Parlamentskorrespondenz Nr. 588 vom 29.07.2002
SCHARFE SCHÜSSE IM PARLAMENT
Wien (PK) - Im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses gingen die Emotionen oftmals hoch. Pultdeckelkonzerte, Tschinellenlärm und Filibusterreden zählten zum Alltag im Parlament der Monarchie. Doch einmal, am 5. Oktober 1911, kam es zu einem Ereignis, das selbst für damalige Umstände erschreckenden Charakter hatte. Im Parlament fielen Schüsse.
Alles begann mit einer veritablen ökonomischen Krise. Schlechte Ernten und hohe Weltmarktpreise für Lebensmittel führten 1909 und 1910 zu nachhaltigen Preissteigerungen für Brot und andere Nahrungsmittel. Der Mehlpreis etwa stieg von 26 auf 48 Heller, Fleisch war für die arbeitenden Menschen in Österreich-Ungarn schlicht unerschwinglich geworden. Ende 1910 forderte Jakob Reumann im Abgeordnetenhaus des Reichsrates die unbeschränkte Einfuhr von Fleisch, sein christlichsozialer Gegenspieler Leopold Kunschak riet den Arbeitern, sie sollten sich stattdessen an Kraut und Kartoffeln gütlich tun, wenn das Geld für Fleisch nicht reiche.
Im Herbst 1911 verschärfte sich die Krise weiter. Es kam zu ersten Hungerkrawallen. Auf den Märkten prügelten sich Frauen um das wenige Leistbare, durch die Strassen der Städte zogen zornige Arbeiter mit Losungen wie "Wir wollen nicht verhungern." Karl Seitz, führender Parlamentarier der Sozialdemokraten, warnte davor, dass diese Bewegung spontan entstanden und im Begriff sei, sich rasch zu radikalisieren. Nur Gesetze, die auf eine spürbare Preissenkung abzielten, könnten die Lage noch beruhigen. Ministerpräsident Gautsch aber stand den Großagrariern im Wort, die von der Lage profitierten, und lehnte ein solches Ansinnen daher ab. Damit kam er auch den Wünschen des Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Julius Sylvester, entgegen, der eben auf Urlaub nach Dalmatien fahren wollte und daher eine Sitzung des Hauses als lästig empfand.
So kam es am 17. September 1911 zu einer Massenkundgebung auf der Wiener Ringstrasse. Die Staatsmacht hatte kein Verständnis für die "Teuerungskrawalle" und suchte die Demonstranten durch massive Militärpräsenz einzuschüchtern. Es gelang den sozialdemokratischen Rednern, die Massen zu beruhigen. Am Ende der Kundgebung forderten sie die Demonstranten auf, sich ruhig nach Hause zu begeben. Doch da fingen die Probleme erst an. Die Wut einzelner Demonstrationsteilnehmer entlädt sich an Schaufensterscheiben und selbst an Tramwayzügen. Die Polizei reagiert mit gezückten Säbeln. In Ottakring sollte die Lage schließlich völlig eskalieren. Im Bereich der Koppstraße sammelte sich eine große Menschenmenge zurückflutender Demonstranten an. Bosnische Infanterie und Husaren traten bzw. ritten ihnen entgegen. Die Menge, immer noch wütend, warf Steine gegen die Soldaten, worauf die Infanterie mit gefälltem Bajonett auf den Demonstrationszug marschierte. Nach dem Zusammenprall blieben Dutzende Verletzte im Straßenstaub liegen.
In einer Nebengasse trafen protestierende Menschen auf eine Abteilung des 24. Infanterieregiments. Deren Offizier befahl angesichts der drohenden Menge den Schusswaffengebrauch. Zwar schossen die Soldaten über die Köpfe der Demonstranten hinweg, Querschläger verletzten aber auch hier zahlreiche Personen. Es entstand eine Massenpanik. Der Ottakringer Arbeiter Otto Brötzelberger lief dabei direkt in die Arme der Soldaten. Ein Uniformierter fühlte sich bedroht und rammte dem Arbeiter sein Bajonett in die Brust. Brötzelberger starb am Tatort.
Die Bilanz dieses Sonntags wurde in den darauffolgenden Tagen noch dunkler. Die Arbeiter Franz Joachimsthaler und Franz Wögerbauer erlagen ihren Schuss- und Stichverletzungen, ein vierter Arbeiter, Josef Krischanesky, nahm sich das Leben, als er erfuhr, er solle der Militärgerichtsbarkeit übergeben werden.
Nun konnte Sylvester nicht länger zögern. Das Abgeordnetenhaus musste einberufen werden. Die entsprechende Sitzung war für den 5. Oktober 1911 anberaumt. Schon im Vorfeld der Plenarsession kam es zu Tumulten.
Am gleichen Tage protestierten nämlich die Tschechen Wiens gegen die vom christlichsozialen Bürgermeister Neumayer verfügte Schließung der tschechischsprachigen Komensky-Schulen in Wien, die dieser im Gemeinderat damit begründet hatte, alles andere wäre ein "Verrat an der deutschen Nation und am deutschen Charakter Wiens" gewesen.
