Parlamentskorrespondenz Nr. 164 vom 14.03.2007
Das Parlament darf die Interessen des Volks nicht vernachlässigen!
Wien (PK) - Am 6. November 1906, wenige Minuten vor Mittag, fuhr das Abgeordnetenhaus mit seiner Debatte zum Dringlichkeitsantrag über die Wahlreform fort. Nach den polemischen Ausfällen am Ende des Vortages kehrte nun durch den Abgeordneten Anton Korosec (1872-1940) wieder Sachlichkeit ein. Korosec war schon damals eines der politischen Schwergewichte des südslawischen Abgeordnetenklubs und sollte nach dem Ersten Weltkrieg eine politische Karriere in Jugoslawien machen, die 1928 in der Kür zum Ministerpräsidenten gipfelte.
Korosec: Das neue Wahlrecht – je früher, desto besser
Korosec teilte die Skepsis der Gegner der Wahlreform nicht, diese könnte zu einer Radikalisierung der Kammer führen: "Viele katholische Kreise hegen eine gewisse Furcht vor den politischen und sozialen Folgen dieses Wahlrechtes. Doch wer gewohnt ist, unter das Volk zu gehen und unter demselben im christlichen Sinne für das soziale und politische Verständnis und Pflichtgefühl zu arbeiten, der kennt diese Furcht nicht." Daher, so Korosec, sei es auch den "furchtsamen katholischen Kreisen" anempfohlen, diesen Weg zu beschreiten, dann werde das allgemeine und gleiche Wahlrecht keinerlei negative Folgen nach sich ziehen.
Vor diesem Hintergrund könne er, Korosec, auch das Argument nicht gelten lassen, mit dem neuen Wahlrecht würde man der "gottlosen Sozialdemokratie" Tür und Tor öffnen. Immerhin sei die Sozialdemokratie nichts anderes als eine politische Partei, "welcher man mit praktischer sozialer Reformarbeit im christlichen Sinne wirksam entgegentreten kann". Und gerade durch die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes entziehe man der Sozialdemokratie just jenen Boden, auf dem sie ihr Gedeihen finde.
"Niemand unter uns", fuhr Korosec fort, "wird heute mehr die Berechtigung des materiellen, wirtschaftlichen Emanzipationskampfes des Arbeiterstandes bestreiten wollen. Doch wo soll dieser Kampf ausgefochten werden, wenn nicht auf dem politischen Kriegsschauplatze? Und wenn man ihn hier auskämpfen lassen will, so muss man dem Arbeiter in der Politik auch die formale Gleichberechtigung zuerkennen." Diese sei bislang nicht gegeben, denn die Badenische Reform habe sich als ein Zerrbild erwiesen, das "ehestens durch das allgemeine, gleiche Wahlrecht abgelöst werden muss, falls man es nicht zu Katastrophen kommen lassen will."
Korosec erinnerte an ein Wort Napoleons, wonach Österreich immer zu spät komme – um ein Jahr, um eine Armee, um eine Idee. Wenigstens in dieser Angelegenheit sollte man den Spruch des Korsen falsifizieren und zeigen, "dass wir wenigstens nicht zu spät kommen". Die Sozialdemokratie sei nun einmal da, "und wir müssen den Kampf mit ihr auf dem Felde politischer Gleichberechtigung auskämpfen". Mit administrativen Waffen sei dieser Konflikt nicht zu gewinnen, gab Korosec zu bedenken, vielmehr solle man die Vorteile erkennen, die sich aus dem gleichen Wahlrecht auch für die eigene Klientel ergäben. Korosec wies auf die verheerende Lage hin, in der sich der österreichische Bauernstand befinde. Dieser bewege sich auf den Ruin zu, Auswanderung, Stadtflucht und das Sterben von Gehöften sei an der Tagesordnung. Warte man mit dem allgemeinen Wahlrecht weiter zu, "würde daher der Bauernstand vermöge der niedrigeren Anzahl seiner Angehörigen bei Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes entschieden noch schlechter abschneiden als im gegenwärtigen Momente. Darum glaube ich als Vertreter der agrarischen Bevölkerung der Untersteiermark gegenüber dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht sagen zu können: je früher, desto besser."
