Parlamentskorrespondenz Nr. 478 vom 26.05.2008
Niemand kann zwei Herren dienen - außer Andorra
Wien (PK) - Beginnend am 7. Jänner 2008, hat die Parlamentskorrespondenz die Parlamente der 16 Teilnehmerländer der EURO 08 porträtiert. Wir bringen in der Folge – wieder jeweils am Montag – die Porträts der Parlamente der anderen europäischen Staaten von A wie Albanien bis Z wie Zypern. Heute: Andorra.
Die Charta des Volkes
Es begann mit der "Charta des Volkes" im Jahre 806. Alle andorranischen Männer, so heißt es darin, bräuchten keinem Souverän Steuern zu zahlen, hätten gemeinsam das Recht auf die unmittelbare Gerichtsbarkeit und seien im Besitz allen unkultivierten Landes innerhalb der Täler von Andorra. So schön dieser Text klingt, er hat einen Haken. Nein, es handelt sich bei der "Charta des Volkes" nicht um eine mittelalterliche Fälschung, wie es in jenen Zeiten viele gab. Vielmehr fehlt jeder Hinweis auf ein diesbezügliches Dokument als solches. Die Bewohner von Andorra waren Jahrhunderte lang klug genug, sich auf eine Urkunde zu berufen, die aller Wahrscheinlichkeit nach niemals existierte. Allein die Berufung auf Karl den Großen, der Andorra diese Charta gegeben haben sollte, genügte, um alle territorialen Begehrlichkeiten von spanischer oder französischer Seite abzuschmettern.
Doch mochte es auch möglich sein, der Weltlichkeit auf diese Weise die Stirn zu bieten, gegen die Kirche kamen auch die Andorraner nicht an. Die Diözese von Urgell, die Andorra schon seit 839 als unter ihre Zuständigkeit fallend ansah, setzte sich nach rund 200 Jahren juristischer und mitunter auch handgreiflicher Auseinandersetzungen gegen die Andorraner durch, die schließlich den Kirchenfürsten von Urgell am 31. Dezember 1199 Treue und Gefolgschaft schworen.
Die Kirche freilich ließ sich ihren neuen Besitz postwendend teuer vergüten. Sie trat gegen entsprechend große Münze den Herren von Caboet-Castellbo das Recht ab, in ihrem Namen über die Andorraner zu herrschen, und in Arnold I. (Arnau) hatten die Andorraner 1201 nun erstmals etwas, was sie bislang noch nie gekannt hatten: einen Landesherrn. Doch noch ehe Arnold eine Dynastie etablieren konnte, verschied er ohne männliche Erben, weshalb seine Besitztümer an seinen Schwiegersohn, Roger II., aus dem Haus der Grafen von Foix übergingen. Die Grafen von Foix freilich fühlten sich an das Lehensverhältnis zur Kirche nicht gebunden und strebten nach einem eigenen, kleinen Fürstentum in den Pyrenäen. Roger III. und Roger IV. führten einen regelrechten Krieg gegen die Bischöfe von Urgell, ehe sich zeigte, dass keine der beiden Seiten die andere dauerhaft würde überwinden können.
Und so kam Andorra 1278 zu jener Regelung, die den Staat auch heute noch bemerkenswert macht. Die Grafen von Foix und der Bischof von Urgell einigten sich darauf, Andorra gemeinsam zu regieren, als Ko-Fürsten sozusagen. Die Rechtsprechung, die Aushebung von Soldaten und die Festsetzung von Steuern oblag beiden Fürsten, und die Andorraner mussten nun gleich zwei Souveränen Tribut zollen.
1419 erste parlamentarische Vertretung
Für die nächsten 120 Jahre hatten die Andorraner zwar so manches Handelsprivileg, in ihrem eigenen Namen sprechen durften sie jedoch nicht. 1402 erhielten sie das Markt- und Stapelrecht, und so erschien es einem von ihnen, Andreas von Alas, folgerichtig, am Markttag auch Probleme administrativer und politischer Natur zu besprechen. Zudem, so Alas, wäre es sinnvoll, eigene Abgeordnete mit der Aufgabe zu betrauen, allfällige Verhandlungen mit den Ko-Fürsten zu führen. Andreas von Alas verfasste eine diesbezügliche Petition, die im Februar 1419 vom Bischof und im Dezember 1419 vom Grafen von Foix akzeptiert wurde. Von diesem Zeitpunkt an sollten die sechs Pfarren (Orte) Andorras, je nach Größe, zwei bis drei Abgeordnete wählen, welche diese höheren Orts zu vertreten hatten.
