Parlamentskorrespondenz Nr. 588 vom 27.08.2001
DER CHRONIST DES GROSSEN KRIEGES
Wien (PK) - Wer sich dem Parlamentsgebäude von der Ringseite nähert und die linke Rampenauffahrt zum Haupteingang hinaufgeht, begegnet einer Gruppe von vier Sitzplastiken griechischer Historiker aus Laaser Marmor. Die erste, rechte Figur stammt von dem Bildhauer Richard Kauffungen und stellt den Athener Geschichtsschreiber Thukydides dar. Mit nacktem Oberkörper, einer Philosophen- oder Dichterbinde um den Kopf, halblangem Vollbart und niederen Schnürsandalen entspricht das Bildnis keiner der antiken Porträtplastiken des Thukydides, sondern erinnert, so die Kunsthistoriker, eher an hellenistische Darstellungen des Homer . Die Statue aus Laaser Marmor stammt aus der Hand von Richard Kauffungen.
Thukydides war aber kein Dichter. Der Sohn einer Athener Aristokratenfamilie mit thrakischen Wurzeln, zu der auch Miltiades, der siegreiche Feldherr von Marathon und dessen Sohn, der erfolgreiche Seestratege Kimon zählen, betrieb die Geschichtsschreibung vielmehr mit dem wissenschaftlich-rationalen Anspruch, der die geistige Welt Athens in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts prägte. Er wollte mit seiner "Geschichte des Peloponnesischen Krieges" nicht unterhalten wie Herodot, sondern wahre, für die Zukunft brauchbare Erkenntnisse vermitteln. Thukydides reflektierte als erster über die Methoden des Historikers, etwa über die Zulässigkeit der freien Wiedergabe von Reden oder die Arbeit mit einander widersprechenden Quellen und wurde zum Begründer der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung.
Thukydides beschrieb die Ereignisse des Krieges in einer chronologischen Reihenfolge, bemühte sich aber gleichzeitig um die Darstellung politischer und wirtschaftlicher Hintergründe sowie der Motive der handelnden Menschen. Der Leser erfährt bei ihm viel über die wirtschaftlichen Ressourcen, die kriegstechnischen und strategischen Möglichkeiten, die Mentalitäten und Traditionen, politischen Verfassungen und die führenden Persönlichkeiten der
Kriegsparteien. Der Historiker sah Athen und Sparta in einer entzauberten, von göttlichen Mächten freien Arena um die Vormacht in Griechenland ringen und zeigte, wie die Quantität der Ressourcen, das kriegerische und strategische Geschick sowie die Überzeugungskraft der politischen und militärischen Führer über Sieg oder Niederlage entschieden.
DER PELOPONNESISCHE KRIEG
Seit Athen bei Salamis über die Perser gesiegt, den Delisch-Attischen Seebund gegründet und darin die Führung übernommen hatte, nahmen die Gegensätze zwischen der neuen Seemacht Athen und der traditionellen Landmacht Sparta beständig zu. Schon 457 führten Athen und Sparta Krieg gegeneinander und schlossen erst 446 einen bloß taktischen Frieden, den Athen für intensive Rüstungen nützte. Dazu kam die wachsende wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den beiden Seehandelsmächten Athen und Korinth. Thukydides beschreibt am Beginn seines Werkes penibel, wie aus zunächst begrenzten Konflikten zwischen Athen und Korinth Anlässe für einen großen Krieg zwischen Athen und dem Peloponnesischen Bund wurden: 433 unterstützte Athen Kerkyra gegen dessen Mutterstadt Korinth in der Seeschlacht bei den Sybotainseln. Im Gegenzug bot Korinth Potidaia Waffenhilfe beim Abfall von Athen, was Athen mit einer Handelssperre gegen Megara beantwortete. Der Peloponnesische Bund, dem Korinth angehörte, betrachtete dies als Friedensbruch und marschierte 431 unter der Führung des bis zuletzt um Vermittlung bemühten spartanischen Königs Archidamos gegen Athen. Der Stratege der Athener, Perikles, ging einer Landschlacht gegen das überlegene spartanische Heer aus dem Weg, rief die Bürger Attikas hinter die Mauern der uneinnehmbaren Festung Athen zurück und setzte auf die Überlegenheit der Athener Flotte, die erfolgreich die Küsten der Peloponnes heimsuchte und Potidaia eroberte. Im überfüllten Athen brach aber 430 die Pest aus, die vielen Menschen, unter ihnen auch Perikles, das Leben kostete. 428 fiel Lesbos von Athen ab und 427 nahmen die Peloponnesier Plataia ein. Nach einem Erfolg auf der Insel Sphakteria gingen die Athener 425 unter Führung des radikalen Demokraten Kleon zur Offensive über. Unter Kleon verdoppelte Athen die Tribute der Bündnispartner, erlitt aber schon 424, bei Delion und Amphipolis schwere Niederlagen und verlor die thrakische Provinz.
