Parlamentskorrespondenz Nr. 396 vom 03.06.2002
LYKURGOS - DER LEGENDÄRE GESETZGEBER SPARTAS
Wien (PK) - Auf dem nächsten Gemälde ist unter dem Titel "Einsetzung der Volksvertretung in Sparta" eine Gruppe von Männern mit knotigen Stöcken dargestellt, die in steinigem Gelände eine Besprechung abhalten. Landschaft und Szene erinnern entfernt an Plutarchs Schilderung der Stätte zwischen der Brücke Babyka und dem Fluss Knakion, wo der sagenhafte Verfassungsgeber Lykurg das spartanische Volk versammelte, um über die Vorschläge der Gerusia, des Ältestenrates, zu entscheiden.
Von der Sitte, bei Versammlungen Stöcke zu tragen, sollen die Spartaner erst abgegangen sein, nachdem ein Jüngling dem Lykurg im Zorn über dessen Maßnahmen gegen den Reichtum mit seinem Stock ein Auge ausgeschlagen hatte. Auch in dieser Situation habe Lykurg seine Milde und seinen Sanftmut gezeigt, schreibt Plutarch. In einer Art "außergerichtlichem Tatausgleich" habe Lykurg von dem jungen Mann nicht mehr verlangt, als dass er eine Zeit lang sein Diener sein und in seinem Haus wohnen sollte. Dort habe Alkandros, so dessen Name, Lykurgs Seelengröße, aber auch seine strenge Lebensführung und seinen Fleiß kennen gelernt und sei als sein Schüler zu einem maßvollen und verständigen Mann herangereift, berichtet Lykurgs Biograph aus der sagenhaften Überlieferung.
Historisch ist Lykurg ebenso wenig belegbar wie der römische König Numa Pompilius, mit dem ihn Plutarch vergleicht. Die Geschichtsschreibung geht davon aus, dass die Lykurg zugeschriebene, seit 700 v.Chr. nachweisbare Verfassung Spartas, ähnlich der römischen in einem Jahrhunderte langen Prozess gewachsen ist.
Fasst man die bei Plutarch darstellten Mythen über Lykurg und sein Verfassungswerk zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Der spartanische Königssohn Lykurg habe, nachdem sein Vater und sein älterer Bruder der damals in Sparta herrschenden Gesetzlosigkeit zum Opfer gefallen waren, als Vormund seines noch ungeborenen Neffen regiert. Seine Rechtschaffenheit habe der junge Lykurg unter Beweis gestellt, als er das Angebot der Schwägerin ablehnte, das Kind zu töten, um ihn auf Dauer zum König und sich selbst zur Königin zu machen. Lykurg sorgte vielmehr umsichtig dafür, dass sein Neffe die ihm zustehende Königswürde erhielt und erwarb damit großes Ansehen bei den Spartanern. Fortwährende Verleumdungen der Königinmutter, die behauptete, er wolle selbst König werden, veranlassten Lykurg, außer Landes zu gehen, bis der junge König selbst einen Nachfolger gezeugt haben würde. In Kreta, Asien, Ägypten, Libyen und Spanien studierte Lykurg verschiedene Verfassungen und begann selbst eine politische Ordnung für Sparta zu konzipieren. Um seinem Verfassungswerk den Boden zu bereiten, soll Lykurg einen Dichter in die Heimat geschickt haben, der die Spartaner mit Gesängen über Gesetzestreue und die Eintracht der Bürger auf die Reform einstimmte.
Als die spartanischen Könige ihn eines Tages baten, zurückzukehren, um ihnen bei der Regierung ihres "ungebärdigen" Volkes zu helfen, nahm Lykurg seinen Weg über Delphi und erfuhr dort, er werde seiner Heimat die beste aller Verfassungen bringen. Lykurg berief sich auf das Orakel, die Rhetra, als er ein Heiligtum des Zeus Syllanios und der Athena Syllania gründete, das Volk in Stämme und Gemeinden gliederte, einen Ältestenrat (Gerusia) aus den achtundzwanzig Ältesten und den beiden Königen bildete und das Volk über dessen Vorschläge entscheiden ließ. In der Versammlung durfte nicht "geschwätzt" und nur über die Anträge der Geronten und der Könige beraten und abgestimmt werden. Abänderungen durch das Volk waren nicht zulässig. Platon lobte später ausdrücklich die Einführung des Rates der Geronten, durch den der Staat einen "festen Anker" gewonnen habe und stets im Gleichgewicht geblieben sei: Neigten die Könige zur Tyrannis, stärkten die Geronten das Volk, zeigten sich die Könige der Menge willig, wirkten die Geronten einer Massenherrschaft entgegen.
