Parlamentskorrespondenz Nr. 466 vom 14.06.2007

1907: Die Wahlreform kreist um die Wahlkreise

Wien (PK) – In unserer Rubrik "Entdeckungen und Begegnungen" bringen wir heute einen weiteren Beitrag über die große Debatte zur Wahlreform vor 100 Jahren. In unregelmäßiger Folge erscheinen in dieser Rubrik neben den Beiträgen über den figuralen Schmuck am und im Parlament historische Reportagen über Reden, die Geschichte machten sowie über den Weg zur Wahlreform des Jahres 1907.

Am 17. November 1906 wurde im Abgeordnetenhaus die Spezialdebatte zur Wahlreform fortgesetzt. Erstmals befasste man sich nun auch mit der Frage der Wahlkreiseinteilung, die schon im Rahmen der Generaldebatte für Kontroversen gesorgt hatte. Julian Romanczuk (1842-1932), Lemberger Gymnasialprofessor und anerkannter Frontmann der ruthenischen Nationaldemokraten, der 1910 zum Vizepräsidenten des Hauses avancieren sollte, stieß sich vor allem am Verhalten des Polenklubs in der Wahlreformdiskussion.

Romanczuk: Prinzip Gerechtigkeit statt egoistischer Parteiinteressen

Dieser habe einmal mit den Slawen gegen die Deutschen und einmal mit den Deutschen gegen die Slawen paktiert, bloß mit dem Ziel, für sich selbst den größtmöglichen Gewinn zu erzielen: "So haben sie gegen den Willen der Mehrheit des Landes, und nur in ihrem Parteiinteresse zur Sicherung und Festigung ihrer Herrschaft im Lande, eine sehr eigentümliche Wahlkreiseinteilung, die Institution der Ersatzmänner, die Vereinigung kleinerer und mittlerer Gemeinden zu Gruppenwahlorten und schließlich noch eine Erweiterung der Landesautonomie den Regierungen und den Parteien abgepresst."

Dies sei umso befremdlicher, als in Galizien seit 46 Jahren der Polenklub unumschränkt herrsche, monierte der Redner, der die Befürchtung hegte, durch die hier zu fällenden Beschlüsse werde diese Herrschaft prolongiert werden.

Daher wende er sich an die konstruktiven Kreise im Hause, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten: "Es gibt vielleicht doch noch Parteien und Abgeordnete, welche neben dem egoistischen Parteiinteresse das allgemeine Wohl und das Prinzip der Gerechtigkeit nicht ganz außer acht lassen." Diese mögen "die drei Millionen galizischer Ruthenen und auch Millionen polnischer Bauern nicht der Übermacht und Willkür einer im Lande zu dessen Nachteil herrschenden Partei noch mehr ausliefern, als diese bis jetzt schon ausgeliefert waren."

Daszynski: Wahlreform auch in den Landtagen verwirklichen

Ignacy Daszynski (1866-1936), der bis zu Adlers Wahl ins Abgeordnetenhaus im Jahr zuvor Klubobmann der Sozialdemokraten gewesen war und nach dem Ersten Weltkrieg der erste Ministerpräsident des neuen Polen werden sollte, lenkte die Aufmerksamkeit des Hauses auf eine weitere Facette der Diskussion. Die Wahlreform beschränke sich auf den Reichsrat, in den Landtagen aber blieben die alten Privilegien bestehen.

Für Galizien bedeute dies, das die alten Strukturen perpetuiert und weiter verfestigt würden. Die Wahlen in den Landtag seien auch weiterhin nicht allgemein, nicht gleich, nicht direkt, der Landtag würde von 2.000 Großgrundbesitzern ob ihrer Wahlrechtsprivilegien beherrscht, während eine Million erwachsener Männer – von den Frauen ganz zu schweigen – gar kein Wahlrecht habe: "Wir sprechen unsere Überzeugung aus, dass die wahre Autonomie der Völker und ihrer Länder nur durch das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht in alle gesetzgebenden Körperschaften und durch den Schutz der nationalen Minoritäten ihre Verwirklichung finden kann."