Das Parlamentsgebäude war von Polizei umstellt, als Frauen mit ihren Kindern am Ring promenierten und schließlich in die Säulenhalle gelangten. Die Kinder - Schüler der Komensky-Schulen, die nun keinen Unterrichtsort mehr hatten - lachten, scherzten und begannen, ihr Jausenbrot unter den Augen von Zeus und Poseidon zu verzehren. Deutschnationale und christlichsoziale Abgeordnete, die des Weges kamen, empörten sich über die Szenerie: "Hinaus", riefen sie, "hier ist deutscher Boden, Tschechen haben hier nichts zu suchen!" Eine Frau blieb ihnen nichts schuldig: "Auch wir zahlen Steuern!"
Immer mehr Abgeordnete fanden sich in der Säulenhalle ein. Deutschfanatische und tschechischnationale Mandatare fingen eine veritable Schlägerei an, die Kinder starrten sprachlos auf das dargebotene politische Schauspiel. Der deutschnationale Abgeordnete Johann Kopp würgte einen tschechischen Pfarrer, der von Sozialdemokraten und einer einschreitenden Frau, die den Politiker an der Krawatte zog, aus seiner misslichen Lage befreit werden konnte. Vergeblich waren die Mühen, die Streitenden zu trennen. Erst Erschöpfung und das Einläuten der Sitzung brachte schließlich wieder Ruhe in die Halle. Die ramponierten Volksvertreter ordneten ihre Gewandung und ihre Frisur und begaben sich in den Plenarsaal.
Erstredner zum 1. Tagesordnungspunkt, den "Teuerungskrawallen", war Victor Adler. Was sich an jenem 17. September ereignet habe, so Adler, sei Ausfluss der Not, nicht nur in Wien, sondern im ganzen Reiche gewesen, begann er. Er gedachte der Opfer, aber auch jener Personen, die durch harte Gerichtsurteile im Gefolge der Demonstration mittlerweile in den Kerkern schmachteten, wofür der Justizminister mit seinen Weisungen nach voller Härte und Unerbittlichkeit die Verantwortung trage. Der Minister reagierte mit einem arroganten Lächeln.
In diesem Augenblick schrie jemand von der Galerie "Hoch der Sozialismus". Gleichzeitig krachten Schüsse durch den Raum. Alles warf sich in Panik auf den Boden. Nach der ersten Verwirrung zeigte sich, dass die Kugeln nur wenige Zentimeter an den Hinterköpfen der Parlamentsstenographen vorbeigeflogen waren und in die Vorderwand der Regierungsbank eingeschlagen hatten. Parlamentsmitarbeiter und die beiden Minister Hochenburger (Justiz) und Stürgkh (Unterricht) waren nur knapp dem Tode entronnen.
Oben auf der Galerie wurde der Täter, der keinen Widerstand leistete, rasch überwältigt. Es war der 24jährige arbeitslose Tischlergeselle Nikola Njegos, ein Montenegriner aus Dalmatien, der bei der ersten Vernehmung angab, das zynische Lächeln des Justizministers habe ihn derart provoziert, dass er aus seiner rückwärtigen Hosentasche jenen Revolver, den er zu Zwecken der Selbstverteidigung stets bei sich führe, gezogen habe, um den Minister damit für seine Verhöhnung der Opfer zu strafen. Njegos hatte viermal gefeuert, ehe die Waffe Ladehemmung hatte. Ein fünftes Geschoss wurde ohne Explosion aus der Kammer geschleudert und fiel auf die Prominentengalerie im unteren Stockwerk - direkt Emma Adler, der Frau des Redners, in den Schoss.
Währenddessen kam es im Plenum zu einer Art Stehpräsidiale. Präsident Sylvester und Vizepräsident Pernerstorfer sowie die Klubobleute der Sozialdemokraten Karl Seitz und Victor Adler sowie der Vertreter der Liberalen Rudolf Wedra plädierten für die Fortsetzung der Sitzung, Deutschnationale und Christlichsoziale forderten die gewaltsame Entfernung der sozialdemokratischen Mandatare, in denen sie die geistigen Urheber der Untat zu erkennen glaubten.
Die Sitzung wurde schließlich wieder aufgenommen und mit der Rede Adlers fortgesetzt. Seine Ausführungen waren jedoch kaum zu hören, da Christlichsoziale und Deutschnationale ein wüstes Geschrei erhoben und Adler mit Schimpfkanonaden á la "Mordbube" und "Bluthund" eindeckten. Überdies wurde beständig "Sozialdemokraten raus" skandiert. Adler konterte unter Bezugnahme auf die Toten des 17. September, er würde wünschen, dass "alle in diesem Saal ein so reines Gewissen" haben könnten wie er und seine Fraktionskollegen.
Njegos wurde wegen des Attentats zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und starb während der Haft. Die Frage, wie es ihm gelungen war, den Revolver an der Parlamentswache vorbeizuschmuggeln, blieb unbeantwortet. (Schluss)