Parlamentskorrespondenz Nr. 505 vom 01.07.2002

PERIKLES UND DIE KLASSISCHE DEMOKRATIE IN ATHEN

Der athenische Stratege und Staatsmann Perikles gilt als eine der großen Gestalten der Antike, sein Name steht für die klassische Epoche griechischer Politik und Kultur im Athen des fünften Jahrhunderts vor Christus. In der Friedensperiode zwischen dem Ende der Perserkriege und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges stand Athen am Höhepunkt seiner Seeherrschaft, verfügte über eine vollendete demokratische Verfassung, bot seinen Bürgern Wohlstand und erstrahlte in einer beispiellosen Kulturblüte. Dieses "Goldene Zeitalter" Athens verklärten die Historiker des aufstrebenden Bürgertums zur konkreten Utopie der eigenen Sehnsucht nach einer auf Freiheit und politischen Rechten der Bürger beruhenden Harmonie von Politik, Wirtschaft und Kultur und nannten es das "Perikleische Zeitalter". 

Aus diesem bildungsbürgerlichen Traum des 19. Jahrhunderts schöpfte der Architekt Theophil Hansen seine Ideen für die Gestaltung des Parlamentsgebäudes an der Wiener Ringstraße. Der Mythos des demokratischen Athen unter der Führung des Perikles gehört zu den wichtigsten Geschichten, die der Prachtbau Hansens mit den Mitteln der Architektur und der bildenden Kunst erzählt. Das Vorbild des Parthenontempels für das Gebäude, aber auch viele Details der Perikles-Darstellungen und die prominenten Stellen, die die Skulpturen und Bilder des antiken Politikers im künstlerischen Schmuck des Hauses einnehmen, machen dies deutlich.

Ein Perikles-Standbild befand sich unter jenen acht Plastiken, die an der Stirnseite des 1945 durch Kriegshandlungen zerstörten Herrenhaus-Sitzungssaales aufgestellt waren. Die von Arthur Kaan geschaffene Skulptur zeigte Perikles in Lebensgröße mit dem charakteristischen korinthischen Helm, einem Schwert als Zeichen des Feldherren in der Linken und einer Schriftrolle in der Rechten als Zeichen seiner Bedeutung als Staatsmann.

Die Kulturpolitik des Perikles, seit Winckelmann wichtigstes Element des Perikles-Mythos, ist Thema des zentralen Gemäldes von August Eisenmenger an der Stirnseite des Abgeordnetenhaus-Sitzungssaales. Der Historienmaler zeigt den Politiker in herrscherlicher Haltung auf einem Thronsessel. Gemeinsam mit seiner kunstsinnigen Frau Aspasia von Milet empfängt Perikles eine Gruppe von Künstlern mit dem Bildhauer Phidias an der Spitze, der seinem Bauherrn mit großer Geste das Modell einer Zeusplastik präsentiert und Baupläne erläutert. Phidias trägt in Eisenmengers Bild die Gesichtszüge Theophil Hansens, was eine überraschende Deutung zulässt: Hansens Ringstraßenbauten werden allegorisch auf eine Stufe mit den klassischen Bauten auf der Akropolis gehoben und damit sein Bauherr, Kaiser Franz Josef selbst mit dem Mann auf dem Thron der attischen Demokratie, mit Perikles, verglichen.

Eine weitere Perikles-Statue befindet sich außen am Parlamentsgebäude, und zwar an der dem Mittelportikus zugewandten Herrenhausseite. Sie stammt von Vinzenz Pilz und zeigt den Athener, ähnlich wie im Herrenhaussitzungssaal, mit Strategenhelm, Schwert und Schriftrolle. Interessant ist der Standort dieser Perikles-Skulptur an der linken Flanke eines allegorischen Reliefs zum Thema "Wohlfahrt", zumal an der rechten Seite kein Geringerer als Kaiser Augustus dargestellt wird. Perikles erscheint somit als Partner des großen römischen Kaisers, er steht für Theophil Hansen im selben Rang wie dieser. Bedeutungsvoll ist auch der räumliche Bezug zum Thema "Wohlfahrt". Laut Plutarch, der Hauptquelle der modernen Periklesverehrung, wollte sein Held mit den Prunkbauten nicht nur die Götter ehren, Athen schmücken und den Verbündeten sowie den Feinden Athens imponieren, sondern auch Arbeitsplätze für die Masse der Handwerker und Tagelöhner schaffen, die nach den siegreichen Kriegen gegen die Perser in ihre Heimatstadt zurückkehrten und nun einen friedlichen Lebensunterhalt suchten. Perikles soll sich auch dafür eingesetzt haben, den zahlreichen Beamten und Richtern, die im 5. Jahrhundert nach und nach auch aus den unteren Volksschichten stammten, Diäten zu bezahlen. Dies war nicht nur eine wichtige Einkommensquelle im traditionell übervölkerten Athen, sondern auch eine Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie. Denn erst durch die Bezahlung der Ämter konnten unbemittelte Bürger ihre politischen Rechte und Pflichten tatsächlich wahrnehmen.