Ein eigenartiges Verfahren bestimmte Lykurg für die Wahl der Geronten: Ausgewählte Männer wurden in ein Haus gesperrt, aus dem sie keine Aussicht hatten, sondern nur das Geschrei der draußen Versammelten hören konnten. Die Eingeschlossenen hatten zu entscheiden, bei welchem der Kandidaten - die die Versammlung schweigend durchschreiten mussten - das Geschrei am stärksten war, welcher am meisten Zuspruch hatte. Die noch sehr oligarchische Verfassung des Lykurg wurde im 8. Jahrhundert, nach dem 1. Messenischen Krieg, unter König Theopompos reformiert. Es wurden fünf Ephoren eingeführt, die von der Volks- bzw. Heeresversammlung gewählt wurden, innen- und außenpolitische Kompetenzen hatten und das Königtum nach und nach auf eine reines Heereskönigtum reduzierten.
Aber zurück zu Lykurg. Einer seiner wichtigsten Grundsätze war die soziale Gerechtigkeit: Mit einer Landverteilung beseitigte er die Ungleichheit unter den spartanischen Bürgern. Sein Versuch, auch den Hausrat gleich aufzuteilen, scheiterte aber am Widerstand der Spartaner. An Stelle des Gold- und Silbergeldes führte Lykurg eisernes Geld ein, das so viel Platz brauchte, dass niemand mehr ungehörigen Reichtum verbergen konnte. Unnütze Gewerbe verschwanden dadurch ebenso wie der Luxusimport, da das eiserne Geld im Ausland nicht angenommen wurde. Die spartanischen Handwerker konzentrierten sich nun auf die Güter des täglichen Bedarfs und sollen so die besten Produkte Griechenlands erzeugt haben. Hierbei darf freilich nicht vergessen werden, dass die Spartaner in erster Linie von der Arbeit ihrer Sklaven, den weitgehend rechtlosen Heloten, lebten. Ihnen gegenüber hielten sie den Kriegszustand permanent aufrecht, um die zahlreichen, oft auch tödlichen Übergriffe und regelrechten Hetzjagden, wie sie von jungen Spartanern veranstaltet wurden, zu rechtfertigen. Nirgendwo in Griechenland sei "der Herr so sehr Herr und der Sklave so sehr Sklave" gewesen wie in Sparta, berichtet Plutarch.
Ein weiterer Schlag des Lykurg gegen den Reichtum war die Einführung der Syssitien, der gemeinsamen Mahlzeiten der Bürger, in denen sie vorgeschriebene Speisen zu sich nahmen, "statt sich zu Hause von ihren Kochkünstlern wie gefräßige Tiere mästen zu lassen". Lykurg habe den Reichtum in Sparta "zu einem Nichts gemacht (...) Da Arm und Reich an einem Tisch saßen und dasselbe Mahl einnahmen, habe es keine Gelegenheit mehr gegeben, mit Reichtum zu prunken", schreibt Plutarch.
An den Tischgemeinschaften, die von manchen Griechen als Schulen der Weisheit gepriesen wurden, wo ernsthaft debattiert, aber auch gescherzt wurde, haben die Spartaner lange festgehalten. Aufgenommen wurde man aufgrund einer geheimen Wahl unter allen Mitgliedern der Tischgesellschaft. Jeder warf eine Brotkrume in ein Gefäß, fand sich nur eine zusammengedrückte Krume darunter, war der Bewerber abgelehnt, weil die Spartaner wollten, dass die Runde in ungestörter Freundschaft beisammen sein solle. Die zusammengedrückte Krume galt wie ein durchbohrter Stimmstein. Das Gefäß, in das sie die Brotkrumen einwarfen, nannten die Spartaner Urne.
Lykurg verbot es, seine Verfassung schriftlich zu fixieren. Statt dessen sollten die grundlegenden Einrichtungen des Staates durch Erziehung tief in den Seelen der Bürger verankert werden. Nur so würden sie seiner Auffassung nach bestehen bleiben. Daher maß Lykurg der Erziehung große Bedeutung bei. Er erließ strenge Regeln für den Umgang der Geschlechter miteinander und gegen eine ausschweifende Sexualität. Lykurg ging es um dauerhafte Ehen; im staatlichen Interesse an einer zahlreichen Nachkommenschaft ließ er auf der anderen Seite aber auch die außereheliche Zeugung von Kindern zu - wenn die betroffenen Ehepartner damit einverstanden waren.
