Parlamentskorrespondenz Nr. 933 vom 05.09.2018

Buchpräsentation: 1968 - Aufbruch oder Scheitern?

Sammelband mit zehn Beiträgen aus dem Wiener Kulturkongress 2017 im Parlament vorgestellt

Wien (PK) – Wenn auch in Österreich nicht alles "so extrem, sondern gemütlicher" ablaufe, "so hat auch in unserem Land "die Demokratie vom Jahr 1968 profitiert", sagte Nationalratsabgeordneter Wolfgang Gerstl in  Vertretung von ÖVP-Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka gestern Abend bei der Präsentation des Buches "1968 – in Österreich. Aufbruch und Scheitern?" im Palais Epstein. "Viele Menschen haben sich 1968 erstmals getraut, sich öffentlich zu artikulieren", erklärte Gerstl. "Der politische Diskurs mit dem Individuum ist eines der wichtigsten Güter unserer Demokratie geworden." Es sei ein Diskurs "mit Würde und Respekt".

Das Buch "1968 – in Österreich. Aufbruch und Scheitern?" entstand im Zuge des Wiener Kulturkongresses vom 13. und 14. November 2017 an der Diplomatischen Akademie in Wien unter dem Titel "1968 – was ist geblieben?". Es bildet eine Sammlung von zehn Beiträgen dieses Kongresses. Veranstalter war die "Österreichische Kulturvereinigung", deren Präsident der ehemalige Botschafter Christian Prosl ist. Er betonte, im Jahr 1968 habe sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. "Ein Vermächtnis dieses Jahres war eine gesellschaftliche Liberalisierung", betonte Prosl bei der Buchpräsentation, "mit antikapitalistischer Attitüde, Dritter-Welt-Romantik, Pazifismus und mit einem alternativen Lebensgefühl." Für ihn stelle sich die Frage, ob nicht derzeit weltweit das politische Pendel wieder in die Gegenrichtung ausschlage. "Werden überschießende Entwicklungen jetzt nur korrigiert oder setzen sich andere, grundlegendere politische Vorstellungen durch – beeinflusst von den Folgen der Globalisierung, Migration und der Angst vor dem Verlust der Identität?", sagte Prosl.

"Da ist in Österreich ja nichts passiert"

Die Ereignisse des Jahres 1968 kommen in Medienberichten, im Radio und Fernsehen vor – Bücher seien im Gedenkjahr 2018 dazu keine entstanden – mit Ausnahme des Bandes über den Wiener Kulturkongress, betonte Maria Dippelreiter, die gemeinsam mit Michael Dippelreiter Herausgeberin des Buches ist. "Wir sind in eine Buchhandlung gegangen und haben gefragt, ob es ein Buch über 1968 gibt", erzählte Maria Dippelreiter. "Die Verkäuferin hat geantwortet: Nein – warum sollte es eines geben? Da ist in Österreich ja nichts passiert."

Wer die Beiträge des Bandes liest, sieht das anders: Der "Paradigmenwechsel 1968" ziehe sich wie ein roter Faden durch die Artikel, erläuterte Maria Dippelreiter. Beispielsweise sei die "Verbotskultur" der Nachkriegsjahre im Jahr 1968 brüchig geworden. Die AutorInnen würden sich mit ihren "eigenen Lebensgeschichten aus dem Fokus des Jahres 1968" auseinandersetzen. Sie alle waren 1968 zwischen 20 und 30 Jahre alt.

"Mailüfterl" oder "Zäsur"?

Die einzelnen Artikel spiegeln den Diskurs wider – mit der zur Polarisierung verführenden Frage: Hat es sich bei 1968 um ein "Mailüfterl" gehandelt oder  um eine "Zäsur"? In einem der Beiträge etwa beschäftigt sich Heinrich Neisser mit "Perspektiven im Lichte der Regierungspolitik dieser Zeit". Er war 1968 32 Jahre alt und Beamter im Bundeskanzleramt, 1969 wurde er dort Staatssekretär. Der Kommunikationswissenschaftler Rudolf Bretschneider war 1968 24 Jahre alt und stand knapp vor seinem ersten Lehrauftrag, den er 1970 am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien erhielt. Er stellt in seinem Buchbeitrag die Frage: "1968 – was ist geblieben?" Er beschreibt den Wandel, der sich seiner Darstellung nach in der politischen Kultur in diesem Jahr vollzogen hat.

Die spätere Nationalratsabgeordnete Irmtraut Karlsson war 1968 wie Bretschneider 24 Jahre alt. Sie erwarb 1969 ihr erstes Diplom für Soziologie am Institut für Höhere Studien. In ihrem Buchbeitrag beschäftigt sie sich mit der aus dem Jahr 1968 stammenden Feststellung: "Sexualität ist nicht pervers!" Sie setzt sich darin vor allem mit der Frage auseinander, wie die "68er" das Frauenleben in Österreich verändert haben. Auch die Historikerin Maria Mesner beschäftigt sich mit den "Geschlechterverhältnissen und der Frauenbewegung – vor dem Hintergrund der Frage "Alles neu macht der Mai?". Sie war 1968 acht Jahre alt und war mit den gesellschaftlichen Folgen dieses Jahres konfrontiert.

Die "Österreichische Kulturvereinigung" (ÖKV) wurde 1945 zur Erhaltung und Weiterentwicklung des kulturellen Erbes Österreich gegründet. Bereits zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veranstaltete die ÖKV das erste Konzert der Wiener Philharmoniker. 2017 veranstaltete sie zum 22. Mal den jährlich stattfindenden Kulturkongress. Daneben gibt es Aktivitäten, wie Vorträge zu Themen aus der Wirtschaft, Wissenschaft, Recht und Kultur. Das Buch "1968 – in Österreich. Aufbruch und Scheitern?" ist im Wieser-Verlag erschienen. (Schluss) gb

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments unter www.parlament.gv.at/aktuelles/mediathek/fotos .


Themen