Eine ernsthafte Beschäftigung mit Perikles und der athenischen Demokratie des fünften Jahrhunderts darf aber nicht bei den romantischen Ruhmesbildern des Perikles stehen bleiben, die Historiker und Künstler des 19. Jahrhunderts geschaffen haben. Denn jüngere Forschungen zeigen, dass Perikles einen großen Teil seiner beeindruckenden Karriere erst nach seinem Tod in den Werken der Geschichtsschreiber absolviert hat. Den Anfang machte der Athener Historiker Thukydides mit seiner am Ende des fünften Jahrhunderts verfassten "Geschichte des Peloponnesischen Krieges". In der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges nannte er Perikles den führenden Mann Athens der "damaligen Zeit", wie es bei ihm ungenau heißt. Diesen unbestimmten Zeitraum dehnte Plutarch in seiner ein halbes Jahrtausend später geschriebenen Perikles-Biographie bis zum Beginn der sechziger Jahre des fünften Jahrhunderts aus. 1764 ging der deutsche Kunsthistoriker und Entdecker der klassischen Kunstperiode in Athen, Johann Joachim Winckelmann, ein paar Schritte weiter als Plutarch und schrieb in seiner "Geschichte der Kunst des Altertums": "Die glücklichsten Zeiten für die Kunst in Griechenland, und sonderlich in Athen, waren die vierzig Jahre, in welchen Perikles, so zu reden, die Republik regierte". Damit war der Mythos des Perikleischen Athens geschaffen und die Möglichkeit eröffnet, die unerhörten politischen, militärischen und kulturellen Entwicklungen einer der kreativsten Epochen der Antike einem einzigen Mann zuzuschreiben. Unter dem Titel "Perikles" konnte Athen nun mit dem Florenz der Medici, dem Rom des Augustus, der Stadt der Renaissancepäpste sowie dem Wien Kaiser Franz Josefs verglichen werden.

Verlassen wir nun die Mythen und wenden wir uns den Fakten zu: Perikles wurde 495 als Spross des Adelsgeschlechts der Alkmaioniden geboren, das sich bereits im sechsten Jahrhundert an der Seite des Volkes politisch engagiert und gegen den Tyrannen Peisistratos gekämpft hatte. Perikles' Großonkel mütterlicherseits, Kleisthenes, hatte die Tyrannen aus Athen vertrieben und am Endes des sechsten Jahrhunderts auf Basis der Solonischen Verfassung die Grundlagen für die attische Demokratie geschaffen. Seine Verfassung drängte den Einfluss des Adels weiter zurück und gab der Volksversammlung mit dem Scherbengericht die Möglichkeit, missliebige Politiker für zehn Jahre zu verbannen.

Nach einer sorgfältigen Erziehung, an der auch der Philosoph und spätere Freund Anaxagoras Anteil nahm, betrat Perikles im Jahr 465 erstmals die politische Bühne und betätigte sich - der politischen Tradition seiner Familie folgend - als Ankläger gegen den konservativ-aristokratischen Strategen Kimon, dem, wenn auch erfolglos, Bestechung durch den Feind bei der Belagerung der abtrünnigen Stadt Thasos vorgeworfen wurde. Von einer führenden Rolle des Perikles wissen die Quellen aber noch lange nichts zu berichten. Perikles galt als Anhänger des Demokraten Ephialtes, der in den Jahren 462/61 gegen Kimon entscheidende Beschlüsse der Volksversammlung zur Weiterentwicklung der Demokratie initiierte. Die Volksversammlung nahm damals die Kontrolle der Beamten und der Staatsfinanzen aus den Händen des bis dahin dominierenden Adelsrates und räumte auch den Handwerkern und Tagelöhnern das passive Wahlrecht ein. Nach der ungeklärten Ermordung des Ephialtes öffnete die Volksversammlung in den Jahren 458/57 den Kleinbauern den Zugang zu den obersten Ämtern und führte die Besetzung der meisten Ämter per Losentscheid und die Besoldung der Beamten, Richter und Geschworenen ein. Perikles hinterließ in den Quellen jener Zeit nur Hinweise auf seine Teilnahme an der Schlacht bei Tanagra (457/76) und auf seinen Oberbefehl bei einem Landungsunternehmen auf der Peloponnes (455/54). Plutarchs Behauptung, Perikles hätte seit der Ermordung des Ephialtes im Jahr 461 eine führende Rolle in Athen gespielt, ist aus anderen Quellen nicht belegbar.

