Parlamentskorrespondenz Nr. 238 vom 08.03.2022

Regierungserklärung zu Ukraine-Konflikt: Österreich muss Stimme für die Opfer sein

Bundeskanzler Nehammer und Vizekanzler Kogler plädieren im Nationalrat für europäische Einigkeit gegen den Krieg und für die Opferhilfe

Wien (PK) – In der heutigen Sondersitzung des Nationalrats gaben Bundeskanzler Karl Nehammer und Vizekanzler Werner Kogler eine Erklärung zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine ab. Dabei strichen sie die Bedeutung des international geeinten Handelns sowohl im Widerstand gegen den russischen Angriff als auch bei der Hilfe für die Opfer des Krieges heraus. Beide hielten an der Neutralität Österreichs fest, wobei sie diese nicht als Teilnahmslosigkeit fehlinterpretiert wissen wollten. Zudem betonten sie die energiepolitischen Implikationen des Konflikts und sprachen sich für das langfristige Ziel einer europäischen Energieunabhängigkeit aus.

Im Plenum zeigten sich innen- und außenpolitische Divergenzen zwischen den Parteien, wobei alle den Krieg verurteilten. Während aber ÖVP, SPÖ, Grüne und NEOS Russland unter Wladimir Putin als allein verantwortlich für den Krieg und das Leid der ukrainischen Bevölkerung nannten, übte die FPÖ massive Kritik an der Sanktionspolitik der EU.

Frauenministerin Susanne Raab sicherte zu, dass vor allem Frauen und Kinder, die in Österreich Schutz suchen, diesen auch bekämen. Ein dementsprechender Vierparteienantrag von ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS, der auf deren Unterstützung als besonders Leidtragende am Krieg abzielt, wurde einstimmig angenommen. Eine Mehrheit fand auch ein Antrag von ÖVP, Grünen und NEOS, in dem weitere politische und humanitäre Unterstützung für die Ukraine sowie der Einsatz für eine Einstellung der russischen Angriffe gefordert wird.

Bundeskanzler Nehammer: Europa ist aufgewacht

Die Ukraine-Krise sei nicht durch eine Naturkatastrophe entstanden, sondern durch einen Invasionskrieg. Sie stelle keine beschränkte kriegerische Handlung, sondern einen umfassenden Krieg gegen die Menschen in der Ukraine dar. So ordnete Bundeskanzler Karl Nehammer die aktuellen geopolitischen Verwerfungen ein und sprach die Verantwortung des russischen Präsidenten an, der es in der Hand habe, diesen Krieg zu beenden, denn "jeder Tag und jede Stunde zählt."

Nehammer hielt fest, dass derartige Entwicklungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg bisher unvorstellbar schienen und ging auf die Notlage der Zivilbevölkerung, vor allem der Frauen und Kinder auf der Flucht ein. Er zeigte sich über die Bereitschaft der europäischen Länder erfreut, solidarisch und unbürokratisch Hilfe zu leisten. Österreich müsse eine Stimme für die Opfer des völkerrechtswidrigen Krieges sein, denn Neutralität heiße nicht, angesichts dessen zu schweigen und wegzuschauen.

Österreichs Neutralität könne äußerst hilfreich sein, um Brücken zu bauen und den Dialog anzubieten, so Nehammer, doch man dürfe nicht naiv sein: In gegenwärtigen Krieg gebe es Opfer und Täter, wobei die Täter zunächst die Waffen aus der Hand geben müssten, um einen Dialog zu ermöglichen. Käme es zu einer militärischen Intervention des Westens in der Ukraine, "würden wir von Weltkrieg sprechen." Deshalb müsse Europa so nachhaltig wie möglich mit zivilen Optionen, sprich Sanktionen, reagieren. Es gebe auch ein klares Bekenntnis der EU-Mitgliedsstaaten die Verteidigungsausgaben signifikant zu erhöhen und sich angesichts der Bedrohungslage nicht "auseinanderdividieren" zu lassen. Europa sei nun "aufgewacht", so Bundeskanzler Nehammer.

