Parlamentskorrespondenz Nr. 47 vom 10.02.2003

EIN ATHENER VERKÖRPERT DAS POLITISCHE TUGENDIDEAL DER GRIECHEN

Wien (PK) - Bevor wir auf unserem Rundgang um das Parlamentsgebäude die Ringstraße wieder erreichen, können wir auf der Attika des Abgeordnetenhauses ein Relief zum Thema "Gerechtigkeit" betrachten, das rechts von einer Skulptur des Atheners Aristides, links von einer des Römers Cato flankiert wird. Der Künstler beider Standbilder war Karl Schwerzek. Aristides wie Cato nehmen im Skulpturenprogramm Theophil Hansens wichtige Plätze ein. Eine Statue des Republikaners Cato schmückt auch die Stirnseite des Sitzungssaales des Reichsrates, während Aristides - in einer weiteren Abbildung des Karl Schwerzek - im Blickfeld der Mitglieder des Herrenhauses stand, zwischen einer Skulptur seines politischen Gegenspielers Themistokles und des Athener Tragödiendichters Sophokles.

Das Relief "Beredsamkeit" von Anton Wagner zeigt einen Redner, der von seinen Zuhörern umgeben ist. Neben der Figur ist das griechische Wort "Euglossia" - wörtlich "Schönzungigkeit", wir würden wohl sagen Zungenfertigkeit - zu lesen. Flankiert wird das Relief von Statuen der größten Redner der Antike: Demosthenes und Cicero, beide geschaffen von Karl Schwerzek. Eine Darstellung des Demosthenes siehe PK Nr. 572 vom 15. Juli 2002, des Cicero siehe PK Nr. 267 vom 15. April 2002.

Ringstraßenseitig stehen sieben allegorische Figuren, und zwar - von der Stadiongasse gegen die Mittelachse zu angeordnet - der Fischerei (von Edmund Hoffmann), der Klugheit (von Bohuslav Schnirch), der Selbstbeherrschung (von Edmund Hoffmann), der Mäßigung (von Thomas Seidan), des Muts (von Bohuslav Schnirch), der Ruhe (von Hugo Härdtl) und der Begeisterung (von Johann Kalmsteiner).

Aristides, der von Hansen als Leitfigur der "Gerechtigkeit" das Dach des Parlaments ziert, zählt nicht zu den Männern, die vorweg genannt werden, wenn es um Geschichte und Vorgeschichte der Demokratie in Athen geht. Die Idee staatsbürgerlicher Verantwortung statt Herrschaft Einzelner oder Weniger stammt von Solon, Kleisthenes steht für eine auf Gleichheit der Bürger ausgerichtete Verfassung, Themistokles für die militärischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen im Zuge seines Flottenprogramms. Die Zurückdrängung der Adelsmacht und die radikale Demokratisierung Athens schließlich sind mit den Namen Ephialtes und Perikles verbunden. - Aristides hingegen galt den Historikern und Philosophen als ein moralisches Vorbild unter den griechischen Politikern.

Er stammte aus einer reichen und angesehenen Athener Adelsfamilie und vertrat sein Leben lang aristokratische Ideale. Sein Vorbild war der Spartaner Lykurg und dessen rigorose Ethik, sein zentrales politisches Anliegen die Gerechtigkeit. Die Griechen hielten diese  Tugend für ebenso göttlich wie die für Menschen unerreichbare Unsterblichkeit und Macht der Olympier. Im gerechten Handeln aber konnte auch ein Mensch den Göttern ähnlich werden, glaubten die Griechen.

So zählte der junge Aristides zu den begeisterten Mitstreitern des Kleisthenes, als dieser nach der Überwindung der Tyrannis im Jahr 507 eine neue Verfassung schuf, die die Athener Bürger politisch weitgehend gleichstellte. Von Anfang seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Aristides durch Integrität aus und bemühte sich praktisch um die Glaubwürdigkeit seiner Prinzipien. Zeitgenossen und Nachwelt schätzten Aristides wegen seines maßvollen, im Sieg wie in der Niederlage zurückhaltendes Auftretens und wegen seiner absoluten Unbestechlichkeit. Selbst seine Prozessgegner konnten mit der Unterstützung des Aristides rechnen, wenn sie von einem Richter nicht fair behandelt wurden. Den Sokratikern und Platon galt Aristides als Verkörperung der höchsten politischen Tugend der Griechen, der "Sophrosyne", die Klugheit, Ausgewogenheit, Mäßigkeit, Besonnenheit und Gelassenheit in sich vereinigt. Die Historiker schmückten Aristides' Namen bald mit der Beifügung "Der Gerechte" und lobten seinen Charakter gegenüber dem des Themistokles, der als maßlos, überheblich und verschlagen galt.

Als die persische Armee 490 bei Marathon landete, um Athen zu erobern, war es der bescheidene und stets sachliche Aristides, der dem zehnköpfigen Strategenkollegium den Vorschlag unterbreitete, dem fähigsten und angesehensten Heerführer, Miltiades, das Oberkommando zu übertragen. Sein Argument lautete, Gehorsam und Unterwerfung unter die überlegene Einsicht seien nicht schimpflich, sondern ehrenvoll und heilsam. In der Schlacht selbst zeichnete sich Aristides durch Tapferkeit und danach durch sein Eintreten für eine faire Aufteilung der Beute aus.