Korosec beleuchtete den Reformentwurf sodann auch aus der Sicht der Nationalitäten und wies auf die spürbare Benachteiligung der Slowenen hin, denen die Gleichberechtigung im Reiche nach wie vor von deutschnationalen Kreisen verweigert werde. Auch hier erhoffe er sich von einer Wahlrechtsreform eine Besserung der Lage. Die südslawischen Abgeordneten würden daher "die Beseitigung der ungerechten Behandlung der steirischen und kärntnerischen Slowenen in der Wahlordnung anstreben" und hofften dabei, "bei der Mehrheit dieses Hauses gerechte und billige Unterstützung" zu finden, schloss Korosec.
Pernerstorfer: Wahlrecht für die Sozialdemokratie eine Fahnenfrage
Als nächster trat der Sozialdemokrat Engelbert Pernerstorfer (1850-1918) ans Rednerpult. Pernerstorfer kam ursprünglich aus der deutschnationalen Bewegung, ehe er sich der Sozialdemokratie anschloss. Er hatte dem Haus schon 1885 bis 1897 angehört und war 1901 für den Wahlkreis Wiener Neustadt wieder ins Parlament eingezogen. 1907 sollte er zum ersten sozialdemokratischen Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses avancieren.
Pernerstorfer verwies darauf, dass die Sozialdemokratie seit Anbeginn ihres Bestehens stets die Forderung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zu einer absoluten Fahnenfrage gemacht habe. Eine Forderung im übrigen, die "in den Arbeiterbewegungen aller modernen Kulturstaaten und Kulturnationen immer wieder als die erste" erhoben werde. Und "länger als ein Menschenalter kämpfte auch in Österreich die Arbeiterschaft für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, und sie kämpfte nicht bloß platonisch, nicht bloß mit mehr oder weniger eleganten Äußerungen, Resolutionen, sie kämpfte durch mehr als ein Menschenalter mit der größten Anstrengung all ihrer Kräfte für dieses Recht."
Pernerstorfer erinnerte an dieser Stelle an die zahllosen Opfer, die man habe bringen müssen, um endlich so weit zu kommen, dass diese zentrale Forderung der Arbeiterschaft endlich auf der allgemeinen politischen Agenda stehe. Die österreichische Arbeiterschaft habe für die Erringung dieses Rechtes "auch ihr Blut fließen lassen, und zwar nicht einmal, sondern wiederholt". Sie habe die blutige Ära der Verfolgungen überwunden und ihre Bewegung habe dahin geführt, dass es im Jahre 1896 wirklich zu einer ersten Wahlreform gekommen sei. Doch diese sei, wie die Arbeiterbewegung nicht müde geworden sei, zu betonen, eine "Karikatur des Wahlrechtes" gewesen, "und es war ganz natürlich, dass der Verlauf der politischen Dinge in Österreich von 1897 bis heute nicht dazu geeignet war, das ohnehin niemals sehr in hohem Ansehen stehende österreichische Parlament etwa in einen besseren Geruch zu bringen."
Die Geschichte des österreichischen Parlaments sei die Geschichte der "fortwährenden, beständigen und unaufhörlichen Vernachlässigung der Interessen des Volkes, ja geradezu des beständigen Verrats der Interessen des Volkes". Und wie habe es auch anders sein können angesichts der Komposition des Hauses, "in einem Parlamente, in dem die Stimme der breiten Massen des Volkes und insbesondere der industriellen Arbeiterschaft so gut wie niemals gehört wurde"?
Und gerade darum müsse es seine Partei mit Genugtuung erfüllen, das nun endlich mit der Beratung einer echten Wahlreform begonnen werde. Dabei freilich solle sich das Haus bewusst sein, dass der Entwurf, so wie er dem Hause vorliege, beileibe nicht die Erfüllung der Wünsche der Sozialdemokratie sei, doch seine Partei akzeptiere sie "als einen Fortschritt zur endlichen Grundlegung der Demokratie". Denn "die Demokratie, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist für uns der Zustand, in dem erst die wirkliche Betätigung der Kräfte des Volkes möglich ist."
