Parlamentskorrespondenz Nr. 458 vom 12.06.2007

Wahlreform 1907: Die Debatte im Speziellen

Wien (PK) – In unserer Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen wir heute einen weiteren Beitrag über die große Debatte zur Wahlreform vor 100 Jahren. In unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik neben den Beiträgen über den figuralen Schmuck am und im Parlament historische Reportagen über Reden, die Geschichte machten sowie über den Weg zur Wahlreform des Jahres 1907.

Nachdem das Abgeordnetenhaus am 9. November 1906 den Antrag auf Schluss der Debatte angenommen hatte, legten in der folgenden Sitzung am 12. November 1906 je ein Redner pro und contra noch einmal die Standpunkte der beiden Seiten dar, ehe in die Spezialdebatte zur Wahlreform eingegangen werden sollte. Vor der diesbezüglichen Abstimmung freilich rief der Präsident des Hauses noch einige "tatsächliche Berichtigungen" auf, die teilweise für erregte Gemüter sorgten.

Als erster fühlte sich Graf Sternberg zu einer Klarstellung bemüßigt. Er berichtigte tatsächlich, "kein fahrender Geselle" zu sein, wie ihm der Abgeordnete Suklje vorgeworfen habe. Doch schnell wurde klar, dass es Sternberg um etwas ganz anderes ging. Er warf der Krone vor, sich im November des Jahres 1905 mit der Sozialdemokratie gegen das Parlament verbündet zu haben, wonach "die Sozialdemokraten sich verpflichten, die Hofburg zu verschonen und hier das Parlament zu bedrohen", was durch Auflaufe vor dem Parlamentsgebäude, zumal an Sitzungstagen, was ja gesetzlich verboten sei, geschehe. Von einer tatsächlichen Berichtigung waren diese Worte freilich weit entfernt, wenig verwunderlich, dass Sternberg vom Präsidenten einen Ordnungsruf erhielt.

Nachdem Abgeordneter Sustersic tatsächlich einen Sachverhalt berichtigt hatte – er bezog sich dabei auf die Darstellung eines Presseprozesses -, ergriff Abgeordneter Suklje zu einer weiteren tatsächlichen Berichtigung das Wort. Ihm war während der Debatte vorgeworfen worden, als kaiserlicher Beamter im "besten Mannesalter pensioniert" worden zu sein und, wiewohl er erst Mitte 50 sei, eine stattliche Pension zu beziehen, die weit höher ausfalle als es ihm ob seiner Dienstjahre zustehe. Suklje erklärte, er sei ob privater Gründe selbst um seine Pensionierung eingekommen und habe keinen einzigen Gulden mehr bezogen als ihm zustünde. Gegen derlei unhaltbare Behauptungen müsse er sich ergo entschieden verwahren. Schließlich meldete sich auch noch der slowenisch-klerikale Abgeordnete Friedrich Ploj (1862-1944) und betonte, er müsse mitnichten das Tageslicht scheuen. Die Anspielungen, die an dieser Stelle gegen ihn vorgebracht wurden, entbehrten jeder Grundlage und könnten nur auf üblen Verleumdungen beruhen. Er fordere daher den Abgeordneten Stein, der sich solcherart gegen ihn, Ploj, vernehmen habe lassen, auf, sich unmissverständlich zu erklären und dabei auch jene Quellen zu nennen, auf denen seine Verdächtigungen basierten.

Nun meldete sich Franz Stein (1869-1943), alldeutscher Mandatar für Cheb (Eger), der eben noch als Generalredner aufgetreten war, zu einer persönlichen Erwiderung. Dem Abgeordneten Sustersic hielt er entgegen, der in Rede stehende Prozess habe nur deshalb für Sustersic einen günstigen Verlauf genommen, weil der Widerpart verstorben sei. Wie es auch immer um den Prozess stehe, an Sustersic sei nichts ehrlich: "Sie sind durch und durch ein Komödiant und Schuft."