Heinrich I. von Foix heiratete in das Haus Navarra ein, was zur Folge hatte, dass sein Enkel, Heinrich II. von Foix, auch König von Navarra war. Überdies übernahm er neben diesen Ämtern und der Ko-Fürstenschaft über Andorra noch als Heinrich IV. den Thron von Frankreich. Seit "Henri Quatre" ist also stets des französische Staatsoberhaupt zeitgleich auch einer der beiden andorranischen Fürsten, was selbst den eingefleischten Sozialisten Francois Mitterand zum gekrönten Haupt machte.
Dadurch freilich verschob sich das Gleichgewicht zwischen den beiden Ko-Fürsten, doch verstand es der Bischof von Urgell, sich der Fürsprache des spanischen Königs zu versichern, sodass sich die Ko-Fürsten auch weiterhin auf Augenhöhe begegnen konnten. Dies umso mehr, als sich der französische König zumeist durch einen Legaten vertreten ließ.
In Turbulenzen geriet das andorranische System 1793, als die französischen Revolutionäre die Monarchie abschafften und den andorranischen Abgesandten einfach erklärten, sie seien nun frei und sollten tun, was ihnen beliebt. Doch noch ehe diese ihre neue Freiheit so richtig genossen hatten, reklamierte Napoleon die Souveränität über Andorra wieder für Frankreich.
Das kurze Zwischenspiel der französischen Revolution hatte allerdings Folgen. Erstmals in der Geschichte Andorras kristallisierten sich zwei politische Lager heraus. Den Konservativen, die alles so lassen wollten, wie es war, stellten sich nun die Progressiven entgegen, welche die andorranische Gesellschaft nachhaltig erneuern wollten. Aus ihren Reihen ging schließlich Guillem de Areny hervor, dessen Arbeit für eine grundlegende Reform des andorranischen Parlaments sorgte. Dieses war in den rund 450 Jahren seines Bestehens zu einer Art Klub für die wohlhabenden andorranischen Handelsherrn geworden. Die Mandate blieben mehr oder weniger in den Händen der führenden Familien, die mehr ihre eigenen Interessen als jene der übrigen Bürger verfolgten. Gemäß der Reform von de Areny wurde das Wahlrecht nun auf alle Familienväter ausgedehnt, und die Zahl der Abgeordneten auf 24 (vier pro Pfarre) festgesetzt. Alle zwei Jahre sollte jeweils die Hälfte der Mandate erneuert werden.
Mit dieser politischen Erneuerung trug Andorra dem Zug der Zeit Rechnung, doch spätestens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entsprach dieses politische Gefüge nicht mehr dem Willen seiner Bürger. In einem hart geführten Verfassungsstreit gelang es den Andorranern schließlich 1933, das allgemeine Männerwahlrecht durchzusetzen. Dieses wurde während des Zweiten Weltkriegs, als de facto allein die francistische Seite die Hoheit über Andorra hatte, aufgehoben, 1947 allerdings wieder in Kraft gesetzt. 1970 erhielten Frauen das aktive, 1973 auch das passive Wahlrecht.
Die bislang letzte Verfassungsreform wurde 1976 durchgeführt. Waren bis dahin die Abgeordneten allesamt individuell und unabhängig aufgetreten, so formierten sich die Mandatare nun offen zu Parteien. Diese Entwicklung ging wohl nicht zufällig mit den Ereignissen in Spanien einher, wo nach vier Jahrzehnten Franco die Demokratie reetabliert wurde. Im Zuge der Verfassungsreform wurde nun auch der Posten eines Premierministers geschaffen, den bis 1994 die Konservativen stellten, während seitdem die Liberalen den Ton angeben.
