f ausdrücklich auf den Vertrag von Amsterdam verweist und nun auf Nizza Bezug genommen werden muss. Darüber hinaus werden Redaktionsversehen behoben und kleine legistische Anpassungen vorgenommen. (622 d.B.)

ABGELTUNG VON LEHR- UND PRÜFUNGSTÄTIGKEIT AUF EURO-BASIS

Die Änderung des "Bundesgesetzes über die Abgeltung von bestimmten Unterrichts- und Erziehungstätigkeiten an Schulen im Bereich des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur und des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft" ist deshalb erforderlich, da Lehrbeauftragte nunmehr auch an Fachschulen für Sozialberufe eingesetzt werden können. Außerdem werden die Schillingbeträge auf Euro umgestellt, die Terminologie wird an das Akademien-Studiengesetz angepasst.

(643 d.B.)   

Ebenso soll durch die Änderung des "Bundesgesetzes über die Abgeltung von Prüfungstätigkeiten im Bereich des Schulwesens mit Ausnahme des Hochschulwesens und über die Entschädigung der Mitglieder von Gutachterkommissionen gemäß § 15 des Schulunterrichtsgesetzes" die Umstellung auf den Euro vorgenommen werden. Aliquotierungen der Prüfungsentschädigungen bei Eignungsprüfungen werden auf Grund eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes abgeschafft. Darüber hinaus sieht die Regierungsvorlage Anpassungen an die geltenden Studienvorschriften vor. (644 d.B.)

PRIVATISIERUNG DES BUNDESVERLAGES

Die Bundesregierung hat kürzlich einen Entwurf für ein spezielles Bundesgesetz und Änderungen des Bundesgesetzes über die Neuregelung der Rechtsstellung des Österreichischen Bundesverlages vorgelegt. Es handelt sich um Rechtsgrundlagen für den bestmöglichen Verkauf der Bundesanteile am Österreichischen Bundesverlag. In den Erläuterungen unterstreicht die Regierung ihre Absicht, österreichische Interessen in den Bereichen Kultur und Schulbuch zu sichern und den Veräußerungserlös durch ein professionelles Verkaufsverfahren zu optimieren (631 d.B. ).

KOOPERATION MIT INTERNATIONALEN FINANZINSTITUTIONEN

Eine neue gesetzliche Basis für den Abschluss von Kooperationsvereinbarungen mit den internationalen Finanzinstitutionen regelt den Einsatz inländischer Konsulenten und Planungsunternehmen, die Finanzierung der Aus- und Fortbildung von Personen aus Entwicklungsländern und die Finanzierung der zeitliche befristeten Tätigkeit von Österreichern bei Finanzorganisationen (632 d.B. ).

ÖSTERREICH UNTERSTÜTZT DIE ENTSCHULDUNG DER ÄRMSTEN LÄNDER

Österreich beabsichtigt, die Initiative für die Entschuldung hoch verschuldeter armer Länder (HIPC-Initiative) von Weltbank und Währungsfonds mit einem Beitrag von 400 Mill. S zu unterstützen. Der Betrag soll an den bei der internationalen Entwicklungsorganisation (IDA) eingerichteten Treuhandfonds (HIPC-Trust Fund) gehen

(633 d.B. ).

(Schluss)