Parlamentskorrespondenz Nr. 420 vom 10.06.2002
LUCIUS BRUTUS UND MENENIUS AGRIPPA BEGRÜNDEN IN ROM DIE REPUBLIK
Wien (PK) - Der Cäsarmörder Marcus Junius Brutus ist allgemein bekannt. Aber nicht diesen, sondern Lucius Junius Brutus, den legendären Gründer der römischen Republik und ersten Konsul (509 v. Chr.), hat August Eisenmenger in seinem Fries im Abgeordnetenhaus dargestellt. Die Szene zeigt, wie Brutus den Stab über seine beiden Söhne Titus und Tiberius bricht - ein Symbol römischer Rechtstreue und Unerschütterlichkeit.
Eine Beziehung zwischen den beiden Brutus lässt sich immerhin herstellen: In Shakespeares "Julius Cäsar" stellt der Verschwörer Cassius seinem noch unentschlossenen Mitverschwörer Brutus den früheren Brutus als Vorbild vor Augen. Wie der eine die Republik begründete, sollte der zweite sie bewahren.
Lucius Junius Brutus war ein Neffe des letzten Königs von Rom, Tarquinius Superbus. Um sich gegenüber Tarquinius, der viele Patrizier ermorden ließ, als ungefährlich zu geben, mimte Brutus den Schwachsinnigen - so seinem Namen Ehre machend, denn "brutus" heißt schlicht "blöd". So kam er auch dazu, zwei Söhne des Tarquinius nach Delphi zu begleiten; es galt, vom Orakel eine Deutung eines seltsamen Vorgangs zu erlangen. Eine Schlange war aus einer Säule im Palast hervor gekrochen. Die beiden Prinzen nutzten in Delphi die Gelegenheit und fragten die Pythia, wer Nachfolger ihres Vaters als König würde. Römischer Herrscher würde, wer als erster seine Mutter küssen würde, raunte die Pythia. Während die Brüder losten, wer von ihnen nach der Heimkehr als erster die Mutter küssen würde, stolperte der tollpatschige Brutus und küsste Mutter Erde.
König Tarquinius lag indessen im Krieg mit der rutulischen Stadt Ardea. Ein weiterer Sohn des Königs, Sextus, schändete die Frau seines Vetters Lucius Tarquinius Collatinus, Lucretia. Diese rief ihren Gatten und ihren Vater zu sich, die in Begleitung des aus Delphi zurückgekehrten Brutus erschienen. Sie nahm den Männern das Versprechen ab, sie zu rächen, und erdolchte sich. Zuvor aber trug sie dem Brutus auf, das Geschlecht der Tarquinier auszulöschen und in Rom eine Republik zu errichten.
An der Spitze eines Aufstands ging Brutus daran, Lucretias Auftrag auszuführen. Nach der Vertreibung des Königs wurde Brutus, zusammen mit Lucius Tarquinius Collatinus, Konsul. Dem Volk aber war der Name Tarquinius verhasst; Brutus veranlasste seinen Amtskollegen daher zum Rückzug aus der aktiven Politik.
In der Endphase des Kampfes mit dem König wurde eine Verschwörung unter der patrizischen Jugend zugunsten des Königs aufgedeckt. Zwei Söhne des Brutus, Titus und Tiberius, waren in das Komplott verwickelt. Da man entsprechende Briefe fand, war die Beweislage klar. Die Verschwörer wurden verhaftet, verurteilt und enthauptet - ohne Ansehen der Person, Brutus selbst überwachte die Hinrichtung. Die Güter der ehemaligen Königsfamilie wurden eingezogen und dem Kriegsgott Mars geweiht - das Marsfeld.
Im entscheidenden Kampf mit den Tarquiniern, als die Königstreuen in römisches Gebiet eindrangen, ritten die Konsuln ihnen entgegen. Arruns, ein Sohn des Königs und Reisegefährte des Brutus nach Delphi, griff seinen Onkel, der die Reiterei anführte, zu Pferd an. Die Wucht des Anpralls war so heftig, dass Brutus und Arruns sich gegenseitig durchbohrten. Der Kampf blieb ohne Ergebnis. In der Nacht aber erscholl eine Stimme. Sie sprach den römischen Republikanern den Sieg über die Königstreuen zu. Brutus aber wurde von allen Frauen Roms beweint, weil er für Lukretia eingetreten war.
