Parlamentskorrespondenz Nr. 324 vom 06.05.2002
DER GESCHEITERTE LEHRER
"Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir". Dieser meist falsch - nämlich genau umgekehrt - zitierte schulkritische Ausspruch des Philosophen und Dichters Seneca lässt nicht nur so manche SchülerInnen und Studierende verzweifeln, sondern skizziert auch die Tragik des Lehrers Seneca, dessen Schüler Nero sich zum krassen Gegenteil dessen entwickelt hat, was ihm in Unterricht und Erziehung von Seneca vermittelt worden war.
Lucius Annaeus Seneca gilt als unantastbarer Moralphilosoph und zählt zu den bedeutendsten und vielseitigsten Schriftstellern seiner Epoche. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde er als "Erster unter den Gelehrten" anerkannt und war der "Modeschriftsteller" par excellence. Seine Regentschaft für den unmündigen Kaiser Nero wurde später auch als "goldene Zeit" der römischen Monarchie angesehen.
Was wir heute über Senecas Leben wissen, geht in erster Linie auf die "Annalen" des Tacitus zurück, denn er selbst hinterließ nichts Autobiographisches. Tacitus schreibt dem "Lenker der kaiserlichen Jugend" eine Umgänglichkeit zu, die den Anstand zu wahren wusste, gleichzeitig lässt er aber durchblicken, dass dieser auch vor Eitelkeit nicht gefeit war. Berühmt ist die von Tacitus breit ausgemalte Sterbeszene, in der Seneca den Befehl Neros zum Selbstmord in bewundernswerter Ruhe und Gelassenheit vollzieht. Die Todesbereitschaft ist auch ein Grundelement stoischer Ethik. Der Tod wird als eine ganz normale Auswirkung des Naturgesetzes gesehen, dessen Zeitpunkt man auch frei bestimmen kann.
Seneca war Anhänger der jüngeren Stoa, in der sich die Philosophie der Ethik zuwandte. Die "voluntas", das Wollen, betrachtete Seneca als ersten Schritt zur Selbsterziehung. Mit Hilfe der Philosophie sowie durch unermüdliche Anstrengung kann dann seiner Vorstellung nach eine unerschütterliche, stoische Haltung entwickelt werden. Die Philosophie soll sittliche Richtschnur, geistige Kraftquelle und damit Schutzinstrument gegen Willkür und gegen den Verfall der römischen Lebens- und Werteordnung sein. Tugend ist für ihn ein absoluter Wert, durch den allein der Mensch Glück erlangt, und der ihm die Kraft verleiht, nach dem richtigen Urteil zu leben und die Triebe zu beherrschen. Die vom Menschen im allgemeinen geschätzten äußerlichen Güter, wie Hab und Gut, Leben und Tod, sind relative Werte. Nicht sie selbst, sondern nur der falsche Umgang mit ihnen ist abzulehnen. Daher sollte der Mensch durch das Einüben von Armut, etwa in Form von Fasttagen, unabhängig vom Reichtum werden.
Bemerkenswert ist, dass Seneca von den bedeutendsten Nachfolgern seiner Schule, Epiktet und Marc Aurel, nie einer Erwähnung gewürdigt wurde. Die Kirchenväter wussten seine Philosophie hingegen zu schätzen. Hieronymus, zum Beispiel, reihte Seneca in seinen Katalog christlicher Schriftsteller "De viris illustribus" ein. Diese Anerkennung führte auch zur Veröffentlichung eines gefälschten Briefwechsels zwischen Seneca und dem Apostel Paulus.
Seneca wurde um ca. 4 v. Chr. im heutigen Corduba geboren. Er zog bald darauf mit seiner Familie nach Rom und erhielt die zu seiner Zeit übliche Ausbildung als Rhetor und Anwalt. Nachdem er sich auch philosophischen Studien zugewandt hatte, kam er bald mit der stoischen Lehre in Berührung, deren glühender Anhänger er wurde. Durch sein asketisches Leben gefährdete er jedoch seinen Gesundheitszustand derart, dass er dem Tode nahe war und er längere Zeit zur Erholung in Ägypten verbrachte. Diesem Umstand war es dann zu verdanken, dass er dem kaiserlichen Mordanschlag Caligulas entkam, der die Erfolge seiner "Schaureden" sowie jene als Anwalt und Quästor misstrauisch verfolgte, weil man ihm ohnehin kein langes Leben mehr zubilligte.
Die Missgunst Kaiser Claudius' führte im Jahr 41 zu Senecas Verbannung nach Korsika, nachdem ihm ein ehebrecherisches Verhältnis mit Julia Livilla, der Schwester Caligulas, vorgeworfen worden war. Dass eine Verbannung für den antiken Menschen beinahe gleichbedeutend mit dem Tod war, spürt man dann auch in seinen "consolationes", einer Trostschrift an seine Mutter Helvia.
Agrippina jedoch, letzte Gattin und Nichte des Kaisers Claudius, erwirkte für Seneca 49 n. Chr. die Rückkehr und machte ihn zum Erzieher ihres Sohnes Nero aus erster Ehe. Ein Jahr später wurde er zum Prätor ernannt, 55/56 bekleidete er das Amt des Konsuls. Diese Stellung sowie die Übernahme der Regierungsgeschäfte für den jungen Nero nach der Ermordung des Kaisers bildete den Höhepunkt seiner politischen Karriere. Unterstützt wurde er dabei von seinem Freund Afranius Burrus, dem Präfekten der kaiserlichen Garde.
So sehr er dem Reich ein guter Regent war, so sehr versagte er als Erzieher. Sein Einfluss auf den jungen Kaiser schwand zunehmend. Der Schreckensherrschaft Neros, die 59 n. Chr. einsetzte, vermochte er nicht mehr entgegenzuwirken. So zog er sich nach dem Tod Burros im Jahr 62 vom Hof zurück. In der darauf folgenden Zeit widmete er sich seiner philosophischen und schriftstellerischen Tätigkeit. Nero, der inzwischen seine eigene Mutter und Schwester hatte beseitigen lassen, bezichtigte Seneca schließlich, an einer Verschwörung gegen ihn teilgenommen zu haben, und befahl ihm den Selbstmord. In Anwesenheit seiner Freunde öffnete sich Seneca die Pulsadern (65 n.Chr.)
Seneca hinterließ ein umfangreiches Werk. Neben der bereits erwähnten Trostschrift an seine Mutter und zwei weiteren schrieb er die berühmten "Epistulae morales ad Lucilium", die von praktischer Ethik handeln. Sein Hauptwerk "de beneficiis" ist eine philosophische Abhandlung in sieben Büchern. Seine philosophischen Traktate: "de clementia", "de providentia", "de vita beata“, "de tranquillitate animi", "de brevitate vitae", "de ira", "de otio" und "de constantia sapientis" verfasste er in Dialogform. Weiters stammen von ihm neun Tragödien, darunter: Ödipus, Medea, Phaedra und Agamemno. Unter dem Einfluss seiner Tragödien schrieben auch Corneille und Racine. Eine Rarität stellt seine giftige Persiflage der Himmel- und Höllenfahrt des verstorbenen Kaisers Claudius „"Apocolocyntosis" (Verkürbissung) dar. In den „Questiones Naturales“ beschäftigt sich Seneca mit Naturphänomenen wie Gewitter, Erdbeben, Nilschwellungen etc.
Die Statue Senecas steht im Abgeordnetensaal des Reichsrats und wurde vom Bildhauer Stephan Schwartz ausgeführt. Er verlieh ihr, der Lebensphilosophie Senecas entsprechend, asketische Gesichtszüge. (Schluss)