Parlamentskorrespondenz Nr. 659 vom 10.07.2009

Behinderung bedeutet Armutsgefährdung

Nationalrat debattiert Behindertenbericht

Wien (PK) – Die Debatte über den Behindertenbericht geriet heute im Nationalrat nicht zu einer rein theoretischen Diskussion, sondern bot den Abgeordneten bei der ersten Wortmeldung der neuen G-Abgeordneten Helene Jarmer im Hohen Haus auch Anschauungsunterricht zum Thema Gebärdensprache. Gemeinsam mit dem Behindertenbericht standen auch ein Antrag der FPÖ und ein Antrag des BZÖ zur Debatte.

Abgeordneter Norbert HOFER (F) wies darauf hin, dass jeder fünfte Mensch mit Behinderung von Armut betroffen sei. Daher müsse man trotz der Schwierigkeiten, die sich in den nächsten Monaten ergeben werden, trachten, die soziale Ausgewogenheit zu wahren, und sich für jene einsetzen, die sich nicht helfen können. Laut einer deutschen Studie sind viele pflegebedürftige Menschen in Heimen schlecht versorgt und ernährt, weil das Personal überlastet ist. Der Redner bedauerte, dass es in Österreich eine solche Studie nicht gibt. Ein solcher Bericht wäre eine gute Arbeitsgrundlage, um die richtigen Maßnahmen zu setzen, betonte er. In einem Entschließungsantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, alle erforderlichen Schritte zu setzen, damit Eltern vor der Einschulung eines gehörlosen Kindes ein Anspruch auf den Besuch eines kostenlosen Kurses in österreichischer Gebärdensprache gewährt wird. Weitere Anträge betrafen die Ausgleichstaxe und eine Inflationsanpassung für das Pflegegeld.

Abgeordnete Ulrike KÖNIGSBERGER-LUDWIG (S) führte aus, behinderte Menschen hätten verschiedene Beeinträchtigungen und damit auch spezielle Bedürfnisse und unterschiedliche Anforderungen. In diesem Sinn müsse die Politik auch unterschiedliche Maßnahmen setzen. Am Ende müsse aber eines stehen: die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am sozialen und wirtschaftlichen Leben.

Die Anstrengungen der Bundesregierung gehen Königsberger-Ludwig zufolge genau in diese Richtung. Sie erinnerte an die Anerkennung der Gebärdensprache, das Behindertengleichstellungsgesetz, die Einsetzung eines Behindertenanwalts und die Ratifizierung der UN-Konvention für Menschen mit Behinderung. Gleichzeitig habe man zahlreiche bewusstseinsbildende Maßnahmen gesetzt. Als Herausforderungen für die Zukunft nannte Königsberger-Ludwig bessere Bildungschancen und die Erhöhung der Beschäftigungsquote, die ihrer Darstellung nach bei behinderten Menschen nur halb so hoch ist wie bei Nichtbehinderten. 

Abgeordneter Sigisbert DOLINSCHEK (B) wies darauf hin, dass 7 % der ÖsterreicherInnen dauerhaft beeinträchtigt und 50.000 Menschen auf den Rollstuhl angewiesen seien. Auch ist ihm zufolge die Armutsgefährdung bei Menschen mit Behinderung mit 20 % besonders hoch. Ohne entsprechendes Einkommen sei es aber schwierig, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sagte Dolinschek und forderte u.a. die Aufstockung der Behindertenmilliarde. Positiv wertete er, dass die Ministerien ihre Einstellungspflicht für behinderte Menschen zu 95,6 % erfüllten.

Für Abgeordneten August WÖGINGER (V) zeigt der vorliegende Bericht, dass die Behindertenpolitik in den letzten beiden Legislaturperioden effektiv gewesen ist. Die Beschäftigungsoffensive greife trotz schwieriger Rahmenbedingungen, bekräftigte er. Besonders hob er in diesem Zusammenhang die persönliche Assistenz am Arbeitsplatz und die integrative Berufsausbildung hervor.

Begrüßt wurde von Wöginger auch die Übertragung der Nationalratssitzungen in Gebärdensprache. Für die Zukunft erachtete er es für notwendig, die Rahmenbedingungen für behinderte Menschen weiter zu verbessern.