Der Politiker Perikles wird in den Quellen erstmals 451 deutlicher  erkennbar. In diesem Jahr setzte er die Einschränkung der Bürgerrechte auf gebürtige Athener durch, womit die damals zahlreichen Zuwanderer nach Athen von den rechtlichen und wirtschaftlichen Vorteilen der Demokratie ausgeschlossen wurden. Ein Jahr nach dem Friedensschluss mit den Persern, 448, scheiterte ein von Perikles nach Athen einberufener panhellenischer Friedenskongress. Die Verbündeten Athens begannen über das harte Regime Athens und die hohen Tributzahlungen zu klagen, die Spannungen mit Sparta wuchsen, schwere Kämpfe wurden in Delphi und Böotien ausgefochten, Euboia und Megara fielen von Athen ab. 446 schloss Athen mit Sparta einen taktischen Frieden, den Perikles zum Ausbau der Befestigungsanlagen nutzte.

In diesen Jahren beschloss die Volksversammlung die Neugestaltung der 480 von den Persern zerstörten Tempel auf der Akropolis. Die Baumeister Kallikrates und Iktinos begannen mit dem Bau des Parthenontempels, 437 startete Mnesikles die Errichtung der Propyläen. Dazu kamen ein Dionysos-Theater am Südhang der Akropolis, das Odeion sowie der Nike-Tempel und das Erechtheion. Das Geld dafür stammte aus den Beiträgen der Verbündeten an die Kasse des Attisch-Delischen Seebundes gegen die Perser, eine immer unwilliger geleistete Steuer an die imperiale Macht Athen. Bauherr der Tempel war die Volksversammlung, die künstlerische Leitung des Akropolis-Projektes lag bei Phidias. Die einzelnen Baustellen wurden jeweils von einem gewählten Architekten und einer Kommission gewählter Beamter beaufsichtigt, die sich auch um die Finanzen kümmerten. Man weiß, dass Perikles, wie viele andere auch, Mitglied einiger solcher Kommissionen war, mehr ist über seinen Anteil am Akropolis-Projekt aber nicht bekannt. Die Rolle des großen Initiators und Organisators, die Plutarch dem Perikles zuschrieb und damit dessen neuzeitlichen Ruhm als Kulturpolitiker begründete, ist historisch nicht nachweisbar.

Wesentlich plastischer lassen die Quellen Perikles als führenden Strategen und als Kriegspolitiker hervortreten. Nach der Verbannung seines Gegners Thukydides Melesiou durch ein Scherbengericht im Jahr 443 soll Perikles Jahr für Jahr zum Strategen gewählt worden sein. Als solcher hatte er die Kriegsbeschlüsse der Volksversammlung umzusetzen, Soldaten zu rekrutieren und Feldzüge zu leiten. Als erfahrener und erfolgreicher Stratege erlangte Perikles politischen Einfluss und wurde, wie Thukydides schrieb, zum führenden Mann Athens im Vorfeld des Peloponnesischen Krieges. Er nahm an den Sitzungen des Rates der 500 teil, der wichtige Kontrollfunktionen ausübte und die Sitzungen der Volksversammlungen vorbereitete, und hatte als populärer Redner Einfluss auf die Volksversammlung selbst.

Dort herrschte grundsätzliche Einigkeit über eine expansive Seepolitik. Denn sie sicherte den Bürgern Wohlstand durch Beute, Tributzahlungen, neue Märkte sowie Kolonialgebiete und bot den Adeligen darüber hinaus Gelegenheit, Ruhm und Ehre zu erlangen. Einen Krieg mit Sparta wollten die konservativen Aristokraten aber  vermeiden, während Perikles auf die für ihn unvermeidliche Auseinandersetzung mit den Peloponnesiern hinarbeitete und deshalb von den Komödiendichtern als Kriegstreiber attackiert wurde. Da Perikles das Instrument des Scherbengerichts gegen Theaterleute nicht einsetzen konnte, beantragte er die Einführung einer Zensur und tat damit den ersten verhängnisvollen Schritt zur staatlichen Verfolgung von Künstlern in Athen. Zu den Betroffenen zählten in der Folge Diagoras, Protagoras sowie Perikles' eigene Freunde Anaxagoras und Phidias.