Wer den Menschen nicht zutraut, dass sie in den eigenen vier Wänden richtig essen, traut ihnen natürlich auch nicht zu, ihre Kinder richtig zu erziehen. Lykurg betrachtete die Kinder als Eigentum des Staates und setzte vom Säuglingsalter an auf eine harte - die sprichwörtlich "spartanische" - staatlich organisierte Erziehung, in der militärische Tugenden, körperliche Belastbarkeit und Gehorsam im Vordergrund standen, Lesen und Schreiben hingegen als weniger wichtig betrachtet wurden. Großzügig waren die Spartaner gegenüber den jungen Menschen nur auf Feldzügen, sie betrachteten "den Krieg als eine Erholung von der ewigen Übung für den Krieg".
Lykurg gestattete auch nicht allen, das Land zu verlassen oder auf Reisen zu gehen und beschränkte auch die Zuwanderung nach Sparta, weil er meinte verhindern zu müssen, "dass fremde Sitten und Gedanken nach Sparta kämen, die nicht zu seiner Verfassung passten".
Nachdem Lykurg sein Gesetzgebungswerk beendet hatte, wollte er es unsterblich und für die Zukunft unveränderlich machen. Er erklärte den Bürgern, der Staat sei mit den bestehenden Gesetzen nun in Ordnung, er aber müsse nach Delphi gehen, um die Gottheit zu befragen, was jetzt zu tun sei. Sie sollten an der Verfassung nichts verändern, bis er zurückkehren und tun werde, was Gott ihm befehle.
Als Lykurg in Delphi erfuhr, dass seine Gesetze für das Glück und das Gedeihen des Staates gut und hinlänglich seien und Sparta in höchstem Ansehen bestehen werde, solange es nach seiner Verfassung lebe, sandte er diese Nachricht nach Sparta und beschloss, durch Nahrungsenthaltung freiwillig in den Tod zu gehen. Er war der Überzeugung, dass bei einem politischen Menschen auch der Tod eine politische Tat sein müsse und dass auch das Ende des Lebens nicht wirkungslos sein solle, sondern ein Handeln im Dienste des Guten. Lykurg soll in Kreta gestorben sein, wo ihm ein Gastfreund den letzten Willen erfüllte, seinen Körper verbrannte und die Asche ins Meer streute. Lykurgs Verfassung sollte nicht geändert werden können, weil ihr Schöpfer nie mehr nach Sparta zurückkehrte.
500 Jahre lang sollen die Spartaner tatsächlich nichts an der Verfassung des Lykurg geändert haben, die Einsetzung der Ephoren soll kein Nachlassen in der straffen Führung bedeutet, sondern die Herrschaft der Aristokratie vielmehr befestigt haben. Laut Plutarch habe erst König Agis wieder Geld nach Sparta strömen lassen, womit Habsucht und Reichtum kamen und Lykurgs Ordnung untergruben.
Das Eisenmenger-Gemälde im Abgeordnetenhaus-Sitzungssaal ist nicht die einzige Darstellung Lykurgs im Parlamentsgebäude. Im Plenarsaal des Herrenhauses stand bis zu dessen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine von Karl Schwerzek geschaffene Skulptur des legendären spartanischen Staatsmannes und Verfassungsgebers. Lykurg war dort als älterer Mann mit Vollbart dargestellt und trug einen Mantel, in der rechten Hand hielt er eine Gesetzestafel. Auf dem Statuensockel ist ein Baumstamm angedeutet, um den sich eine Schlange, das antike Symbol der Weisheit, ringelt. Schwerzeks Skulptur ist nicht von antiken Lykurg-Bildnissen beeinflusst, sondern an spätklassischen und hellenistischen Philosophen-, Redner- und Dichterbildnissen orientiert.
Mit einer Gesetzestafel, diesmal in der Linken, ist der sagenhafte Staatsreformer auch außen am Parlamentsgebäude, an der Ecke Stadiongasse/Reichsratsstraße, rechts neben dem Relief "Einigkeit", dargestellt. Josef Tautenhayn hat den sagenhaften Gesetzgeber mit Vollbart und in Sandalen abgebildet. Die Form des Kopfes folgt zahlreichen römischen Repliken und Münzabbildungen eines griechischen Originals, die das hohe Ansehen belegen, das der spartanische Staatsmann bei den Römern genoss. (Schluss)