An dieser Stelle bemühte sich der Präsident, gegen Stein einzuschreiten, doch dieser ließ sich nicht beirren und fuhr fort, sich nun Suklje zuwendend. Dieser habe nur deshalb um seine Pensionierung angesucht, weil er ob seines Fehlverhaltens als Beamter für die Regierung nicht länger tragbar gewesen sei: "Es ist der Gnadenstoß, der so manchem korrupten Menschen von dieser und auch von anderen Regierungen schon erteilt wurde." Ploj wiederum warf er vor, sich in Obdach in der Steiermark an einem minderjährigen Mädchen ein "Sittlichkeitsattentat" zu Schulden kommen gelassen zu haben. Seine Ehefrau habe ihn daraufhin binnen 15 Minuten des Hauses verwiesen und die schuldhafte Scheidung veranlasst, die Ploj akzeptiert habe, weil er sonst dem Staatsanwalte übergeben worden wäre.

Die Wogen gingen hoch, der Präsident drohte mit Wortentzug, Stein gefiel sich in pathetischer Pose: "Ehrenmänner sind sie alle", sagte er in Richtung der von ihm angefeindeten Mandatare, "und auch Brutus war ein Ehrenmann. Ich habe mich schon zu lange mit ihrer Gesellschaft beschäftigt, ich muss hinausgehen, mir die Hände waschen". Wie ein Bühnenmime ging Stein ab, begleitet von stürmischen Beifalls- und Missfallenskundgebungen seitens der übrigen Abgeordneten. Der Präsident hatte Mühe, die Ruhe wieder herzustellen. Letztlich kam der Antrag, in die Spezialdebatte einzugehen, zur Abstimmung und fand die erforderliche Mehrheit.

Die Debatte sollte in vier Blöcken abgewickelt werden. Nach den Präliminarien stand das Wahlgesetz selbst in Rede, sodann die Reichsratswahlordnung und schließlich die Wahlkreiseinteilung. Mit der Spezialdebatte sollte am Folgetag begonnen werden.

Die Diskussion über die Eingangsfloskeln des Gesetzes verlief im wesentlichen ohne größere Überraschungen, erst die eigentlich relevanten Teile der Vorlage stießen wieder auf erhöhtes Interesse der Abgeordneten, stand doch der Paragraph 7 des Gesetzes in Rede, welcher die Einschränkungen vom Wahlrechte regelte. Am Vormittag des 14. November 1906 begann Victor Adler als erster Redner die diesbezügliche Debatte.

Adler: Bindung des Wahlrechts an die Sesshaftigkeit nicht fair

Adler monierte neuerlich des Passus, wonach nur wahlberechtigt sein könne, wer mindestens ein Jahr am selben Orte sesshaft sei. Diese Passage richte sich voll und ganz gegen das Proletariat, beklagte Adler, zumal die für dieses Vorgehen vorgebrachte Erklärung, die Verwaltung benötige diese Frist zur Erstellung der Wählerlisten, natürlich nicht verfange: "Wenn sie bloß konstatieren müssen, ob ein Mann 24 Jahre alt und ein Österreicher ist, so lässt sich das leichter und mit einem geringeren Apparat konstatieren, als wenn sie auch noch die Bedingung hineinnehmen, dass er ein Jahr oder ein halbes Jahr an demselben Orte wohnhaft sein muss."

Im übrigen beweise Deutschland, dass man dieses Problem wesentlich eleganter und effizienter lösen könne: "In Deutschland hat jedermann das Wahlrecht in der Gemeinde, in welcher er zur Zeit der Ausschreibung der Wahlen wohnt." Eine solche Vorgangsweise sollte wohl auch in Österreich möglich sein, erklärte Adler.

