Parlamentskorrespondenz Nr. 166 vom 15.03.2007

Das Abgeordnetenhaus beschließt die Dringlichkeit der Wahlreform

Am 7. November 1906 ging die Dringlichkeitsdebatte kurz nach Mittag in die finale Phase. Den Reigen jener Redner, die nun noch das Wort ergriffen, ehe über den Antrag zur Dringlichkeit abgestimmt werden würde, eröffnete der slowenische liberale Abgeordnete Ivan Tavcar (1853-1923), der in jenen Tagen vor allem als Schriftsteller weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war und ab 1912 als Bürgermeister von Ljubljana für den prunkvollen Aus- und Umbau der slowenischen Hauptstadt – für den vor allem der Architekt Joze Plecnik steht – sorgen sollte.

Tavcar: Wahlreform ja, aber richtig

Tavcar bekräftigte eingangs seiner Wortmeldung, dass die Liberalen sich stets und mit Nachdruck für das allgemeine und gleiche Wahlrecht "mit vollem Herzen" eingesetzt hätten, dies übrigens zu einer Zeit, da die Klerikalen von einem solchen Schritt noch nichts hätten wissen wollen, doch erfülle das vorliegende "Machwerk" nicht einmal annähernd den behaupteten Zweck, weshalb seine Fraktion sich mit ganzer Kraft dafür einsetzen werde, dass dieses "nicht Gesetzeskraft erlange".

Genau aus diesem Grunde müsse er sich auch der Dringlichkeit des besagten Entwurfs verweigern, denn dieser sei so umfassend verbesserungsbedürftig, dass er in Ruhe beraten werden müsse. Die Befürworter der Dringlichkeit hätten denn auch kein stichhaltiges Argument für die dringliche Behandlung der Vorlage vorzubringen gewusst. Allein der Zeitfaktor sei ins Spiel gebracht worden: "Diesen Standpunkt kann ich nicht teilen. Ich sage, ein Gesetz, wenn es dringlich behandelt sein will und sein soll, muss die Gründe für diese Dringlichkeit in sich selbst haben. Das Gesetz als solches muss eine solche Natur haben, dass seine dringliche Behandlung gerechtfertigt erscheint."

Zeitumstände könnten unmöglich die Dringlichkeit im Sinne der Geschäftsordnung begründen, denn sonst könnte man auf diese Weise auch das Budget durchpeitschen, fuhr Tavcar fort: "Sie könnten jedes Mal sagen, die Zeit ist so knapp, das Gesetz ist infolgedessen dringlich." Mit einer solchen Vorgangsweise werde man dem Wesen des Parlamentarismus nicht gerecht, warnte der Redner, der es auch kritikwürdig fand, dass im Ausschuss der Berichterstatter beauftragt worden war, binnen 24 Stunden einen Bericht über die Verhandlungen zu verfassen: "Denn an und für sich kann ein solcher Bericht, wenn er ernsthaft und entsprechend verfasst sein soll, in 24 Stunden nicht verfasst werden. Das liegt auf der Hand. Nun ist es aber eine offenkundige Sache, dass der Bericht nicht von Herrn Dr. Löcker, sondern von der Regierung verfasst wurde. Das ist auch eine solche Sache, die nur im österreichischen Parlamente stattfinden kann. Nirgends in der Welt wird sich in einem Volkshause ein Mann dazu hergeben, als Marionette der Regierung zu fungieren und seine Unterschrift unter ein Machwerk der Regierung setzen."

Es habe sich gezeigt, so Tavcar, dass der Bericht bereits in Druck gegeben worden war, als im Ausschuss die Verhandlungen noch in vollem Gang gewesen seien. Dieser Umstand sei höchst aufklärungswürdig, meinte Tavcar, der sodann auf die Dringlichkeit zurückkam. Seines Erachtens könne diese nur dann gegeben sein, wenn sie in der Natur des Gesetzes selbst begründet sei. Es könne also nur ein gutes, nützliches Gesetz dringlich sein, "und es ist selbstverständlich, dass ein Gesetz, welches nachteilig wirken muss, welches keine guten Folgen nach sich ziehen wird, der Natur der Sache nach niemals dringlich sein kann." Der gegenständliche Entwurf sei derart mit Fehlern und Nachteilen behaftet – nicht zuletzt für die Slawen -, dass er eher der dringenden Überarbeitung als der dringenden Behandlung bedürfe, konstatierte Tavcar.

Der Redner brachte seine Ansicht anhand eines Beispiels auf den Punkt: "Schauen sie nach England! Wie viel Zeit ist dort zwischen einer Reformbill und der anderen verflossen und wie gründlich wurde die Sache behandelt! Darum sage ich: Dieses Gesetz, welches so tief in das Leben des Volkes und der Völker eingreifen wird, dieses Gesetz ist an und für sich nicht ein solches, das durchgepeitscht werden dürfte."

Wer sich also auf die Seite der Dringlichkeit stelle, der stelle sich auf die Seite der Oberflächlichkeit und des Flickwerks, "und dass das nicht angeht, dass das eines Parlamentes nicht würdig ist, das werden Sie mir doch zugeben." Es gebe im politischen Leben Grundsätze, die niemals verletzt werden dürften, erinnerte der Redner, und so könne er einer Wahlreform, die zu Lasten seines Volkes gehe, die Zustimmung nicht geben.