Vizekanzler Kogler: Energiepolitik ist auch Sicherheitspolitik

Der Angriff auf die Ukraine sei nicht nur der Angriff auf ein Land, sondern auch auf das Lebensmodell für das sich die Ukraine entschieden habe, erklärte Vizekanzler Werner Kogler. Dieses Lebensmodell sei jenes der Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Präsident Putin mache darin sein Feindbild aus, da auch seine Herrschaft in Russland durch diese Entwicklung bedroht sei. Russland befinde sich laut Kogler defacto auf dem Weg zum Kriegsrecht, wodurch auch noch die letzten Freiheiten getilgt würden. Deshalb verdienten auch die Menschen, die dort gegen den Krieg auf die Straße gehen höchsten Respekt. Man müsse Krieg auch als Krieg und Kriegsverbrechen auch als Kriegsverbrechen benennen können, appellierte Kogler.

Putin habe sich in der Annahme, dass die EU nicht geeint reagieren werde, nicht nur getäuscht, sondern diese Einigkeit durch seinen Angriff auch noch bewirkt. Ein weiteres Zeichen der Geschlossenheit sei laut Kogler auch die mehrheitliche Verurteilung des Krieges durch die Vereinten Nationen gewesen. Die Neutralität Österreichs sah Kogler vornehmlich als eine militärische, die jedoch niemals Teilnahmslosigkeit bedeuten dürfe. Außerdem biete sie mehr Möglichkeiten, "als manche wahr haben wollen". Österreich könne an seiner alten außenpolitischen Tradition anknüpfen und vermittelnd tätig werden, anstatt sich hinter "wirtschaftlichen Einzelinteressen zu verschanzen". Zudem sprach er die sicherheitspolitische Relevanz der energiepolitischen Unabhängigkeit Europas an, die noch nie so demonstriert worden sei wie in der aktuellen Lage. Es sei auch von geopolitischem Interesse, den Umstieg auf die erneuerbare Energie zu beschleunigen. Mittelfristig würden Maßnahmen, wie ein kommendes Gasbevorratungsgesetz die Abhängigkeit reduzieren.

SPÖ: Neutralität muss bleiben

Die Aussage Nehammers von der aufgezwungenen Neutralität sei ein Schlag ins Gesicht der Gründerväter gewesen, übte SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner harte Kritik am Bundeskanzler. Es sei daher richtig gewesen, sich heute klar zur Neutralität zu bekennen, auch wenn das in ihren Augen zu lange gedauert habe. Sie erinnerte an Julius Raab und Bruno Bittermann, die im Jahr 1955 klar zum Ausdruck gebracht hätten, dass der Beschluss über die immerwährende Neutralität in voller Unabhängigkeit und voller Freiheit gefasst worden sei und keine aufgezwungene Verpflichtung darstelle. Österreich habe sich ganz bewusst entschieden, keinem Militärbündnis beizutreten, und das wolle man auch heute so, meinte Rendi-Wagner. Sie forderte eine verbesserte Ausstattung des Bundesheeres, wodurch sichergestellt sein müsse, dass das Heer auch auf neue Herausforderungen vorbereitet ist.

Eva Maria Holzleitner (SPÖ) brachte einen Entschließungsantrag ein, der auf eine rechtzeitiges Auffüllen der Erdgasspeicher und die Reduzierung der Abhängigkeit von Russland abzielte. Dieser blieb in der Minderheit. Ihr Fraktionskollege Josef Muchitsch plädierte an den neuen Gesundheitsminister, alle Maßnahmen zu setzen um die sozialen Folgen der Corona- und der Ukraine-Krise abzufedern. Dementsprechend brachte er einen Entschließungsantrag ein, in dem ein Maßnamenpaket zu diesem Zweck gefordert wird. Auch dieser wurde im Plenum abgelehnt. Weitere abgelehnte Anträge betreffen den Start einer Pflegeoffensive und eine ausdrückliches Bekenntnis der Bundesregierung zur immerwährenden Neutralität Österreichs. Jörg Leichtfried (SPÖ) bemerkte das Letztere ein "unumstößlicher Teil des Staatswesens" sei und Katharina Kucharowits ergänzte, dass ein Rütteln daran inakzeptabel sei. Sie sprach sich in Form eines weitere Entschließungsantrages für humanitäre Hilfe für die Bevölkerung der Ukraine und die Aufnahme von Flüchtlingen aus, was ebenfalls keine Mehrheit fand.

