Parlamentskorrespondenz Nr. 267 vom 15.04.2002
DER MEISTER DES WORTES - MARCUS TULLIUS CICERO
Wien (PK) - Als Marcus Tullius Cicero 106 v.Chr. in Arpinum im Volskerland zur Welt kam, war die römische Republik bereits 400 Jahre alt. Seit der Vertreibung des letzten Königs hatten die Römer eine aristokratische Republik mit demokratischen Elementen geschaffen und die dauerhafte Herrschaft eines Mannes mit Erfolg verhindert. Die adeligen Mitglieder des Senats, die nobiles oder optimates ("die Besten"), trafen alle wichtigen Entscheidungen und wählten die hohen Beamten, die nach ihrer einjährigen Funktionsperiode selbst in den Senat einzogen und dort ihrerseits für die Karrieren ihrer Verwandten und Standesgenossen sorgten. Die Volksversammlung stand dem Senat in der Gesetzgebung formal gleichberechtigt zur Seite, es gelang aber nur sehr wenigen Nichtadeligen, in die römischen Staatsämter gewählt zu werden und einen Sitz im Senat zu erlangen. Cicero war ein solcher homo novus, ein Aufsteiger, der seine geistigen Fähigkeiten, seine rednerische Begabung, seinen Fleiß und seinen Ehrgeiz nützte, um auf der römischen Ämterlaufbahn bis zur höchsten politischen Würde, zum Amt des Konsuls aufzusteigen.
Als Cicero seine Karriere absolvierte, ging die Senatsherrschaft bereits zu Ende. Die Senatoren kämpften mit politischen Krisen, die paradoxerweise mit dem Machtzuwachs zusammenhingen, den Rom seit der Zerstörung Karthagos, der Eroberung Griechenlands und der Unterwerfung Kleinasiens erlebte. Gewohnt, einen Gemeindestaat und ein Volk von sprichwörtlicher Disziplin zu regieren, fiel es dem Senat schwer, ein Weltreich zu lenken und seine Autorität angesichts dramatischer sozialer Veränderungen zu wahren. Rom war zum größten Luxusmarkt der Welt geworden war, die römische Oberschicht konsumierte den Reichtum, den die Adeligen, Ritter, Steuerpächter und Kaufleute aus den vielen neuen Untertanen in Afrika, Spanien und Asien herauspressten. Selbst an der Landschaft Italiens waren die tiefgreifenden Veränderungen abzulesen. Seit Getreide billig importiert wurde, weidete auf den Äckern der in aller Welt als Soldaten dienenden Bauern das Vieh der Gutsbesitzer und in den Olivenhainen und Weingärten arbeiteten Sklaven und Kriegsgefangene. Auch hatte die "römische Globalisierung" nicht nur Gewinner - verarmte Bauern, Handwerker und Kriegsveteranen strömten in die Stadt und bildeten jene unruhige Masse der plebs, die von politischen Abenteurern und Verschwörern für Straßenkämpfe und zur Majorisierung der Volksversammlung mobilisiert werden konnte.
Die Gracchen hatten Reformvorschläge unterbreitet, waren aber am Widerstand des Adels gescheitert. So wurde die Situation des Senats immer prekärer: Einerseits brauchte er militärische Genies wie Marius und Sulla, Pompeius und Caesar, um das Reich und den Wohlstand der Römer zu sichern, andererseits meldeten diese neuen "Macher" immer häufiger politische Ansprüche an. Mit der Autorität und dem Reichtum, den sie als Imperatoren in den Provinzen erwarben, verfolgten sie ihre politischen Ambitionen auch in Rom - oft ohne Rücksicht auf Verfassung und traditionelle Werte der Republik.