Nach dem Sieg bei Marathon wurde Aristides zum Archonten gewählt und steigerte sein Ansehen bei den Athenern durch sein bedingungsloses Eintreten für das Gemeinwohl und seinen Kampf gegen die Korruption. Dabei geriet er immer stärker in Konflikt mit Themistokles, zunächst aus persönlichen Gründen: Hier der reiche, gelassene Aristokrat, dem es um das Ideal der Gerechtigkeit ging, dort der ehrgeizige, mit allen Mitteln um Macht kämpfende Aufsteiger, der energisch das Ziel verfolgte, Athen zur Seemacht umzurüsten. Aristides opponierte der Flottenstrategie des Themistokles, wobei es nicht nur um die Priorität in der Athener Verteidigungspolitik - Heer oder Flotte - ging. Themistokles begrüßte die sozialen und politischen Umwälzungen infolge des Flottenbaus, den Aufstieg der Ruderer, Schiffsbauer und Seehändler. Aristides hingegen vertrat den konservativen, agrarisch geprägten Adel, der um seine traditionelle politische Vormacht fürchtete. Themistokles entschied die heftig geführte Auseinandersetzung für sich, indem er 482 ein Scherbengericht (ostrakismos) einberief, das Aristides für zehn Jahre aus Athen verbannte.

Plutarch überliefert eine für Aristides bezeichnende Begebenheit dieser Abstimmung. Die Bürger mussten den Namen des zu Verbannenden auf einen Tonscherben (ostrakos) schreiben. Dabei bat ein Mann, der nicht lesen und schreiben konnte, Aristides, für ihn "Aristides" auf seinen Tonscherben zu schreiben. Als Aristides den Mann fragte, was ihm Aristides getan habe, habe er zur Antwort erhalten: "Nichts. Ich weiß nicht einmal wer er ist, aber ich habe es satt, dass er von allen "Der Gerechte" genannt wird." - Aristides tat, worum er gebeten wurde und verließ nach der Verkündung seiner Verbannung Athen mit dem Schwur, den Athenern niemals mehr Gelegenheit zu geben, sich an ihn zu erinnern.

Schon drei Jahre später kehrte Aristides nach Athen zurück. Als der persische König Xerxes an der Spitze eines riesigen Heeres, unterstützt von einer gewaltigen Flotte, gegen Athen marschierte, organisierte Aristides das griechische Bündnis zur Abwehr der Feinde, ordnete sich am Vorabend der Schlacht bei Salamis dem Kommando des Themistokles unter und stand ihm tatkräftig bei. Er leitete die für den Sieg der griechischen Flotte mitentscheidende Besetzung der Insel Psyttalea, die in der Schlacht zu einem wichtigen Stützpunkt der Athener und ihr Auffanglager für schiffbrüchige Seeleute wurde.

Als der persische Heerführer Mardonios im darauf folgenden Jahr 479 Athen neuerlich zum Angriff überging, wies Aristides finanzielle Angebote des Persers für einen Verrat der Athener zurück, schmiedete abermals ein griechisches Bündnis und wirkte an der Spitze von 8000 Athener Hopliten (Fußkämpfern) unter dem Oberbefehl des Spartaners Pausanias bei Platää maßgeblich am Sieg der Griechen gegen die Perser mit.

Der Sieg bei Platää führte zu einem weiteren Schritt auf dem Weg der politischen Gleichstellung aller Bürger in Athen. Aristides selbst soll im Interesse seiner Soldaten vorgeschlagen haben, den Bürgern den Zugang zu allen Staatsämtern zu öffnen, auch in das bis dahin dem Adel vorbehaltene Archontat. Auch mit der vordem bedingungslos abgelehnten Flottenpolitik zeigte sich Aristides nach der Schlacht bei Salamis versöhnt. Als die Griechen den Kampf gegen die Perser fortsetzten, führte Aristides gemeinsam mit Kimon, dem Sohn des Miltiades, das Athener Flottenkontingent und löste den Spartaner Pausanias, der sich durch einen anmaßenden und harten Führungsstil bei den verbündeten Griechen unbeliebt gemacht hatte, bald als griechischer Oberbefehlshaber ab.

In weiterer Folge übertrugen die griechischen Bündnispartner Aristides den Auftrag, ihre Beiträge für den Krieg gegen die Perser gerecht festzusetzen. Aristides reiste zu allen Bündnispartnern, erkundete die jeweiligen wirtschaftlichen Möglichkeiten und bemühte sich um eine gerechte Bemessung der Beiträge. In Summe setzte Aristides Beiträge von 460 Talente fest. Perikles sollte die Beiträge danach um rund 30 % erhöhen, dessen Nachfolger sollen die Summe nach und nach sogar auf 1.300 Talente erhöht haben.

Seine sprichwörtliche Unbestechlichkeit unterstrich Aristides zeitlebens durch eine asketische Lebensführung. Er war sogar gezwungen, seinen reichen Cousin Kallias gegen den Vorwurf der Athener zu verteidigen, er tue nichts für seinen armen Verwandten, obwohl er großen Nutzen von dessen Ruhm und Ansehen ziehe. Aristides erklärte öffentlich, Unterstützungsangebote des Kallias oftmals abgelehnt zu haben: "Ich habe mehr Grund auf meine Armut stolz zu sein als Kallias auf seinen Reichtum", antwortete Aristides den Athenern laut Plutarch und erklärte es zu einer Tugend, Armut würdig zu ertragen.

Gerechtigkeit übte Aristides auch seinem lebenslangen Feind Themistokles gegenüber. Obwohl dieser das Scherbengericht über ihn verhängt hatte, sagte er ihm nie etwas Böses nach und zeigte keine Schadenfreude, als dieser schließlich selbst ostrakisiert wurde.

Im Jahr 477 soll sich Aristides aus der Politik zurückgezogen haben. Über seinen Tod ist nichts Sicheres bekannt. Manchen Quellen zufolge starb er 476 in Athen, andere berichten, er sei in diplomatischer Mission am Schwarzen Meer ums Leben gekommen. (Schluss)