Der Redner verwies jedoch auf einen weiteren Punkt. Es gebe eine Vielzahl an Arbeitern, die nicht aus eigenem Antrieb der Arbeit hinterher reisten, sondern ihrem Brotherrn Folge leisten müssen. Die Schneider, Schuster, Diener, die sich im Gefolge eines Adeligen befänden, dem es gefalle, die milden Winter im Süden zu suchen, während er sich im Frühjahr in Wien zeige, um den Sommer über auf seine Güter in Nordböhmen zu retirieren. Und dieses Verhalten des Adels, der ohne seine dienstbaren Geister ja gar nicht existieren könne, treffe bei weitem nicht nur die Arbeiterschaft. Auch der Hauslehrer müsse mit auf diese Wanderschaft und gleichfalls der Arzt, "der im Winter in Wien und im Sommer in Karlsbad seine Praxis ausübt".

Von welcher Seite man auch immer die Angelegenheit betrachte, das Einziehen einer bestimmten Zeit der Sesshaftigkeit sei keinesfalls gerecht und entziehe zehn Prozent der Wählerschaft willkürlich das Wahlrecht. Die Sozialdemokraten könnten dies nicht hinnehmen, schloss Adler, weshalb man einen Abänderungsantrag einbringe, wonach der Passus hinsichtlich der Sesshaftigkeit aus dem Gesetzestext gestrichen werden soll.

Choc: Einmal mehr für das Wahlrecht der Frau

Nach Adler meldete sich Vaclav Choc neuerlich zu Wort, und abermals war es ihm um das Frauenwahlrecht zu tun. In Böhmen gebe es schon einige Jahre eine starke Bewegung, welche dieses Wahlrecht mit der größten Entschiedenheit verlange. Und er selbst sei "der festen Überzeugung, dass die Frauen bei dem allgemeinen Wahlrecht berücksichtigt werden müssen".

Er appellierte an das Haus, auf die Frauen nicht zu vergessen: "Wenn sie von einer Allgemeinheit des Wahlrechtes reden, so müssen sie gewiss zugeben, dass die Frau dabei nicht auszulassen ist." Bliebe es allein bei einem Wahlrecht für Männer, so habe man immer noch ein Privilegienwahlrecht wie es jenes der Kurien sei. Wenn man aber behaupte, es sei einem um den Volkswillen zu tun, so müsse man doch konstatieren, dass die Frauen selbstredend auch Teil des Volkes seien, ihr Wille also gleichfalls Ausdrucksmöglichkeit im Wahlgange haben müsse.

Choc wurde deutlich: "Wenn sie beim allgemeinen Wahlrechte auch dem Analphabeten, der das 24. Lebensjahr erreicht hat, das Wahlrecht geben, so können sie die Frauen doch nicht unberücksichtigt lassen." Als konkretes Beispiel nannte er eine verwitwete Bäuerin, die ihre Wirtschaft führe, ihre Kinder großziehe und ihre Familie erhalte. Könne es rechtens sein, ihr das Wahlrecht vorzuenthalten, während ihr 24jähriger Knecht zur Wahl gehen dürfe. Und derartige Beispiele gebe es viele, verwies Choc weiters auf Handwerkerinnen, Händlerinnen und ganz allgemein auf die Vielzahl berufstätiger Frauen, die ihren Beitrag leisteten, ohne dass dies beim Wahlrecht Berücksichtigung fände.

Doch die Zeichen der Zeit seien nicht länger zu übersehen. Frauen übernähmen immer stärker immer zentralere Rollen, die sozialen Verhältnisse geböten es daher, den Frauen das Wahlrecht einzuräumen. An dieser Erkenntnis werde in der Zukunft kein Weg mehr vorbeiführen, schloss Choc, der einen diesbezüglichen Antrag einbrachte, wobei er darauf verwies, dass Frauen in Amerika, Australien und Finnland das Wahlrecht bereits besitzen würden. Ziehe Österreich an dieser Stelle nicht nach, so könne es nicht den Anspruch erheben, "ein fortschrittlicher, ein Kulturstaat zu sein."