Im Jahr 90 v.Chr. erhielt der sechzehnjährige Cicero in Rom die Männertoga zum Zeichen für den Eintritt in das Leben eines römischen Erwachsenen. Im selben Jahr leistete er seinen Militärdienst in jenem grausamen Krieg, in dem die italischen Bundesgenossen Rom die Gewährung des Bürgerrechts abrangen. Cicero kehrte als überzeugter Zivilist nach Rom zurück und wandte sich seiner wahren Berufung zu, der Ausbildung zum Rechtsanwalt im Haus des Rechtsgelehrten Quintus Mucius Scaevola. Bei seinem betagten Lehrer hörte Cicero nicht nur öffentliches und privates Recht, er lernte auch die führenden Männer seiner Zeit kennen, die bei dem berühmten Juristen Rat in Rechtsfragen suchten. Durch Scaevola wurde der junge Cicero auch mit der Gedankenwelt des Scipionenkreises vertraut, dem Scaevolas Schwiegervater Laelius angehört hatte. Die hochgebildeten römischen und griechischen Freunde des Scipio Africanus hatten nach der Eroberung Griechenlands im Jahr 146 Brücken zwischen römischem und griechischem Geistesleben gesucht. Aus der Verschmelzung griechischer Philosophie mit dem römischen Tugend- und Wertesystem war das Humanitätsideal hervorgegangen, dem Cicero als Anwalt, Politiker und Schriftsteller zeitlebens verpflichtet blieb.
ANWALT DER SCHWACHEN
Der Durchbruch als Anwalt gelang Cicero nach dem Ende der Diktatur Sullas im Jahr 80 v. Chr.: Chrysogonus, ein Günstling des Machthabers, hatte die Güter eines ermordeten Gutsbesitzers billig erworben und wollte dem Sohn und rechtmäßigen Erben des Ermordeten, Sextus Roscius, den Mord in die Schuhe schieben. In dem politisch heiklen Prozess verteidigte Cicero den Beschuldigten, deckte den raffinierten Plan des Chrysogonus auf und erwirkte einen Freispruch. Cicero hatte auch Fragen des Gerichtswesens angesprochen und die adeligen Richter gemahnt, sich ihres Vorrangs durch ein gerechtes Urteil würdig zu erweisen. Es sei ihre vornehmste Aufgabe, die Bürger im Sinne der Humanität vor Grausamkeiten zu schützen.
Ciceros Auftreten im Rosciusprozess begründete seinen Ruf als Anwalt und Redner. Ob die zweijährige Griechenlandreise, die er unmittelbar danach antrat, eine Flucht vor der Rache Sullas war, wie Plutarch meinte, oder ob es um die Verbesserung seiner Sprechtechnik ging, wie Cicero selbst im "Brutus" schrieb, ist nicht mehr zu klären. Jedenfalls besuchte Cicero berühmte Redelehrer und nahm Unterricht bei bedeutenden Philosophen: dem Stoiker Poseidonios auf Rhodos, dem Leiter der athenischen Akademie, Antiochos von Askalon, und bei den Epikureern Phaidos und Zenon. Cicero war überzeugter Platoniker und hing Zeit seines Lebens der akademischen Skepsis an, wie Philon von Larisa sie ihm in seinen Jugendjahren nahe gebracht hatte. Die Wahrheit sei für den einzelnen Menschen nicht erkennbar, man könne sich ihr nur durch selbständiges kritisches Denken annähern, lautete Ciceros philosophisches Credo. Folgerichtig lehnte er jeden Dogmatismus ab, forderte Toleranz für Andersdenkende und vertrat die Freiheit der Persönlichkeit. In diesem Sinne verteidigte er Zeit seines Lebens die Republik als Staatsform, da sie bei all ihren Schwächen die freie Entfaltung des Einzelnen innerhalb einer von ihm selbst anerkannten Ordnung gewährleiste. Mit diesem gleichermaßen antiken wie modernen Grundsatz hat Cicero das Geistesleben und das politische Denken bis in die Neuzeit entscheidend beeinflusst.