Seitz: Eine Lanze für die einzig mögliche Gleichheit im Wahlrecht

Bei Fortsetzung der Debatte am 20. November 1906 kam nun der Floridsdorfer Mandatar Karl Seitz (1869-1950) zu Wort, der 1918 bis 1920 als österreichisches Staatsoberhaupt und 1923 bis 1934 als Wiener Bürgermeister wirken sollte. Er zeigte Verständnis für die Klagen der Ruthenen und forderte vom Polenklub, dem "in dieser Wahlreform so viele Vorteile gesichert sind", bei dem "so ängstlich darauf Bedacht genommen wurde, dass er in seiner gegenwärtigen Gestalt erhalten bleibt und dass der politische Einfluss des Polenklubs nicht geschwächt wird", "etwas mehr Nachgiebigkeit" gegenüber den Ruthenen zu zeigen.

Nachdem sich Seitz mit der Frage der Wahlpflicht auseinandergesetzt hatte, brach er neuerlich eine Lanze für das gleiche Wahlrecht, womit er jenen Mandataren eine klare Absage erteilte, die dem alten Kurienwahlrecht nachtrauerten und für gewisse Bevölkerungsgruppen ein mehrfaches Stimmrecht eingemahnt hatten. Dies sei ja die Kernfrage dieser Reform: "Der einzige Sinn dieser ganzen Aktion, mit der wir uns jetzt ein ganzes Jahr beschäftigen, die im Brennpunkte des politischen Interesses steht, ist eben das gleiche Wahlrecht für alle Staatsbürger", und er sei überzeugt, dass das Haus "trotz der hinterhältigen Anschläge, die hier versucht wurden", sich nicht beirren lassen und "für die einzig mögliche Gleichheit" eintreten werde.

Wer also in diesem Lichte immer noch für ein Wahlrecht mit Pluralstimmen votierte, der wolle die Wahlreform als solche verunmöglichen, warnte Seitz: "Wer diese Reform vernichten will, hat heute nur ein Mittel, nämlich für die Pluralität zu stimmen." Er appelliere daher auch an die bürgerlichen Mandatare, sich der Tragweite dieser Frage bewusst zu sein: "Sie müssen gegen die Pluralität sein vom Standpunkte der bürgerlichen Interessen, besonders aber vom Standpunkte des patriotischen Österreichers. Sie müssen, weil sie nicht anders können, weil sie gar nicht abschätzen könnten, welche Konsequenzen jetzt das Scheitern der Wahlreform – und nichts anderes wäre es – heute nach sich ziehen könnte."

Zur Ablehnung der Pluralität zwinge die bürgerliche Seite nicht etwa eine Drohung der Sozialdemokratie: "Was sie wirklich zwingt, die Pluralität abzulehnen, das gleiche Recht zu schaffen, ist nicht die Furcht vor der Sozialdemokratie, es ist die Furcht vor der Ruine dieses Staates, die Furcht vor dem Zusammenbruche dieses Staates, der unausbleiblich wäre." Ein Zurück könne es an dieser Stelle nicht mehr geben, und so werde das Haus am Ende des Tages erleben, "dass die Vertreter der revolutionären Sozialdemokratie ein und dasselbe wollen wie die Vertreter der konservativsten, patriotischen und dynastischen Parteien, dass Bürgertum, Arbeiterschaft und Bauernschaft eines und dasselbe wollen muss, was heute eben unausbleiblich ist: die Durchführung des allgemeinen und direkten, besonders aber die Durchführung des gleichen Wahlrechts".

Bienerth: Frage der Wahlpflicht den Ländern überlassen

Auf die Frage der Pluralität ging sodann Innenminister Richard von Bienerth (1863-1918) ein. Bienerth, der Enkel Anton von Schmerlings, war 1905 nach einer klassischen Beamtenkarriere als Unterrichtsminister erstmals Regierungsmitglied geworden. Ministerpräsident Beck hatte ihn sodann zum Innenminister berufen, welches Amt Bienerth bis 1908 bekleidete, ehe er selbst Ministerpräsident wurde, was er bis zu den Wahlen 1911 bleiben sollte.

Er wolle, begann Bienerth, die Stellung der Regierung zu dieser Frage darzulegen, wobei man aus dem Umstand, dass er in "splendid isolation auf dieser Bank" sitze, nicht schließen solle, es handle sich bei seinen Ausführungen um seine Privatmeinung. Die Regierung sei der Ansicht, dass sich die Pluralität "mit dem Prinzipe der Allgemeinheit des Wahlrechts schwer vereinbaren ließe". Es stehe vielmehr zu erwarten, dass die positiven Effekte, welche sich die Befürworter eines Pluralwahlrechts erhofften, gar nicht erst eintreten würden. Die Regierung spreche sich daher gegen ein solches Ansinnen aus, resümierte der Innenminister.

