Parlamentskorrespondenz Nr. 719 vom 12.08.2008

Reichstag 1848 - Ein heißer Sommer in der Winterreitschule (2)

Wien (PK) – Eine Kette runder historischer Jahrestage machen das Jahr 2008 für Österreich zu einem historischen Gedenkjahr. Im März hatte Hitlers Einmarsch im Jahr 1938 Gelegenheit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel der österreichischen Geschichte geboten. Im Herbst geht es um die Gründung der Republik Österreich im November 1918. Bis dahin wirft die "Parlamentskorrespondenz" einen historischen Blick auf ein anderes markantes Datum in der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus: das Ende der bäuerlichen Untertänigkeit. Der erste Beitrag zu diesem Thema erschien am 29. Juli (PK Nr. 710)

Am 8. August 1848 starteten in der Winterreitschule der Wiener Hofburg die Verhandlungen über die Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit auf der Basis des "Kudlichschen Antrages". Auf Anregung anderer Abgeordneter legte Kudlich seinen Text in "verbesserter" Form vor. Ausdrücklich wollte Kudlich die Arbeit der Patrimonialgerichte nun nicht mit der Aufhebung der Untertänigkeit beenden, sondern provisorisch bis zum Tätigwerden staatlicher Gerichte aufrecht erhalten. Alle Einschränkungen der persönlichen Freiheit seien aufzuheben und die feudalen Lasten nicht mehr zu leisten - "die nähere Ausführung über diesen Punkt" wollte Kudlich aber einem speziellen Ausschuss überlassen, "der auch über die allfällige Entschädigung und über die Art und Weise des Gerichtswesens zu entscheiden habe". Den Reichstagsbeschluss über die Aufhebung der Untertänigkeit wollte Kudlich möglichst bald als Proklamation veröffentlichen, um der weiter zunehmenden Unruhe entgegenzuwirken, "die aus allen Provinzen gemeldet wird".

Rasche Aufhebung der Untertänigkeit und aller feudalen Lasten und dann gründliche Klärung aller Detailfragen zwischen den ehemaligen "Herren" und "Untertanen" in einem Reichstag-Ausschuss – so wollte Kudlich vorgehen. Einige Abgeordnete meldeten aber Zweifel an der im ersten Überschwang gewählten Vorgangsweise an. Sie lasen Kudlichs neuen Text als Gesetzentwurf, den man vielleicht doch nicht gleich im Plenum, sondern gründlich in einem Ausschuss verhandeln sollte. Die Mehrheit des Hauses bekräftigte aber ihre ursprüngliche Entscheidung in der Hoffnung, die dringliche Sache im Plenum schneller entscheiden zu können.  

Die Hoffnungen auf zügige Verhandlungen zerschlugen sich aber bald. Denn die Zahl der "Amendments", der umfangreichen und komplexen Verbesserungs-, Abänderungs- und Zusatzanträge, die Vizepräsident Strobach vorgelegt wurden, wuchs rasch auf 60 an. Zwar bestand weiterhin Einigkeit darin, alle Unterschiede zwischen "Herren" und "Untertanen", zwischen "Herrengrund" (Dominikalland) und "Bauerngrund" (Rustikalland) sowie alle persönlichen Lasten der Bauern, namentlich die allgemein als entwürdigend empfundene Robot, zu beseitigen und die Details - ganz im Sinne Kudlichs - danach in einem Ausschuss zu klären. Was aber ein Detail sei - an dieser Frage schieden sich im Reichstag die Geister.

Anders als der schlesische Bauernsohn Kudlich hielten viele Abgeordnete die Entschädigungsfrage für eine politische Grundsatzfrage, die gleichzeitig und gleichrangig mit der Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit vom Reichstagsplenum entschieden werden sollte und nicht erst danach in einem Ausschuss, wie Kudlich vorschlug. Während bäuerliche Abgeordnete und liberale Demokraten nicht nur die Robot, sondern auch "dingliche" Grundlasten - mit wenigen Ausnahmen - ohne Entschädigung aufheben wollten, verlangten die Vertreter der Grundherren eine Entschädigung für den Verlust der bäuerlichen Grundabgaben. Dieser Konflikt wurde mit jedem Antrag schärfer, den Abgeordnete in der Absicht vorlegten, eine umfassende Grundentlastung durch Aufhebung aller Lasten zu erreichen. Fast jeder der 60 Anträge machte die Liste mit aufzuhebenden Verpflichtungen und "Giebigkeiten" der Bauern länger und länger.   

Der Oberösterreicher Emil Vacano beantragte die Aufhebung weiterer Natural-, Arbeits- oder Geldleistungen und verlangte gemeinsam mit Abgeordnetem Josef Doliak auch die Aufhebung der Gebühren, die Bauern bei Besitzveränderungen zahlen mussten. Abgeordneter Karl Zimmer wollte auch unterbäuerliche Schichten, "Inleute" und "Häusler" entlasten und forderte gemeinsam mit den Abgeordneten Karl Herzig und Matthias Hawelka, den "Bierzwang" aufzuheben, die Verpflichtung von Bauern, Bier nur vom Grundherren zu beziehen. "Jeder soll sein Bier kaufen dürfen, wo er will" sagte auch Abgeordneter Josef Latzel, der zudem die Aufhebung des Branntweinzwanges beantragte. Abgeordneter Johann Kratochwil forderte die Aufhebung von Lasten, die Grundherren mancherorts Handwerkern und Händlern aufgebürdet hatten. Die Abgeordneten Eduard Claudi und Josef Bininger gingen noch weiter und interpretierten die Schutzgelder, die böhmische Städte seit dem Mittelalter an Herrn und Ritter zahlten, als feudale Lasten, die es mit der Untertänigkeit aufzuheben gelte.