Philosophisch betrieb Cicero auch seine Ausbildung in Rhetorik, die er nicht bloß als Redetechnik betrachtete: "Was ich als Redner bin, habe ich nicht aus den Rhetorenwerkstätten, sondern aus den Wandelgängen der Akademie". Offenbar hat Cicero seine Studienzeit in Griechenland gut genützt. Plutarch überliefert den Ausspruch des berühmten Rhetorik-Lehrers Apollonios Molon auf Rhodos, der nach einer gelungenen Redeübung seines Schülers gesagt haben soll: "Dich, Cicero, lobe ich und zolle Dir Bewunderung, aber Griechenland muss ich bedauern, wenn ich sehe, dass der letzte Vorzug, der uns Griechen noch geblieben war, durch dich an die Römer übergeht: die Bildung und die Kunst des Wortes."
In Smyrna begegnete Cicero dem letzten lebenden Vertreter des Scipionenkreises, dem Konsular Publius Rutilius Rufus, der dort als "römischer Sokrates" eine Philosophenexistenz führte. Rufus war als Statthalter der Provinz Asia verbannt worden, weil er sich gegen den Willen der mächtigen Steuerpächter für die ausgebeutete Bevölkerung eingesetzt hatte. Cicero hat dem gelassen und heiter in sich ruhenden Greis, der die freie Philosophenexistenz einer Rückkehr nach Rom vorzog, in seinem Hauptwerk "Vom Staat" (de re publica) ein literarisches Denkmal gesetzt und sah in ihm ein politisches Vorbild. Als Cicero nach seiner Rückkehr aus Griechenland im Jahr 75 v. Chr. Quästor in Westsizilien wurde, glänzte auch er mit einer gewissenhaften und unbestechlichen Amtsführung. Er sorgte dafür, dass die Bauern das in Rom dringend benötigte Getreide in ausreichender Menge lieferten, setzte sich aber auch für einen fairen Getreidepreis ein und stand bei den Siziliern in hohem Ansehen. Ciceros Engagement für die Menschen in den Provinzen lag in seiner humanen Haltung begründet, wohl aber auch darin, dass er selbst aus einem Landstädtchen stammte und in Rom ein "Zugereister" war. Cicero bekannte sich stets zu seiner Heimatstadt Arpinum und beschrieb sie liebevoll in seiner Schrift "Über die Gesetze".
Bald nach seiner Heimkehr konnte Cicero neuerlich zeigen, wie sehr sein Herz für die Menschen in den Provinzen schlug. Gaius Verres, ein einflussreicher Adeliger, hatte in den Jahren 73 bis 71 als Statthalter in Sizilien übel gehaust und die Bevölkerung schlimmer ausgebeutet als dies selbst bei Feinden der Römer üblich war. Der Versuch der Sizilier, Verres zur Rechenschaft zu ziehen, war bei dessen Beziehungen als Senator aussichtslos. Dennoch nahm sich Cicero der Sache der Sizilier an und brachte die Klage gegen Verres im Jahr 70 ein. Die überwiegende Mehrheit des Senats, aber auch die oft als Steuerpächter tätigen Ritter unterstützten, wie erwartet, Verres, der sich vom besten Anwalt Roms, Hortensius, verteidigen ließ. Cicero zeigte sich aber den Tricks seines Gegners gewachsen, brillierte rhetorisch und warnte die senatorischen Geschworenen geschickt vor einem Freispruch, der als Beweis adeliger Korruption gelten würde. Er lud sie ein, sich durch eine Verurteilung des ehemaligen Statthalters ihrer Vorrechte würdig zu erweisen und ihren Ruf beim Volk wiederherzustellen. Cicero appellierte an die "concordia ordinum", die Eintracht der Stände. Senatorische Vorrechte seien nur für "wahre Optimaten" gerechtfertigt, die aus Verantwortung für die Republik handelten, argumentierte er, der bei korrupten Privilegienrittern - er nannte sie wegen ihrer luxuriösen Fischteiche verächtlich "piscinarii" - seiner scharfen Kritik wegen gefürchtet war. Als Hortensius versuchte, den komplizierten Prozess in die Amtszeit eines gewogenen Prätors zu verschleppen, stach Cicero diesen Trumpf des "Staranwalts" mit einem ungewöhnlich kurzen Plädoyer aus und zwang den Angeklagten mit erdrückendem Beweismaterial noch vor der Urteilsverkündung in die Verbannung. Dieser unerhörte Erfolg machte Cicero zum ersten Anwalt Roms.