Abgeordnete Helene JARMER (G) ging in ihrer ersten, von einer Gebärdendolmetscherin übersetzten, Rede vor dem Nationalrat auf die Besonderheiten der Gebärdensprache ein und bemühte sich, den Abgeordneten erste Gebärden wie "danke" und "Abgeordnete" beizubringen. Sie erläuterte in diesem Zusammenhang auch die Grammatik der österreichischen Gebärdensprache und wies darauf hin, dass es verschiedene nationale Gebärdensprachen und sogar verschiedene Dialekte innerhalb der österreichischen Gebärdensprache gebe. Analog zum Englischen gebe es aber auch eine Weltsprache für Gehörlose, skizzierte sie. Um mit ihr zu kommunizieren, solle man deutlich sprechen und ihr ins Gesicht schauen, sagte Jarmer, Schreien nützte nichts.

Zum vorliegenden Bericht merkte Jarmer an, ihr würden die Anliegen aller Behinderten am Herzen liegen. Es sei notwendig, behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilnahme am Leben zu ermöglichen. Kein Verständnis äußerte sie dafür, dass LehrerInnen gehörlose Kinder unterrichten dürften, ohne selbst gebärden zu können. Ebenso übte sie scharfe Kritik an der Begründung des Innenministeriums in Bezug auf nicht barrierefrei zugängliche Wahllokale. Jarmer wünscht sich die Aufnahme von konkreten Verbesserungsschritten in den Behindertenbericht und betonte, die Politik sei in der Lage, das Leben behinderter Menschen "zu revolutionieren".

Sozialminister Rudolf HUNDSTORFER räumte ein, dass der die "Behindertenmilliarde" betreffende Budgetansatz geringer als im vergangenen Jahr sei. Trotzdem stehen ihm zufolge effektiv mehr Mittel zur Verfügung, weil Rücklagen aufgelöst und Mittel aus dem europäischen Sozialfonds vorgezogen würden. Außerdem könne man durch "intelligentes Sparen" in anderen Bereichen hier mehr Geld ausgeben.

Was die Beschäftigungssituation behinderter Menschen betrifft, bekräftigte Hundstorfer, er werde nicht zulassen, dass diese aus dem Arbeitsprozess gedrängt werden. Sehr gut funktioniert seiner Darstellung nach die berufliche Integration von Gehörlosen. Als "Paradebeispiel" nannte er in diesem Zusammenhang die Lehrwerkstätten der Firma Siemens.

Abgeordnete Sonja ABLINGER (S) konzentrierte sich in ihrer Rede auf die Situation behinderter Frauen. Sie machte darauf aufmerksam, dass diese doppelt benachteiligt seien: als Behinderte und als Frauen. Behinderte Frauen seien weniger oft erwerbstätig als behinderte Männer, hätten ein geringeres Einkommen und seien auffallend oft Opfer von Gewalt. Die Politik müsse versuchen, die Spirale nach unten zu unterbinden, forderte Ablinger.

Abgeordneter Werner NEUBAUER (F) vermisste im Behindertenbericht, wie er ausführte, "soziale und menschliche Wärme". Der Mensch werde zum statistischen Faktor, klagte er. Dabei gebe es etwa große Probleme für Eltern behinderter Kinder, die sich in den Ruin getrieben fühlten. Gesetzliche Änderungen urgierte Neubauer auch in Bezug auf die Kompetenzen jener Menschen, die Behinderte betreuen.

Abgeordnete Anna HÖLLERER (V) machte darauf aufmerksam, dass bei einer Studie mit 8.500 befragten Personen 20,5 % angegeben hätten, dauerhaft beeinträchtigt zu sein. Hochgerechnet seien das 1,7 Mio. Menschen in Österreich, konstatierte sie. Von den von der Politik gesetzten Maßnahmen hob sie die neugeschaffene Möglichkeit einer persönlichen Assistenz für Behinderte hervor. Die Pflege in Privathaushalten funktioniert Höllerer zufolge gut, wie Kontrollen zur Qualitätssicherung gezeigt hätten.

Abgeordneter Martin STRUTZ (B) führte aus, der Behindertenbericht sei "kein Ruhmesblatt" für die Bundesregierung. Er zeigt seiner Ansicht nach deutlich, dass die Politik noch massiven Handlungsbedarf in Bezug auf die Verbesserung der Situation von behinderten Menschen habe. Es dürfe nicht sein, sagte Strutz, dass eine Beeinträchtigung zu Armut führe. Laut Bericht seien aber 20 % der Behinderten armutgefährdet, insbesondere Frauen. Um behinderten Menschen zu ermöglichen, im Falle von Diskriminierungen gerichtliche Klagen einzubringen, forderte Strutz die Einrichtung eines Unterstützungsfonds.