Für Thukydides hatte die Niederlage bei Amphipolis schwerwiegende persönliche Konsequenzen. Als Stratege der Athener hatte er den Misserfolg zu verantworten, wurde durch ein Scherbengericht verbannt und lebte bis zum Ende des Krieges im Jahr 404 auf den thrakischen Gütern seiner Familie. Die kritische Auseinandersetzung mit Demagogen wie Kleon und Alkibiades, die die als defensiv beschriebene Strategie des Perikles zugunsten offensiver Aktionen verließen, ist eines der zentralen Themen des Historikers. Der Übergang zur Offensive sei, so Thukydides, die Ursache für den aus Athener Sicht katastrophalen Verlauf des Krieges gewesen.
422 fielen bei einem Angriff der Athener auf Amphipolis sowohl deren Stratege Kleon als auch der Spartaner Brasidas. Die darauf folgende Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten nützte der besonnene Athener Nikias im Jahr 421 zu einem Friedensschluss, dem aber Spartas Verbündete Korinth und Böotien ablehnend gegenüberstanden.
Nach Kleon trat in Athen der Neffe des Perikles, Alkibiades, an die Spitze der Demokraten und initiierte spartafeindliche Aktionen, unter anderem die Besetzung der Insel Melos, Einfälle auf der Peloponnes und ein gigantisches Flottenunternehmen zur Eroberung Siziliens. Die Schilderung der sizilischen Expedition zählt zu den Höhepunkten im Werk des Thukydides. Die größte Athener Flotte, die je aus dem Piräus auslief, stand zunächst unter dem gemeinsamen Oberbefehl des Alkibiades und des Nikias. Bald nach dem Auslaufen wurde Alkibiades aber zurückgerufen, da man ihn für die nächtliche Verstümmelung der Hermes-Statuen in Athen verantwortlich machte. Alkibiades entzog sich dem Prozess durch Flucht nach Sparta. In Sizilien eilte die Athener Flotte vorgeblich der verbündeten Stadt Segesta zu Hilfe, die mit Selinus, einer Verbündeten von Syrakus, Krieg führte. Tatsächlich sollte Nikias Syrakus erobern und Sizilien zu einer Kolonie Athens machen. Trotz Anfangserfolgen bei der Belagerung von Syrakus und einer von Demosthenes herangeführten Verstärkung gelang es den Athenern nicht, Syrakus einzunehmen. Nikias verlor zunächst seine Flotte und, nach einem Rückzug ins Innere der Insel, auch das Heer. Nikias und Demosthenes wurden hingerichtet, die wenigen überlebenden Athener gerieten in Sklaverei oder verschmachteten in sizilischen Steinbrüchen.
Diese Niederlage Athens brachte im Jahr 413 die eigentliche Wende des Krieges. Schon im Frühjahr hatte der Spartanerkönig Agis die attische Festung Dekeleia dauernd erobert. Euboia, Lesbos, Chios und Erythrä gingen von Athen zu Sparta über, dem auf Vermittlung des Alkibiades auch Persien an die Seite trat. Im Jahr 411 übernahm in Athen die Oligarchie der 400 die Macht. Daraufhin rief die demokratisch gebliebene athenische Besatzung von Samos Alkibiades als Feldherrn zurück, der nach einer Reihe glänzender Seesiege über die Spartaner 408 nach Athen zurückkehrte. In den folgenden Jahren wendete sich das Kriegsglück aber endgültig zugunsten Spartas, dessen Feldherr Lysander 405 die letzte Athener Flotte bei Aigospotamoi schlug. Die Herrschaft Athens brach zusammen, die Stadt selbst wurde zu Wasser und zu Lande eingeschlossen. Als Lysander im Jahr 404 in Athen einzog, ordnete er als erste Maßnahme die Schleifung der Festungsmauern an. Sparta hatte seine Hegemonie in Griechenland wieder aufgerichtet.
Über das Leben des Thukydides ist wenig bekannt. Man nimmt an, dass er die endgültige Niederlage Athens erlebt hat, aufgrund der allgemeinen Amnestie in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist und dort noch einige Jahre an seinem unvollendet gebliebenen Werk gearbeitet hat. Seine Darstellung des Peloponnesischen Krieges bricht im Jahr 411/10 ab. Der Sitznachbar des Thukydides auf der Parlamentsrampe, Xenophon, hat die Schilderung des großen Krieges in seiner "Hellenika" fortgesetzt.
(Schluss)