Cicero glänzte nicht nur als Gerichtsredner, sondern auch im Fach der politischen Beratungsrede, die gemäß klassischer Rhetorik der würdevollen Darstellung der Autorität dient. Mit einer gemessenen, an den Gemeinsinn appellierenden Rede zerstreute Cicero etwa im Jahr 66 als Prätor Bedenken des Senats seinen Vorschlag, dem verdienten - aber eben nicht adeligen - Feldherren Pompeius den Oberbefehl im Feldzug gegen König Mithridates am Schwarzen Meer zu übertragen.
KONSUL UND "VATER DES VATERLANDES"
Mit 43 Jahren, zum ehestmöglichen Zeitpunkt, bewarb sich Cicero um das Konsulat, um das höchste Amt in Rom. "Wahlkampfmanager" war sein Bruder Quintus, der dem Platoniker gelegentlich raten musste, nicht allzu zimperlich mit seinen Konkurrenten Antonius und Catilina umzugehen, seien diese doch trotz ihres Adels nichts anderes als "ausgemachte Lumpen", die sich von Caesar und Crassus mit immensen Bestechungsgeldern unterstützen ließen. Ein Vorwurf, den der Senat mit einem Gesetz gegen unerlaubte Methoden bei der Amtsbewerbung bestätigte. Die Senatoren sahen Ciceros "Mangel" der niederen Geburt durch seinen Rang als Redner sowie durch seine unbestreitbare Tugend aufgewogen und wählten den homo novus für das Jahr 63 zum Konsul.
Die Ablehnung Catilinas erwies sich als richtig. Der Abenteurer, der mit Unterstützung Caesars und Crassus' schon einmal einen Umsturz versucht hatte, griff an der Spitze einer Schar adeliger Bankrotteure und Glücksritter neuerlich nach der Macht. Von der Geliebten eines Verschwörers in die Umsturzpläne eingeweiht und vom Senat bevollmächtigt, ging Cicero entschlossen gegen die Aufrührer vor und veranlasste dadurch Caesar und Crassus, von Catilina abzurücken. Hierauf zwang er diesen mit seiner berühmten Senatsrede ("Wie lange noch wirst du, Catilina, unsere Geduld missbrauchen?"), Rom zu verlassen. Anhand von Briefen deckte der Konsul die Umsturzpläne der in Rom zurückgebliebenen Catilinarier auf, ließ sie verhaften und führte gemeinsam mit Cato einen Senatsbeschluss zur Hinrichtung der Verschwörer herbei. Nach Vollstreckung des Urteils geleitete das Volk Cicero im Triumph in den Senat, wo ihn Catulus als pater patriae ("Vater des Vaterlandes") begrüßte, ihn mit der Bürgerkrone auszeichnete und mit dem einzigen Dankfest würdigte, das je zu Ehren eines Zivilisten begangen wurde.
Cicero konnte seinen Erfolg gegen Catilina nicht zur Umsetzung seines Concordia-Konzepts nutzen. Der Senat wusste mit seiner neugewonnenen Autorität wenig anzufangen und verfiel zum Leidwesen Ciceros bald wieder in kleinliche Streitereien um Privilegien. Als fatal erwies sich die engstirnige Haltung der Senatoren gegenüber legitimen Wünschen des Pompeius, der im Jahr 61 siegreich aus dem Osten heimkehrte. Die nobiles weigerten sich, seine vorbildliche Neuordnung der östlichen Provinzen zu genehmigen und lehnten das Ersuchen um Versorgung seiner Veteranen ab. Damit trieben sie Pompeius in das Bündnis mit Crassus und Caesar und ebneten letzterem den Weg zum Konsulat und zum Prokonsulat in Gallien.