Sodann befasste sich das Regierungsmitglied mit der Frage der Wahlpflicht und hielt dabei fest, dass man einen Wähler zwar zwingen könne, vor der Wahlurne zu erscheinen, es ihm aber immer noch freistehe, einen ungültigen Stimmzettel abzugeben, womit er de facto nur eine Beteiligung an der Wahl vorschütze. Die Wahlbeteiligung an den Reichsratswahlen 1901 habe 36 Prozent betragen, wobei die Wahlbeteiligung in den Städten mit 64 Prozent deutlich höher gewesen sei als in den Landgemeinden, wo sie nur 30 Prozent betragen habe. Die unterschiedlichen Resultate dieses Wahlgangs legten, so Bienerth, den Schluss nahe, dass es sinnvoller sei, die Frage einer allfälligen Wahlpflicht den Ländern zu überlassen, denn "in diesem kleineren Kreise der Landtage wird es gewiss viel leichter sein, die maßgebenden Verhältnisse vollständig zu überblicken und die für und gegen die Statuierung dieser Verpflichtung sprechenden Gründe abzuwägen."

Korosec: Zur Wahl ist gerufen, der das Wohl des Staates fördern kann

Als nächster war der Anführer der Slowenischen Volkspartei Anton Korosec (1872-1940) zu Wort gemeldet, der nach dem Ersten Weltkrieg zum Premierminister Jugoslawiens aufsteigen sollte. Er meinte, die Verteilung politischer Rechte, insbesondere des Wahlrechts, erfolge nicht zu dem Zwecke der Belohnung für eine ruhmreiche Stellung, zum Zwecke der Auszeichnung des Grundbesitzes oder der Intelligenz, sie erfolge auch nicht, um vielleicht entstehende Unruhen zu vermeiden, "sondern der Zweck der politischen Rechte, insbesondere des Wahlrechts, ist der, dass das Volk zur Mitregierung herangezogen werde, damit es an seinem Wohle und dem Wohle seiner Mitbürger mitarbeite".

Zum Wahlrecht "ist daher jeder Staatsbürger berufen, der das Wohl des Staates will und fähig ist, dasselbe zu fördern", so Korosec, "und das ist das Kriterium, nach welchem die politischen Rechte zu verteilen sind".

Es könne kein Zweifel daran bestehen, dass alle zum Wohle des Staates beitragen wollten, und auch hinsichtlich des Könnens bestehe nur scheinbar ein Mangel: "Wir geben ja alle zu, dass nicht jeder Staatsbürger wissen kann, wie die Gesetze stilisiert werden sollen, wohl aber, was im Gesetze enthalten sein soll. Sie wissen allerdings nicht, wie zum Beispiel die verschiedenen Handelsverträge technisch durchgeführt werden, aber der Arbeiter, sowohl der industrielle als auch der landwirtschaftliche, weiß ganz gut, was in diesem Handelsvertrage geschützt sein soll."

Darum dürfe es keine "willkürliche politische Klassifizierung" geben, denn: "Jeder Mensch, welcher seine intellektuellen und körperlichen Kräfte der menschlichen Gesellschaft leiht und weiht, erfüllt seine soziale Aufgabe, mag er nun Grundbesitzer oder Knecht, Kapitalist oder Arbeiter, Gelehrter oder Ungelehrter sein." Man dürfe den Arbeiter nicht dafür bestrafen, "dass er als armer Schlucker auf die Welt" gekommen sei, oder dafür, dass die finanziellen Mittel nicht zu einer höheren Bildung reichten: "Auf diese Weise schaffen sie kein gerechtes Wahlgesetz, sondern ein politisches Strafgesetz." Es gebe daher nur eine einzige Lösung: "Geben sie den österreichischen Völkern das allgemeine und auch das gleiche Wahlrecht."

Nach Korosecs Wortmeldung wurden die Verhandlungen auf den 21. November 1906 vertagt.

Hinweis: Über den Weg zum neuen Wahlrecht siehe die PK-Ausgaben mit den Nummern 31, 41, 162, 164, 166, 293, 420, 427, 458 und 462.

(Schluss)