Am Ende der dreißiger Jahre bildeten Konflikte mit Korinth und Megara für Perikles den Anlass, die Mehrheit der Volksversammlung von einem Feldzug gegen Sparta zu überzeugen. Seine Gegner vermuteten, er suche den Krieg, um nicht in Anklagen verwickelt zu werden, die seiner Frau Aspasia und seinen Freunden Anaxagoras und Phidias unter anderem auch wegen Gotteslästerung drohten. Tatsächlich konnte sich Athen den Frieden nicht mehr leisten. Nach dem Ende der persischen Bedrohung war es für die Athener immer schwieriger geworden, die Tributzahlungen der Bündnispartner einzutreiben, zumal sie das Geld so augenfällig für eigene Zwecke verwendeten. Außerdem wurde die Wohlfahrtspolitik in Friedenszeiten von Jahr zu Jahr teurer: Die Bauten verschlangen hohe Summen, konnten die Arbeitslosigkeit im übervölkerten Athen aber nicht beseitigen. Immer mehr Bürger erhielten in Form von Diäten immer höhere Zuwendungen. Der Krieg schien demgegenüber billig, denn der Sold für die Ruderer der Trieren war nur halb so hoch wie im Frieden, zudem versprachen die zu erwartenden Siege der überlegenen Athener Flotte Beute, weitere Tribute, Kolonien und neue Märkte.

Die kriegsbegeisterte Mehrheit der Volksversammlung mit Perikles an der Spitze kalkulierte aber falsch. Der Krieg mit Sparta geriet zu einem jahrzehntelangen Weltkrieg, der den Athenern zwar einige glänzende Siege brachte, nach wechselndem Verlauf aber im Jahr 404 mit einer totalen Niederlage endete. Es blieb Perikles erspart, dieses Ende seines Feldzuges zu erleben. Schon 429 war er der Pest erlegen, die in der von Menschen überfüllten Festung Athen ausgebrochen war, wo sich alle Bewohner Attikas vor dem überlegenen spartanischen Landheer verschanzen mussten.

Der Glanz des "Perikleischen Zeitalters" wird nicht blasser, wenn man hinter die Mythen blickt, die wie ein Vorhang die historischen Fakten verdecken. Die künstlerischen und intellektuellen Leistungen der Athener Klassik, für die nur beispielhaft Phidias, Sophokles und Anaxagoras genannt seien, bleiben ungeschmälert. Etwas deutlicher aber werden die politischen Widersprüche: Die Demokratie bestand im Athen zur Zeit des Perikles in der Herrschaft der Volksversammlung. Gleichheit (isonomia) und geteilte politische Verantwortung als Grundlage für die friedliche Lösung sozialer und politischer Konflikte waren aber nur für 10.000 Männer über 30 Jahren oder 3 % der rund 300.000 Athener verwirklicht. 25.000 Zuwanderer, 80.000 Sklaven, 150.000 Frauen, Kinder und junge Menschen hatten keine politischen Rechte. Die 45.000 Bauern Attikas konnten berufsbedingt kaum Anteil an der Politik nehmen, da sie keine Zeit hatten, die Sitzungen in der Stadt zu besuchen.

Der vielleicht noch gravierendere Widerspruch erwuchs der attischen Demokratie aus dem Herrschaftsanspruch gegenüber den griechischen Verbündeten nach den Perserkriegen. Athen drängte ehedem gleichberechtigte Partner in die Rolle tributpflichtiger Untertanen. Dies beschädigte die seit Solon und Kleisthenes wirksame Idee der Teilung politischer Verantwortung auf der Basis gleicher Bürgerrechte. Statt auf Gleichheit und Balance der sozialen und politischen Kräfte zielte die "vollendete" Demokratie auf die Mehrung von Macht und Wohlstand auf Kosten anderer. Die attische Demokratie war zum Teil eines auf militärischer Macht beruhenden Herrschaftssystems geworden. Dies brachten bemerkenswerterweise auch die Künstler zum Ausdruck, die die Periklesbilder- und -skulpturen im Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße schufen. Sie verzichteten bei keiner ihrer Darstellungen auf die Attribute des Kriegers und porträtierten den angeblichen Friedensfürsten stets mit Helm und Panzer oder mit dem entblößten Schwert in der Hand. (Schluss)