Parlamentskorrespondenz Nr. 26 vom 21.01.2002
DIE GÖTTER-ZWILLINGE APOLLON UND ARTEMIS IM OBEREN VESTIBÜL
Wien (PK) - Der Besucher, der das Parlamentsgebäude durch den Haupteingang betritt, gelangt in das Obere Vestibül und begegnet dort den Nachbildungen von zehn antiken Götterstatuen aus weißem Marmor. Die nach Plänen Theophil Hansens angefertigten und aufgestellten Skulpturen stehen in marmorverkleideten Wandnischen und fungieren symbolisch als Schutzgötter der häuslichen und staatlichen Ordnung.
APOLLON
Die erste Plastik links stammt von Josef Beyer und ist eine Kopie der berühmten Statue des "Apollon von Belvedere", deren Original sich in Paris befindet. Es stammt von dem spätklassischen Künstler Leochares aus der Zeit um 330 v.Chr.
In der griechischen Mythologie ist Apollo der Sohn des Zeus und der Titanin Leto, die ihn und seine Zwillingsschwester Artemis auf der Insel Delos zur Welt brachte. Apollo war schon nach wenigen Tagen erwachsen, da ihn die Göttin Themis mit Nektar und Ambrosia nährte. Apollo verließ Delos, wanderte nach Mittelgriechenland und tötete auf der Suche nach einer Orakelstätte die mit prophetischen Kräften begabte Schlange Phyton, die am Abhang des Parnass eine Erdspalte bewachte. Mit dieser Tat begründete der später als Gott der Weissagung verehrte Apollo den Mythos von Delphi als Orakelort, wo die Griechen aus dem Munde seiner Priesterin Pythia den Willen des Zeus erfuhren.
Im 5. Jahrhundert v. Chr. übernahm der ursprünglich nicht-griechische Lichtgott Apollo die Rolle des Helios als Sonnengott und wurde wie dieser oft mit Pfeilen als Symbolen der Sonnenstrahlen dargestellt. Für die Griechen war Apollo der Feind der Finsternis und allen frevelhaften Handelns. Er sorgte für das Gedeihen der Früchte, beschützte Hirten und Weidevieh und pflegte die männliche Jugend.
Als Führer der Musen (Musagetes) war er auch der Gott der Künste, insbesondere der Musik. Apollo wird die Erfindung der Laute (Kithara) zugesprochen, sein Lieblingsinstrument war aber die Leier (Lyra) des Hermes, mit der ihn sein Halbbruder für den Diebstahl einer Herde entschädigte.
Berühmt ist der Wettkampf mit dem phrygischen Satyr Marsyas. Dieser hatte die Doppelflöte gefunden, die Athene mit einem Fluch weggeworfen hatte, weil sie im Spiegel des Wassers entdecken hatte müssen, dass das Flötenspiel ihre Züge verzerrte. Marsyas hatte sein Spiel zu so hoher Meisterschaft entwickelt, dass er es wagte, Apoll zum Wettstreit herauszufordern. Es wurde vereinbart, dass der Sieger mit dem Unterlegenen nach Belieben verfahren solle. Schiedsrichter waren die Musen - nicht gerade eine Wahl, die die Hoffnung auf ein unparteiisches Urteil stärkte.
Apoll und Marsyas erwiesen sich als einander ebenbürtig. Um zu einer Entscheidung zu kommen, schlug der Gott vor, sie sollten mit umgedrehten Instrumenten spielen. Nach einer anderen Überlieferung sollten die Wettkämpfer zu ihrem Spiel auch singen. Beides ist mit der Leier möglich, nicht aber mit der Flöte - Apollon hatte gesiegt. Er hängte den unterlegenen Marsyas an eine Pinie und häutete ihn bei lebendigem Leib. Aus dem Blut des Marsyas und aus den Tränen seiner Freunde entstand, wie Ovid berichtet, der Fluss Marsyas in Kleinasien.
Als Gott des Bogenschießens weckte Apollo bei Spartanern wie Athenern auch Hoffnungen auf Hilfe im Krieg. In Athen wurde er darüber hinaus als Gott der Straßen und Wege, des schiffbaren Meeres und als Förderer der Kolonien verehrt. Zwar fürchteten die Menschen der Antike den Sonnengott, weil er Hitze, Dürre und Seuchen sandte, zugleich galten er und sein Sohn Asklepios aber auch als die wichtigsten Heilgötter bei Krankheiten. Zu Apolls Bereich des Lichts zählten auch Sittlichkeit, Ordnung und Gesetzmäßigkeit. Apollo strafte die Verbrecher, wies ihnen aber auch den Weg der Buße zur Reinigung von ihren Taten. Sein Heiligtum in Delphi wurde so auch zum Ausgangspunkt für die Idee der Mordsühne anstelle der Blutrache. Hart zeigte sich Apollo gegenüber Frauen, die ihm ihre Gunst verweigerten: Sein Fluch gegen Kassandra, der er prophetische Gaben geschenkt hatte, bewirkte, dass niemand ihren richtigen Prophezeiungen glaubte, Daphne verwandelte er in einen Lorbeerbaum und die Cumäische Sibylle ließ er tausend Jahre lang altern.