1982 wurde eine siebente Gemeinde gebildet, sodass die Zahl der Abgeordneten auf 28 stieg. Da aber zwischen den einzelnen Gemeinden zum Teil beträchtliche Unterschiede hinsichtlich der Bewohner bestehen – während Andorra la Vella knapp 23.000 Einwohner aufweist, hat etwa die Gemeinde Ordino nur 3.000 Einwohner -, wurde 1997 beschlossen, dass nur noch zwei Mandatare pro Gemeinde gewählt werden, während die übrigen 14 in einem zweiten Ermittlungsverfahren landesweit nach dem Proportionalwahlrecht vergeben werden. Fielen die Wahlen 2001 noch eindeutig zugunsten der Liberalen aus, die 46 Prozent der Stimmen und 16 Mandate erhielten (gegenüber 30 Prozent und 6 Sitze für die Sozialisten), so verloren die Liberalen 2005 die absolute Mehrheit, stellen jedoch weiterhin die Regierung. Stimmten 41 Prozent für die Liberale Partei (14 Sitze), so erhielt die SP 38 Prozent der Stimmen und 11 Sitze. Für die Konservativen votierten elf Prozent (2 Sitze), die linke "Partei der demokratischen Erneuerung" zog mit 6,2 Prozent ebenfalls ins Parlament ein und stellt einen Mandatar. Die Grünen mussten sich mit 433 Stimmen bescheiden und blieben außerparlamentarisch.
Andorras Parlament heute
Die 28 Abgeordneten zum Parlament (Consell General) wählen aus ihrer Mitte einen Präsidenten und dessen Stellvertreter. Symbol der Präsidenten- bzw. Vizepräsidentenwürde ist ein Zweispitz, während die Abgeordneten Dreispitze tragen. Ebenfalls in die Agenden des Parlaments fällt die Wahl des Ministerpräsidenten, der in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit finden muss, während im dritten Wahlgang die relative Mehrheit genügt. Der Ministerpräsident ist sodann berechtigt, die Minister seiner Regierung zu benennen, wobei deren Zahl vier nicht unter- und sechs nicht übersteigen darf. Gegenwärtig gibt es in Andorra Minister für Finanzen, öffentliche Dienste, Bildung & Kultur, Landwirtschaft, Handel und Industrie sowie Arbeit und Soziales, wobei in letzteres Ressort auch Tourismus und Sport fallen.
Zu diesen Ressorts gibt es auch parlamentarische Ausschüsse, die allerdings nicht nach einem Parteienproporz zusammengesetzt sind, vielmehr bestehen alle Ausschüsse aus jeweils sieben Mitgliedern, einem pro Ortschaft. Das Plenum des "Consell General" tritt vier Mal im Jahr zu einer Sitzungsperiode zusammen: in der Osterwoche, Mitte Juni und sodann im November zum "Andreas-Plenum" sowie im Dezember zum "Thomas-Plenum". Derzeit sind sechs der 28 Abgeordneten weiblich.
Das "Casa de la Vall"
Heimstätte des Parlaments (www.Consellgeneral.ad) ist das "Haus des Tales" (Casa de la Vall), welches 1580 ursprünglich für die Familie Busquet erbaut worden war. Diese verkaufte es 1702 an das andorranische Parlament, das es seitdem mehreren Zwecken zuführt. In den Kellern das Gebäudes befand sich das Staatsgefängnis, im Erdgeschoss sind die Räumlichkeiten der Justiz – mit dem großen Schwurgerichtssaal – untergebracht. Der erste Stock schließlich weist das Büro des Parlamentspräsidenten, den Plenarsaal sowie einige Besprechungszimmer auf, während sich im zweiten Stock eine altertümliche Küche befindet, in der seinerzeit das Essen für die Abgeordneten zubereitet wurde. Und da diese, aus den diversen Orten nach Andorra la Vella kommend, am Abend nach Ende der Sitzung oft nicht mehr nach Hause zurückkehren konnten, war der Dachboden einst ein Schlafsaal, der freilich mehr als spartanisch eingerichtet war. Etwas Stroh, gefüllte Säcke und ein paar Felle mussten den Volksvertretern für ihre Bedürfnisse genügen.
Ebenfalls im Haus untergebracht sind das staatliche und das Parlamentsarchiv sowie eine Kapelle, in welcher die Abgeordneten früher um weise Entschlüsse zu beten pflegten. Vor dem Haus wurde ein kleiner Garten angelegt, in dem sich auch eine Skulptur in Erinnerung an die Unabhängigkeit Andorras befindet.
HINWEIS: In dieser Serie sind bisher erschienen: Porträts der Parlamente der Teilnehmerländer der EURO 08 und eine Darstellung des Parlamentarismus in Albanien. (Schluss)