MENENIUS AGRIPPA ERKLÄRT DEN PLEBEJERN DAS GEMEINWESEN
Gibt man "Menenius Agrippa" in eine der Internet-Suchmaschinen ein, erhält man eine Unzahl von Verweisen. Zwei Umständen hat der römische Konsul des Jahres 503 v.Chr. seine Präsenz zu verdanken: zum einen William Shakespeare, der ihn in seiner Tragödie "Coriolan" auftreten lässt, zum andern seinem - auch von Shakespeare aufgegriffenen - Vergleich des Gemeinwesens mit dem menschlichen Körper. Im Jahr 449 v.Chr. soll er mit diesem Vergleich - "einer der ältesten Soziallügen", wie Ernst Bloch meinte - die Plebejer im Kampf der Stände zur Rückkehr nach Rom und zur Kooperation mit den Patriziern bewogen haben. Die Parabel des Menenius hat durch die Jahrhunderte eine beispiellose Karriere gemacht.
Wie bei den meisten sagenhaften Figuren der römischen Frühzeit ist über die Person des Menenius Agrippa wenig bekannt. Er stammte aus altem Patriziergeschlecht, war 503 - zusammen mit Publius Postumius Tubertus - Konsul und starb 493. Nach der Vertreibung der Könige und der Errichtung der Republik (das erste Konsulat hatten sich Lucius Junius Brutus und Lucius Tarquinius Collatinus im Jahr 509 geteilt) lag alle Macht in den Händen der Patrizier. Die Plebejer waren nicht einmal eine einheitliche Gruppe, sondern setzten sich aus rechtlosen, verarmten, abhängigen Bauern und Zuwanderern zusammen. Für die Patrizier waren die Plebejer gleichwohl unverzichtbar - als Arbeiter auf ihren Latifundien, als Handwerker, vor allem aber als Fußsoldaten. Die Plebejer, von der religiösen und staatlichen Macht (eine Differenzierung, die es in der Form zu jener Zeit wohl kaum gab) ausgeschlossen, begannen sich zu organisieren. 494 soll - wie Titus Livius im 2. Buch seines Geschichtswerks "Von der Gründung der Stadt an" berichtet - ein großer Haufe Plebejer aus Rom ausgezogen sein und auf dem "Heiligen Berg", etwa drei km von der Stadt entfernt, ein Lager errichtet haben. In Rom ging indessen die Angst um. Die zurückgebliebenen Plebejer fürchteten Repressionsmaßnahmen der Paterizier, diese wieder hatten Angst vor der Rache der - militärisch geschulten - Plebejer. Mehrere Tage soll dieser Zustand äußerster Anspannung gedauert haben, wobei beide Seiten sich hüteten, die andere Seite zu provozieren.
Schließlich entschied der Senat, Menenius Agrippa als Parlamentär auf den Heiligen Berg zu schicken. Ihm, der obwohl Patrizier bei den Plebejern einen guten Namen hatte, soll es, nach Livius wie nach Plutarch, der Livius einfach abgeschrieben haben dürfte, mit seiner berühmten Fabel gelungen sein, die Plebejer zu besänftigen und die Eintracht wieder herzustellen.
Früher einmal, soll Menenius erzählt haben, seien beim Menschen nicht alle Glieder miteinander im Einklang gewesen, vielmehr sei jedes seinem eigenen Willen gefolgt. Die übrigen Teile des Körpers seien verärgert gewesen, dass der Magen alles genossen habe, was sie zusammentrugen. Daher hätten sie sich gegen den Magen verschworen: Die Hand wollte die Speisen nicht mehr zum Mund führen, der Mund wollte nichts mehr annehmen, die Zähne weigerten sich zu kauen. So sollte der Magen durch Hunger gebändigt werden. Aber zusammen mit dem Magen seien auch alle anderen Glieder entkräftet worden - und so sei deutlich geworden, dass die Tätigkeit des Magens für alle anderen wichtig war. Und "indem er davon ausgehend eine Parallele zog, wie sehr der Zorn des Volks auf die Patrizier diesem ähnlich sei, habe Menenius die Menge umgestimmt".