In diesem Zusammenhang wies Tavcar auch darauf hin, dass die Reform große Nachteile für die Slawen im allgemeinen und für die Kärntner Slowenen im besonderen nach sich ziehen werde, ja konkret einer "Exekution der Kärntner Slowenen" gleichkomme, weil mit der geplanten Einteilung der Wahlkreise eine deutschnationale Dominanz festgeschrieben werde und das slowenische Volk entscheidend schwäche: "Diesen Volksraub, den die Wahlreform in Kärnten inszeniert, können wir niemals gutheißen und wenn sie sich an diesem Verbrechen beteiligen wollen, wir werden uns nicht daran beteiligen und wir werden in dem Bewusstsein nach Hause gehen, dass wir als Slawen und als Slowenen unsere Pflicht erfüllt haben, wenn wir gegen diese Wahlreform protestiert haben. Ich werde gegen die Dringlichkeit stimmen."

Kramar: Die Pflicht gegen die Nation

Vor allem die Kritik, die Wahlreform werde sich zu Lasten der Slawen auswirken, veranlasste den jungtschechischen Abgeordneten Karel Kramar (1860-1937), der 1918 der erste Ministerpräsident der unabhängigen Tschechoslowakei werden sollte, zu einer Replik. Man habe sich mitnichten zu faulen Kompromissen herbeigelassen, habe sich mögliche Nachteile der Reform auch nicht durch einen Kompromiss in Bezug auf die Wahlkreiseinteilung in Böhmen abkaufen lassen. Man habe vielmehr den politischen Standpunkt der Tschechen "offen, loyal und aufrichtig im Wahlreformausschuss" vertreten. Das nehme er auch für sich in Anspruch: "Ich habe nie die Verantwortlichkeit gescheut."

Kramar unterstrich daher nochmals die Position seiner Partei: "Wir scheuen keine Verantwortung, denn das, was wir tun, tun wir im Bewusstsein unserer Pflicht gegen unsere Nation. Wir können uns irren, wir können vielleicht fehlgehen, aber es gibt nichts, warum wir uns fürchten müssten, vor unser Volk zu gehen und ihm offen und ehrlich zu erklären, was wir gemacht haben."

Klofac: Immer aufrichtig für das allgemeine Wahlrecht

Als letzter ergriff der Volkssozialist Vaclav Klofac (1868-1942) das Wort, der unter Premier Kramar 1918/19 Verteidigungsminister der Tschechoslowakei sein sollte. Er erklärte kurz und bündig, seine Partei sei "ja immer für das allgemeine und gleiche Wahlrecht" gewesen: "Ich brauche es also niemandem erst zu sagen, dass wir aufrichtig für das allgemeine und gleiche Wahlrecht sind." Der Dringlichkeitsantrag diene demnach dazu, "Verbesserungen zu Gunsten unserer Nation im allgemeinen und unseres Arbeiterstandes im besonderen zu erzielen. Das war unser Ziel." Insofern sei der Dringlichkeitsantrag eine Waffe, diese Verbesserungen zu erzwingen, betonte Klofac.

Nun sei es aber dahin gekommen, dass der Dringlichkeitsantrag seiner Partei zugunsten jenes der Christlichsozialen vom Präsidenten zurückgestellt wurde. Im Gegensatz zum Antrag der Volkssozialisten, der auch auf konkrete Verbesserungen für die tschechische Nation Bedacht genommen hätte, verzichteten die Christlichsozialen auf jede mögliche Verbesserung der Vorlage, was er, Klofac, nicht akzeptieren könne. Seine Partei werde vielmehr auch weiterhin energisch dafür eintreten, die Schwächen des Entwurfs zu überwinden: "Wir proklamieren also, dass wir als die besten Freunde des allgemeinen Wahlrechts in dem Kampfe beharren, dass wir fortwährend für Verbesserungen dieser Wahlreform arbeiten und kämpfen werden."

Nach der Wortmeldung des Abgeordneten Klofac schritt das Haus zur Abstimmung über den Dringlichkeitsantrag. Dieser wurde mit 227 gegen 46 Stimmen angenommen, was "stürmischen Beifall und Händeklatschen" hervorrief, wie das stenographische Protokoll vermerkt. Der den Vorsitz führende Vizepräsident Kaiser unterbrach hierauf die Sitzung für eine halbe Stunde und meinte: "Ich bitte jene Herren, welche sich in die Rednerliste für die Generaldebatte einzeichnen wollen, sich sofort in den Präsidialsalon zu begeben." Nur wenig später sollte die Generaldebatte um die Wahlreform beginnen. (Schluss)

Hinweis: Die Parlamentskorrespondenz bringt in loser Folge Berichte über den Weg des Parlaments zur Wahlrechtsreform. Bisher erschienen Beiträge am 19. Jänner (PK Nr. 31/2007), am 26. Jänner  (PK Nr. 41/2007), am 13. März (PK Nr. 162/2007)und am 14. März 2007 (PK Nr.164/2007). Die Serie wird fortgesetzt.