Mit dieser Reform werde endlich die Bahn freigemacht, endlich die größten Steine und Klötze aus dem Wege geräumt, werde auch der Grundstein gelegt zur Lösung der nationalen Frage, urteilte Pernerstorfer. Würden erst einmal echte Volksvertreter im Parlament Platz nehmen, so werde "auch die Möglichkeit sein, dass die Nationen hier im Hause in unmittelbarer Berührung miteinander endlich auch den natürlichen Weg zur Verständigung finden, ohne die Österreich nun einmal nicht existieren kann".
Über die Entwicklung, wie sie nun im Begriff sei, stattzufinden, empfinde seine Fraktion daher "Freude und Genugtuung", sodass er sagen könne: "Wir sind für die sehr dringliche Behandlung der Wahlreform."
Formanek: Auf die Allgemeinheit der Wahl wird die Gleichheit folgen
Als dritter Redner ergriff der tschechische Volkssozialist Emanuel Formanek (1869-1929) das Wort. Formanek war Prager Universitätsprofessor für Medizin und wurde nach dem Ersten Weltkrieg Dekan der Medizinischen Fakultät der Prager Karls-Universität.
Formanek sprach zunächst in tschechischer Sprache und fuhr dann auf Deutsch fort. Er beklagte, dass es für dieses Klassenparlament traurig sei, die Wahlreform nur auf dem Wege eines Dringlichkeitsantrages auf die Tagesordnung bringen zu können. Es sei weiters zu beklagen, "dass diese Wahlreform, welche bezweckt, im Interesse der arbeitenden und erzeugenden Bevölkerung die bisherigen Privilegien zum Teile abzuschaffen, noch so viele öffentliche und geheime Gegner hat, welche glauben, diese Wahlreform verhindern zu können." Doch es gebe keine Macht auf der Welt mehr, welche diese Reform verhindern könne, "und darum ist es nötig, dass sie dringlich behandelt werde".
Noch im November 1905 habe es niemanden gegeben, fuhr Formanek fort, der sich gegen das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ausgesprochen habe. Doch offenbar werde seine Einführung seitdem systematisch verzögert. Dies geschehe vor allem durch jene Kräfte, die durch die Wahlreform Privilegien einbüßen würden. Der Entwurf selbst sei noch mit vielen Mängeln behaftet, doch er, Formanek, zweifle nicht daran, dass diese über kurz oder lang gleichfalls beseitigt werden können, so wie im Wege der Wahlreform die bestehenden Ungleichheiten beseitigt würden. Mit dieser Reform komme die Allgemeinheit der Wahl, mit der Zeit werde auch die Gleichheit kommen.
Es stehe zu hoffen, dass eine solche Reform alsbald auch in Ungarn zum Durchbruch gelangen werde, denn ihre Vorteile lägen auf der Hand. "Wenn der Staat mit dieser Wahlreform sich annähern wird der Gerechtigkeit für die erzeugenden und arbeitenden Schichten der Bevölkerung, so wird auch die annähernde Gerechtigkeit allen Völkern und somit auch unserem Volke zu teil. Darum werden wir für die Dringlichkeit stimmen."
Nach weiteren Wortmeldungen durch die Abgeordneten Karl Chiari (1849-1912), Boleslav Placek (1848-1908) und Wilhelm Ryba wurden die Verhandlungen auf den 7. November 1906 vertagt. (Schluss)
Hinweis: Die Parlamentskorrespondenz bringt in loser Folge Berichte über den Weg des Parlaments zur Wahlrechtsreform. Bisher erschienen Beiträge am 19. Jänner (PK Nr. 31/2007), am 26. Jänner (PK Nr. 41/2007) und am 13. März 2007 (PK Nr. 162/2007). Die Serie wird fortgesetzt.