Schuhmeier: Erworbene Rechte nicht antasten

Als nächster Redner setzte der Sozialdemokrat Franz Schuhmeier (1864-1913) puncto Sesshaftigkeit nach. Er unterstrich die Argumente seines Parteivorsitzenden und verwies darauf, dass die Herrschenden sich gar nicht erst dieses Instrumentariums bedienen müssten, schließlich gebe es auch so eine ganze Menge Möglichkeiten, Arbeiter um ihr Wahlrecht zu bringen.

Konkret beklagte der Mandatar, dass Arbeiter vorsätzlich beim Erstellen der Wählerlisten übersehen worden seien oder dass man ihnen Wahlzettel bereits ausgefüllt ausgehändigt habe – in Gegenwart ihres Arbeitgebers, der so persönlich beobachtet habe, wie der jeweilige Arbeiter mit diesem präparierten Stimmzettel verfahre. Schließlich habe es auch Fälle gegeben, erklärte Schuhmeier unter Vorlage entsprechender Beweise, in denen Wähler durch Bier und Gulyas nachgerade bestochen worden waren, für einen bestimmten Kandidaten zu stimmen.

Gegen derartiges Vorgehen verwahre sich seine Partei auf das Schärfste. Aus prinzipiellen Gründen und aus Gründen der Gerechtigkeit protestiere man auf das Schärfste gegen solche Machinationen. Die Regierung habe erklärt, erworbene Rechte würden nicht angetastet, durch die Einführung einer Sesshaftigkeit wäre dies jedoch sehr wohl der Fall. Seine Partei werde daher gegen diesen Passus stimmen, schloss Schuhmeier.

Pernerstorfer: Das Wahlalter senken

Nun erklomm sein Fraktionskollege Engelbert Pernerstorfer (1850-1918) die Rostra. Er lenkte die Aufmerksamkeit des Hauses auf das geplante Wahlalter. Das Gros der Proletarier müsse sich schon mit 16, 17 Jahren selbst erhalten und sei daher sehr wohl in der Lage, politische Entscheidungen zu treffen. Konkret sagte er unter deutlicher Anspielung auf die seinerzeitige Thronbesteigung durch Franz Joseph: "Wir sehen nicht ein, warum eventuell ein Thronfolger mit 18 Jahren sich schon alle möglichen Fähigkeiten zum Beherrschen eines großen Reiches erworben, aber ein 20jähriger Arbeiter noch nicht so viel Verständnis haben soll, um zu wissen, wen er wählen soll."

Auch sei nicht einzusehen, warum Frauen vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben sollten. Pernerstorfer zitierte Fichte – von der Gleichheit all dessen, was Menschenangesicht trägt – und meinte, Frauen bewiesen täglich auf mannigfache Weise, dass sie sehr wohl in der Lage seien, politisch zu handeln. Sie stünden Männern in nichts nach, weshalb es nur recht und billig sei, ihnen neben Pflichten eben auch Rechte einzuräumen. Die Frau müsse in das politische Leben hineingelassen werden, alle fortschrittlich gesonnenen Länder hätten dies bereits erkannt: "Und diese Notwendigkeit wird sich immer mehr erweisen", erklärte der Redner.

Seine Partei vertrete die Forderung nach der Gleichberechtigung der Frau seit ihrer Gründung und werde dies auch weiterhin mit aller Entschlossenheit tun. Sobald man die Möglichkeit habe, werde man den Frauen Gelegenheit zur "Entfaltung aller ihrer Begabungen und Talente auch nach dieser Richtung" geben, kündigte Pernerstorfer an, der meinte, bis die Frauen das Wahlrecht erhielten, würden sie in den Sozialdemokraten die "wärmsten Anhänger und Freunde haben", welche die Interessen der Frauen zu wahren wüssten.

Nach Pernerstorfers Rede wurden die Verhandlungen auf den 16. November 1906 vertagt.

Hinweis: Über den Weg zum neuen Wahlrecht siehe die PK-Ausgaben mit den Nummern 31, 41, 162, 164, 166, 293, 420 und 427. (Schluss)