Abgeordneter Johann Kaim wandte sich gegen die bäuerliche Pflicht, "Hirschenheu" zu liefern, während Abgeordneter Blonski gegen Pottaschenabgaben, Ufer- und Mühlenzinse wetterte. Abgeordneter Johann Lhota drängte auf die Aufhebung der Weber- und Garnzinse im Riesengebirge, Kudlichs Landsmann Karl Schneider wollte speziell die Not der Gebirgsbauern Schlesiens lindern. Die Abgeordneten Alois Praschak und Franz Watzel zielten auch auf vertraglich geregelte Formen der Robot, auf "Surrogate der Robot", wie sie sagten. Josef Hahn mahnte gleiche Rechte für Bauern im Fischerei- und Jagdrecht ein und Abgeordneter Vinzenz Stieber brach eine Lanze für strittige Eigentumsrechte bäuerlicher Gemeinden.

Dazu kam das heikle Problem bäuerlicher Rechtsansprüche gegenüber den Grundherren. Die Abgeordneten Ignaz Streit und Ivan Kapuszak beantragten die Erhaltung bäuerlicher Holzrechte in herrschaftlichen Wäldern. In armen Gegenden, so argumentierten sie, wäre der Vorteil aus der Aufhebung der Untertänigkeit für die Bauern geringer als der Verlust durch die Aufhebung bäuerlicher Servitute.

Und schließlich nahmen auch Darstellungen der unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern der Monarchie breiten Raum ein. Man hörte von Robot-Konflikten, Bauernaufständen und Reformversuchen in Galizien, die zur Vorgeschichte und Geschichte der Revolution von 1848 zählten. Abgeordneter Ivan Kapuszak schilderte in einer sehr emotionalen Rede das Elend der Bauern in Galizien, ihren harten Alltag und die drakonischen Strafen, mit denen "Untertanen" dort rechnen mussten: "Robot die ganze Woche und der Sonntag in Eisen". - "Zu stark aufgetragen", replizierte Abgeordneter Marian Dylewski seinem Landsmann, räumte aber Missstände auf den Gütern ein. Gemeinsam mit den Abgeordneten Max Machalski, Franz Trecieski, Valerian Podlevsky und Franz Smolka sowie mit Unterstützung des Abgeordneten Anton Goriup bemühte sich Marian Dylewski, die Verdienste galizischer Grundbesitzer und freisinniger Adeliger im Landtag von Lemberg um die Aufhebung der Robot darzulegen. Einzelne Grundbesitzer hätten die Robot bereits ohne Entschädigung aufgehoben, berichtete Franz Smolka. Abgeordneter Josef Kral brachte die speziellen Untertänigkeitsverhältnisse in der ehedem osmanischen Bukowina zur Sprache. 

Ganz anders stellten sich die Verhältnisse im Westen dar: Tirol kenne schon lange kein Untertänigkeitsverhältnis und auch keine Patrimonialgerichtsbarkeit mehr, erklärte der Innsbrucker Abgeordnete Johann Hasslwanter, es bestünden aber immer noch beträchtliche Grundlasten. Abgeordneter Ferdinand Thinnfeld berichtete, in der Steiermark habe der teilweise frei gewählte Landtag alle Lasten aufgehoben und warte auf Klärung der Entschädigungsfrage durch den Reichstag. Daher regte Abgeordneter Alois Praschak an, Vorarbeiten der Provinziallandtage zum Thema "Aufhebung der Untertänigkeit" im Reichstag zu berücksichtigen. Die Schlussfolgerung des Abgeordneten Marian Dylewski, angesichts der großen Unterschiede in den Provinzen sollte man auf eine einheitliche Aufhebung der Untertänigkeit verzichten und diese Aufgabe "föderativ" den Provinziallandtagen überlassen, lehnten die Abgeordneten Hasslwanter und Ludwig Löhner ab - die Landtage seien nicht demokratisch legitimiert, lautete deren Argument.  

Angesichts der zahlreichen Anträge hatte Hans Kudlich schon in der 19. Sitzung am 11. August 1848 an die Abgeordneten appelliert, die Ziele der "Dringlichkeit und Gründlichkeit" vereinbar zu machen, und vorgeschlagen, die Verhandlungen zu unterbrechen, um einen gemeinsamen Hauptantrag auszuarbeiten. Vizepräsident Strobach sah aufgrund der geltenden Geschäftsordnung aber keine Möglichkeit, das Einbringen und Begründen von Verbesserungsanträgen zu unterbrechen und forderte Kudlich auf, einen Antrag vorzulegen, damit die Abgeordneten beurteilen könnten, ob er sie zum Verzicht ihrer Anträge zu veranlassen vermöge. Dieser "Verbesserungsantrag" der Abgeordneten Hans Kudlich, Ludwig Löhner, Emil Vacano, Franz Hein, Johann Umlauft erweiterte Kudlichs "verbesserten" Antrag um zusätzliche Details und sah ausdrücklich vor, im Ausschuss zu klären, "ob und welche Entschädigung zu leisten sei"

Die Befürworter einer Entschädigung der Grundbesitzer waren aber auch mit Kudlichs zweitem "Verbesserungsantrag" unzufrieden, weil er die für sie zentrale Entschädigungsfrage prinzipiell offenlasse und damit ein 200 Millionen-Kapital in Frage stelle, lautete etwa die Kritik des Abgeordneten Thinnfeld. Auf diese und auf andere Weise arbeiteten die Reichstagsabgeordneten im Laufe des August immer stärker den interessenpolitischen Kern der Debatte um die Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit heraus. (Fortsetzung am 26. August)

(Schluss)