Den Römern wurde Apollo in der Zeit ihres letzten Königs Tarquinius Superbus (534 bis 510) bekannt. Im Jahr 431 errichteten sie ihm einen Tempel und führten 212, während des Zweiten Punischen Krieges, aufgrund eines Orakels die Apollinarspiele ein. Kaiser Augustus fühlte sich im besonderen Schutz Apolls und erhob ihn zu einem der vornehmsten Götter Roms. Im Jahr 29 v. Chr. ließ er einen prächtigen Apollo-Tempel auf dem Palatin bauen. Die namhaftesten der vielen Heiligtümer des Apollo waren Delphi, sein Geburtsort auf dem Berg Kynthos in Delos und Patara in Lykien. Apollo wurde oft in der bildnerischen Kunst und in der Literatur dargestellt. Insgesamt achtzehn antike Städte erinnerten mit ihrem Namen Apollonia an diesen Gott.
ARTEMIS
In Artemis, der jungfräulichen Göttin der Jagd, überlagern und verbinden sich - wie in anderen Figuren des antiken Götterhimmels - ältere, vermutlich östliche Elemente mit jüngeren, griechischen Vorstellungen. Für spätere, an bestimmten Ordnungsprinzipien orientierte Kategorisierungen passen etwa die Göttin, die nicht nur über ihre eigene Jungfräulichkeit, sondern auch über die ihrer Begleiterinnen eifersüchtig wacht, und die vielbrüstige ("Multimammia") Artemis von Ephesos (auch bei der alternativen Deutung, es handle sich bei dem seltsamen Brustschmuck um Stierhoden, bleibt das Thema Fruchtbarkeit im Zentrum) nicht ohne Weiteres zusammen.
Artemis und ihr Zwillingsbruder Apollon - im oberen Vestibül des Parlamentsgebäudes schräg vis a vis - waren Kinder des Zeus. Allerdings nicht von dessen Gattin Hera, sondern von Leto, der Tochter des Titanen Kois. Die eifersüchtige Hera versuchte daher, die Geburt zu verhindern. Kein Plätzchen auf der festen Erde wagte, der Göttin die Niederkunft zu ermöglichen - nur Delos, damals noch eine schwimmende Insel; Artemis wird deshalb auch "Delia" genannt.
In Lykien wollten Bauern Leto hindern, aus einem Teich zu trinken. Sie verwandelte sie in Frösche - Ovid hat es in den "Metamorphosen" beschrieben, in einer der schönsten Stellen lautmalerischer Literatur ahmt er ihr Quaken nach: quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant (obwohl sie unter Wasser sind, versuchen sie noch unter Wasser zu schmähen).
Mit ihren Pfeilen und harter Strafe war Artemis, würdige Tochter ihrer Eltern, schnell zur Hand. Den Jäger Aktaion, der sie beim Bad beobachtete, verwandelte sie in einen Hirsch, worauf ihn seine 50 Hunde zerrissen. Auch in der Geschichte des großen, an den Himmel versetzten Jägers Orion kommt Artemis vor. In einer simpleren Version des Mythos wollte Orion Artemis vergewaltigen, worauf sie ihn mit ihren Pfeilen tötete. Nach einer anderen Überlieferung war Artemis in den gewaltigen Jäger verliebt - sehr zum Ärger ihres Zwillingsbruders Apoll. Als die Geschwister einmal auf Kreta jagten, habe Apoll den Orion in der Ferne im Meer auf die Insel zu schwimmen gesehen. Er habe seine Schwester herausgefordert, sie sei nicht im Stande, jenes ferne Ziel mit ihrem Pfeil zu treffen. Ohne Orion zu erkennen, habe sie ihren Geliebten getroffen und so getötet.
Auch im Sagenkreis um Troja spielt Artemis eine Rolle. Als der Heerführer der Griechen, Agamemnon, seine Flotte in Aulis versammelte, um von dort zusammen nach Troja zu segeln, blieb der Wind aus - Artemis war beleidigt. Für den Grund dafür gibt es mehrere Überlieferungen. Eine besagt, Agamemnon hätte sich gerühmt, ein ebenso großer Jäger zu sein wie Artemis - Vergleiche, die in der griechischen Mythologie schlecht auszugehen pflegen, wovon u.a. der Satyr Marsyas ein Lied singen kann, nachdem er Apoll herausgefordert hatte. Artemis gab den Wind erst frei, nachdem Agamemnon seine Tochter Iphigenie geopfert hatte. Die wurde zwar im letzten Augenblick durch eine Hirschkuh ersetzt - musste aber dafür in Tauris, wohin sie entrückt wurde, Menschen als Opfer darbringen. Beinah wäre ihr leiblicher Bruder Orest - so stellt es Euripides dar - von ihr geopfert worden.
Auch der Große Bär am Sternenhimmel hat mit Artemis zu tun. Die Nymphe Kallisto ("die Schönste") aus der Gefolgschaft der Göttin - in einer ursprünglicheren Version vermutlich Artemis selbst - sei von Zeus schwanger geworden. Als das Artemis vor Augen kam, habe sie Kallisto in eine Bärin verwandelt, und so sei sie bis auf dem heutigen Tag am nördlichen Himmel zu sehen.
Die Statue im Oberen Vestibül wurde vom Bildhauer Alois Düll geschaffen, und zwar als Kopie der so genannten Artemis von Gabii, die ihrerseits eine von Praxiteles geschaffene Artemis auf der Akropolis zum Vorbild haben soll. (Schluss)