Mag sein, dass so die Plebejer damals zu vorher nicht bekannten Rechten kamen, vor allem zur Einrichtung der Volkstribunen. Im "concilium plebis", der Volksversammlung, konnte ein Volksbeschluss, plebiscitum, gefasst werden - bis heute Namensgeber für das Plebiszit.
Unbestritten aber hat Menenius Agrippa - wenn man Titus Livius, der sein Werk ein halbes Jahrtausend später verfasste, in diesem Punkt folgen mag - mit seiner Parabel eine Tradition begründet, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt, wenn auch vielfach im Widerspruch.
Dabei ist wahrscheinlich Menenius nicht der Erfinder der Parabel, sondern nur ihr populärster Erzähler. Schon in den Veden, im 2. Jahrtausend v. Chr., findet sich ein ähnlicher Vergleich. Möglich, dass Livius "seinem" Menenius eine von Aesop überlieferte Fabel in den Mund legte. Im alttestamentlichen Buch Daniel findet sich ebenfalls eine Metapher, die große Ähnlichkeiten aufweist, und im 3. Buch von Platons "Politeia", der ersten seiner staatstheoretischen Schriften, findet sich ein ähnlicher Mythos. Anklänge gibt es auch bei Francis Bacon und bei Thomas Hobbes und bis herauf zu Joseph Görres.
Der Vergleich des Staates bzw. eines Gemeinwesens wurde aber auch vielfältig kritisiert und als unpassend zurückgewiesen. Proudhon sprach von einer "lächerlichen Farce" des Menenius, und Karl Marx setzte sich kritisch damit auseinander. 1927, zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution, ging ein gewisser Josef Wassirionowitsch Dschugaschwili, besser bekannt unter seinem Tarnnamen Stalin, in einer Abrechnung mit den Sozialdemokraten auf Menenius Agrippas Fabel ein. Des Römers These, dass die Ausgebeuteten ebenso wenig ohne ihre Ausbeuter auskommen könnten wie die anderen Körperteile ohne den Magen, sei zum "Eckstein" der sozialdemokratischen "Philosophie" insgesamt und der Koalition mit der imperialistischen Bourgeoisie im besonderen geworden, schreibt Stalin. Diese Theorie habe den Charakter eines "Vorurteils" angenommen und sei zum schwierigsten Hindernis für die Revolution des Proletariats in den kapitalistischen Ländern geworden. "Eines der wichtigsten Resultate der Oktoberrevolution ist, dass sie dieser falschen Theorie einen tödlichen Schlag versetzt hat", diagnostiziert Stalin.
Am anderen Ende des Spektrums erfreute und erfreut sich bis heute der Vergleich eines Gemeinwesens mit dem menschlichen Körper großer Beliebtheit. Paulus verwendet im 12. Kapitel des ersten Briefs an die Gemeinde von Korinth ein frappant an Menenius Agrippa erinnerndes Bild: Die Kirche, die Gemeinde sei der Leib Christi, und alle Glieder hätten zu leiden, wenn eines leide. Könnte sein, dass Paulus, der römischer Bürger und gebildet war, seinen Livius gekannt und spirituell überhöht hat. In den Kirchen, auch in der katholischen, ist diese Tradition ungebrochen. Im letzten Jahrhundert setzten sie Papst Pius XII. (etwa 1943 mit der Enzyklika "Mystici Corporis") und das II. Vatikanische Konzil fort.
Bei seiner Rede auf dem Mons Sacer - wenn er sie überhaupt gehalten hat - wird Menenius Agrippa sich kaum vorgestellt haben, wie weit sein Vergleich herumkommt in der Geschichte. Eisenmengers Fries im Sitzungssaal des Reichsrats zeigt den zivil gekleideten Menenius und eine kleine Gruppe von Plebejern in Waffen, die noch sehr skeptisch scheinen. Aber da war der Abgesandte der Patrizier wohl erst am Beginn seiner Ausführungen. (Schluss)