Unter dem Triumvirat geriet Cicero zwischen alle Fronten. Vom Senat abgestoßen warb er vergebens um die Freundschaft des Pompeius. Caesar schätzte ihn, Cicero aber wollte einem ehemaligen Genossen des Catilina nicht folgen. Im Gegenteil, gemeinsam mit dem Republikaner Cato focht Cicero Caesars konsularische Verordnungen an. Dessen Reaktion erfolgte prompt: Cato wurde mit einem - wenn auch ehrenhaften - diplomatischen Auftrag nach Cypern geschickt, Cicero aber bekam es mit einem persönlichen Feind zu tun, mit Publius Clodius, einem Adeligen, den Caesar rechtswidrig zum Volkstribunen wählen ließ. Clodius, der Rom mit seinen Schlägerbanden terrorisierte, beantragte im Jänner 58 Cicero zu ächten, weil er die Catilinarier als Konsul ohne Gerichtsurteil hatte hinrichten lassen. Vom eingeschüchterten Senat und von Pompeius im Stich gelassen, musste Cicero den Weg in die Verbannung nach Saloniki antreten.
Mit Verzögerung setzte sich Pompeius aber doch für seinen ehemaligen Fürsprecher ein und erwirkte 57 Ciceros Rehabilitation und Rückkehr nach Rom. Nach einem triumphalen Zug in die Hauptstadt dankte Cicero dem Senat und dem Volk und warb neuerlich für sein Concordia-Programm, das er ein Jahr später noch wesentlich erweiterte. In seiner erfolgreichen Verteidigungsrede für Publius Sestius, der in Konflikt mit Clodius geraten war, verwendete Cicero einen neuen, über den Adel hinausreichenden Begriff der optimates, der alle "Vernünftigen" und ausdrücklich auch Freigelassene einbezog. Politisch wirksam wurde dieser Vorstoß Ciceros nicht mehr. Die potentissimi, die "Allermächtigsten", hatten die römische Politik längst in ihrer Hand und ließen sie nicht mehr los. Caesar, Pompeius und Crassus erneuerten in der Konferenz von Luca ihr Triumvirat. Caesars imperium in Gallien wurde um weitere fünf Jahre verlängert, Pompeius und Crassus wurden Konsuln.
Abgeschnitten von der Politik lenkte Cicero seine intellektuellen Energien nun auf das Feld der Literatur. Als Hauptmotiv für sein Bemühen, alle Zweige der griechischen Philosophie der lateinischen Sprache zu erschließen, nannte er ein pädagogisches: "Kann ich dem Staat ein größeres oder besseres Geschenk machen, als wenn ich die Jugend lehre und bilde?" Tatsächlich erschloss Cicero in seinen von 55 bis 51 v. Chr. entstandenen Werken, in der philosophisch begründeten Rhetorik "de oratore" (Vom Redner), in "de re publica" (Vom Staat) und "de legibus" (Von den Gesetzen) der lateinischen Sprache jene wissenschaftlich-philosophische Begrifflichkeit, die die literarische Blüte der Augusteischen Epoche vorbereitete und bis in die Neuzeit verbindlich blieb.
Im Jahr 51 als Statthalter in die kleinasiatische Provinz Kilikien entsandt, bemühte sich Cicero - wie schon als Quästor in Sizilien - um eine vorbildliche Provinzverwaltung. Er kämpfte gegen römische Kredithaie, die die Provinzialbevölkerung mit Wucherzinsen aussaugen wollten, und bewies bei der Rücknahme ausbeuterischer Entscheidungen seines Amtsvorgängers viel Mut. Cicero errang als erfolgreicher Provinzverwalter neuerlich das Vertrauen der Bevölkerung - seine zukunftweisenden Leistungen für eine gerechtes Provinzialregime blieben aber unbelohnt, weil es ihm nicht gelang, sie auch in Rom politisch zur Geltung zu bringen.
ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN
Als Cicero Anfang 49 nach Rom heimkehrte, erreichte der Machtkampf zwischen dem Senat und Caesar gerade seinen Höhepunkt. Caesar wollte die Immunität seiner gallischen Statthalterschaft bis zu dem von ihm angestrebten Konsulat im Jahr 48 behalten. Der Senat forderte von Caesar aber, aus der Immunität herauszutreten und sich - in Übereinstimmung mit der Verfassung - als einfacher Bürger um das Konsulat zu bewerben. Das kam für Caesar nicht in Frage, weil er wusste, dass ihn die Senatoren wegen seiner Rechtsverstöße als Statthalter in Gallien anklagen und verbannen wollten. Cicero wollte den Bürgerkrieg vermeiden, bemühte sich um Vermittlung und stimmte gegen den Notstandsbeschluss, mit dem der Senat schließlich Pompeius mit dem Oberbefehl gegen Caesar betraute. Als der Krieg ausbrach, saß Cicero, wie so oft, zwischen allen Stühlen. "Vor wem ich zu fliehen habe, weiß ich, nicht aber, wem ich zu folgen habe", schrieb er an seinen Freund Atticus. Er entschied sich für Pompeius und ging im Juni 49 nach Griechenland, wo dessen Truppen gegen Caesar in Stellung gebracht wurden. Nach der vernichtenden Niederlage bei Pharsalos und der Ermordung Pompeius' wies Cicero den Oberbefehl über die senatorischen Truppen zurück und setzte auf die clementia caesaris, die sprichwörtliche Milde Caesars. Er täuschte sich nicht - nach einem Jahr Warten in Brundisium (Brindisi) erlaubte ihm Caesar bei einer persönlichen Begegnung, nach Rom zurückzukehren.
In den Jahren 46 bis 44 widmete sich Cicero neuerlich der Philosophie. Seine Arbeit umfasste nun auch Erkenntnistheorie, Ethik, Güterlehre und Theologie. Zu den berühmtesten Werken aus dieser Zeit zählen die philosophischen Dialoge "Hortensius" und "Brutus". In letzterem beklagte Cicero, dass die Redekunst nach dem Ende der Republik von der vornehmsten politischen Disziplin zu einer bloß literarischen Tätigkeit herabsinke.
LETZTER KAMPF FÜR DIE REPUBLIK
Obwohl Cicero mit manchen Reformen Caesars einverstanden war, fühlte er sich vom Streben des Diktators nach der Königswürde und dessen Selbstvergottung abgestoßen. Mit ständigen Mahnungen, die Republik wiederherzustellen und offen bekundeter Abneigung gegen Caesar war Cicero ein intellektueller Wegbereiter für die Verschwörung seines Freundes Brutus. In dessen konkreten Attentatsplan war Cicero nicht eingeweiht, zeigte nach Caesars Tod am 15. März 44 aber große Begeisterung und sprach "von der herrlichen Tat der Heroen". Er schlug sogleich vor, den Senat einzuberufen und die Prätoren Brutus und Cassius an die Spitze des Staates zu stellen. Dass die Attentäter den Thronprätendenten Caesars, Marcus Antonius, im Amt des Konsuls beließen, hielt Cicero für einen Fehler, den er scharf kritisierte: Die Tat sei "mit dem Mut von Männern, aber mit dem Verstand von Kindern vollbracht worden". Cicero resignierte aber zunächst nicht, sondern kämpfte entschlossen für eine politische Neuordnung. Um Frieden bemüht, setzte er im Sinne seines Concordia-Konzepts eine allgemeine Amnestie durch, scheiterte aber an Marcus Antonius, der mit seinen Anhängern in Rom schwere Unruhen auslöste.