Abgeordneter Johann HECHTL (S) meinte, behinderte Menschen würde immer noch den Status einer Randgruppe haben. Er sieht die Politik und die Gesellschaft gefordert, hier Abhilfe zu schaffen. Trotz "beachtlicher Erfolge und Fortschritte" sei man noch lange nicht am Ziel angelangt, sagte er und sprach sich u.a. für eine Weiterentwicklung des Behinderteneinstellungsgesetzes aus. Als positiv qualifizierte er die kürzlich beschlossene erweiterte steuerliche Absetzbarkeit für Aufwendungen für behinderte Kinder bis zum 16. Lebensjahr.

Abgeordneter Karl ÖLLINGER (G) wertete einige Passagen des Behindertenberichts als diskriminierend und nannte beispielsweise die Stellungnahme des Innenministeriums zur Frage des barrierefreien Zugangs zu Wahllokalen. Außerdem macht der Behindertenbericht ihm zufolge deutlich, dass es weniger im Sozialministerium, aber in vielen anderen Ressorts große Versäumnisse gebe. Konkret kritisierte er fehlende Valorisierungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit von Aufwendungen.

Staatssekretärin Christine MAREK verwies auf Bemühungen, den barrierefreien Zugang zu öffentlichen Gebäuden, Arztpraxen und im Tourismus zu verbessern. Es könnte manches schneller gehen, räumte sie ein. Im Familienbereich hob Marek die Erhöhung der Familienbeihilfe und die erweiterte steuerliche Absetzbarkeit für Aufwendungen für behinderte Kinder hervor. Überdies haben ihr zufolge eine Reihe von Familienberatungsstellen einen besonderen Fokus auf die Beratung von Familien mit einem behinderten Familienmitglied gelegt. Für wesentlich erachtet Marek es auch, werdenden Eltern benötigte Hilfestellung zu geben.

Abgeordneter Jochen PACK (V) betonte die Bedeutung einer barrierefreien Freizeit für Behinderte und wies auf die erfolgreichen Bemühungen der Tourismus- und Freizeitwirtschaft für barrierefreie Urlaubsangebote hin. Betriebe werden gefördert, um Behinderten barrierefreie Urlaube zu ermöglichen, insbesondere auch in der Region Hartberg. Etwas mehr Barrierefreiheit wäre auch beim Sportstättenbau wichtig, meinte der Abgeordnete.

Abgeordnete Dagmar BELAKOWITSCH-JENEWEIN (F) forderte, Familien mit behinderten Kindern die doppelte Familienbeihilfe auch dann zur Gänze zu gewähren, wenn Pflegegeld gewährt wird. Österreich kann sich das leisten, zeigte sich die Abgeordnete überzeugt. Ändern will die Rednerin auch, dass Behinderte als drittklassige Arbeitnehmer behandelt und mit einem Taschengeld für ihre Arbeit abgespeist werden. Kritik übte die Abgeordnete auch an OGH-Urteilen, in denen behinderte Kinder als "Schaden" anerkannt worden sind. Die Bundesregierung sollte dafür sorgen, dass solche Urteile in Zukunft nicht mehr möglich sind, sagte die Rednerin dem anwesenden Sozialminister.   

Abgeordnete Christine LAPP (S) wies die Aussage zurück, der OGH hätte ein behindertes Kind als "Schaden" bezeichnet. Das sei nicht der Fall. Der Schaden bestehe im konkreten Fall darin, dass der Familie keine adäquate Untersuchung zugekommen sei. Das Urteil halte fest, dass behinderte Kinder kein Schaden sind.

Bundesminister Rudolf HUNDSTORFER (S) stellte klar: Bei Zuerkennung von Pflegegeld werden bei der doppelten Kinderbeihilfe 69 € abgezogen. Die Forderung, Gerichten Weisungen zu erteilen, wies der Minister für die Bundesregierung zurück. Gerichte und Höchstgerichte seien weisungsfrei, und dieses Rechtsgut gelte es zu bewahren.

Bei der Abstimmung wurde der Behindertenbericht mit S-V-Mehrheit zur Kenntnis genommen. Alle Anträge und Entschließungsanträge der Opposition blieben in der Minderheit und wurden abgelehnt.

(Schluss Soziales/Forts. Landwirtschaft)  

    


Themen