Cicero befand sich schon auf dem Weg nach Griechenland, als er auf das Gerücht hin, Antonius suche das Bündnis mit dem Senat, nach Rom zurückkehrte. Dort erkannte er in Antonius, der Caesars Nachfolger werden wollte, seinen Hauptfeind und nahm den Kampf zur Verteidigung der Republik auf. Seine 14 Reden gegen Marcus Antonius nannte er "Philippische Reden", nach dem Vorbild des athenischen Redners Demosthenes, der die Demokratie gegen die Monarchie König Philipps von Makedonien verteidigt hatte. Da er den Krieg mit Antonius für unvermeidlich hielt, schlug Cicero dem Senat ein militärisches Bündnis mit Oktavius vor, dem Großneffen und Adoptivsohn Caesars. Damit gewann er großen Einfluss in Rom, überzeugte auch das Volk und erzielte militärische Erfolge. Ciceros letzte politische Aktion scheiterte aber an der schwankenden Haltung des Senats und an Brutus' Misstrauen gegen Octavius.
Über die letzten Monate Ciceros ist wenig überliefert. Er arbeitete, teils in Rom, teils auf seinen Gütern an seiner Schrift "de officiis" (Vom pflichtgemäßen Handeln). Darin setzte er sich mit Caesar auseinander, verurteilte ungezügeltes Machtstreben und beschwor das Bild des wahren Staatsmannes, der sich ausschließlich am Nutzen der Mitbürger orientiert. Mit seiner Lehre vom sittlichen Handeln übte Cicero große Wirkung auf das politische Denken der Nachwelt und insbesondere auf die Kirchenväter aus. Ambrosius etwa orientierte sich bei der Formulierung seines christlichen Moral- und Wertesystems an dieser Schrift, Voltaire und Kant schätzten das Buch als klassisches Handbuch der Moral. Herausgegeben wurde das Werk schließlich von Tiro, einem freigelassenen Sklaven Ciceros, seinem Sekretär und Lektor, der die erste Kurzschrift der Weltgeschichte schuf, die als "Tironische Noten" bis weit in das Mittelalter verwendet wurden und den Schöpfern der modernen Verhandlungs- und Parlamentsstenographien als Vorbild dienten.
EIN GRAUSAMES ENDE
Der Schutz des Octavius, in dem Cicero zunächst noch stand, endete, als dieser Ende Oktober 43 das zweite Triumvirat mit Antonius und Lepidus schloss. Eine Bedingung für Antonius Eintritt in das Bündnis war der Tod Ciceros. Drei Tage soll Oktavius gezögert haben, den ehemaligen Verbündeten zu opfern. Dann aber beugte er sich und die Menschenjagd begann. Es ist unklar, was Cicero veranlasste, sein Gut in Formiae aufzusuchen, statt, wie er dies ursprünglich plante, auf kürzestem Weg nach Griechenland zu fliehen. Am 7. Dezember ereilten ihn die Häscher des Antonius auf dem Weg zu seinem Schiff. Als grausames Zeichen seiner Rache und als Drohung gegen seine Feinde ließ Marcus Antonius das abgeschlagene Haupt Ciceros und dessen rechte Hand, mit der er die Philippischen Reden gegen ihn geschrieben hatte, auf der Rednerbühne in Rom aufstecken.
Viele Jahre später ließ Oktavius, der spätere Kaiser Augustus, erkennen, wie sehr er den grausamen Tod des großen römischen Redners bedauerte. Plutarch berichtet, dass Augustus, als er seinen Enkel über einem Werk von Cicero sah, das Buch selbst nahm, lange darin las und dann sagte: "Er war ein Meister des Wortes, mein Kind, ein Meister des Wortes und ein wahrer Freund seines Vaterlandes".
Einer Skulptur des Marcus Tullius Cicero begegnet der Besucher im Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses. Die Marmorstatue des Bildhauers Karl Sterrer steht zwischen jenen des Cajus Gracchus und des Manlius Torquatus und zeigt den berühmten Römer in Tunica und Toga. Eine weitere Cicero-Statue schmückt die rechte ringseitige Attika des Gebäudes. Eine Skulptur von Karl Schwerzek flankiert dort ein allegorisches Relief von Anton Wagner, das dem Thema "Beredsamkeit" gewidmet ist. Auf der anderen Seite des Reliefs steht Ciceros Vorbild, der Athener Redner Demosthenes. (Schluss)