FPÖ gegen Sanktionspolitik der EU

Wenig Verständnis für die Politik der Bundesregierung im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine, zeigte die FPÖ. Österreich habe die Anerkennung als immerwährend neutrales Land ramponiert und verspielt, ohne damit einen nennenswerten Beitrag zur Sicherheit der Ukraine zu leisten, sagte Herbert Kickl. Sowohl Kickl als auch Axel Kassegger lehnen die Sanktionspolitik ab. Sie wollen die Neutralitätspolitik nicht nur militärisch verstanden wissen. Für die Sanktionen werde die österreichische Bevölkerung die Zeche zahlen müssen, sie schädigten die österreichische Wirtschaft, so Kickl und Kassegger. Kickl wies dabei auf die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise und die hohen Wohnkosten hin. Flüssiggas nun in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Katar zu kaufen, Länder die keinerlei demokratische Strukturen hätten, sei heuchlerisch, gefährde Österreich und helfe der Ukraine nicht. Kassegger warnte davor, dass durch die EU-Politik neue Allianzen zwischen Russland, China, Indien und den Iran geschmiedet würden.

Kickl lehnte dezidiert die NATO ab und meinte, diese sei kein Verteidigungsbündnis mehr, sondern ein strategisches Interventionsbündnis unter dem Kommando der USA. Einen eventuellen EU-Beitritt der Ukraine, wie ihn die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Aussicht gestellt hatte, bezeichnete er als "ein Spiel mit dem Feuer". Der freiheitliche Klubobmann sprach sich für eine neutrale Ukraine als Brückenkopf zwischen West und Ost aus, und das wäre seiner Meinung nach auch eine neutrale Position Österreichs. Eine Lösung sei nur am Verhandlungstisch zu erzielen.

Kickls Fraktionskollegin Dagmar Belakowitsch kritisierte die "Kriegsrethorik des Bundeskanzlers" und plädierte für Deeskalation anstatt weiter "Öl ins Feuer zu gießen". Um gegen die "von Nehammer angezettelte Neutralitätsdebatte" ein Zeichen zu setzen, brachte Susanne Fürst (FPÖ) einen Entschließungsantrag ein, der auf die Festschreibung der immerwährenden Neutralität und des Ausschlusses eines NATO-Beitritts abzielt. Dieser fand keine Mehrheit. Ebenso wie zwei von Reinhard Eugen Bosch (FPÖ) eingebrachte Initiativen mit denen einerseits ein Sonderinvestitionspaket für das Bundesheer sowie eine Anhebung des Regelbudgets "Militärische Angelegenheiten" auf 1% des BIP und andererseits die Wiedereinführung des achtmonatigen Grundwehrdienstes veranlasst werden soll. Abgelehnt wurde auch ein Fristsetzungsantrag der Freiheitlichen bezüglich des Impfpflichtgesetzes.

NEOS: Europa muss unabhängig von den USA handlungsfähig werden

Ganz anders die NEOS. Es sei wichtig, klar Stellung zu beziehen und den Aggressor eindeutig zu benennen, unterstrich Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger. Sie warnte vor einer Flugverbotszone über der Ukraine, aber ein kompromissloses Drehen an allen Schrauben und damit wirtschaftliche Sanktionen hält sie für geboten. Ihr Klubkollege Helmut Brandstätter bezichtigte Putin der Kriegsverbrechen, zumal kürzlich humanitäre Korridore beschossen wurden. Wir hätten es wissen müssen, wer Putin ist, sagte er. Als positiv bewertete Meinl-Reisinger, dass das Kalkül Putins nicht aufgegangen ist. Die EU sei geschlossen. Sie forderte rasch weitere Sanktionen, zumal Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen jetzt stattfänden.

Zur Neutralitätsdiskussion meinte sie: Wann, wenn nicht jetzt. Die Appeasementpolitik habe uns blind gemacht für das, was mit der Besetzung der Krim offensichtlich war. Sie sprach sich mit Brandstätter daher dafür aus, sachlich und gefestigt in der westlichen Wertegemeinschaft über ein handlungsfähiges Europa unabhängig von den USA nachzudenken. Denn handlungsfähig zu sein, heiße auch, souverän zu sein, und heiße, wehrhaft zu sein. Neutralität bedeutet nicht unbedingt auch Sicherheit, ergänzte Brandstätter. Stephanie Krisper (NEOS) forderte bessere Regelungen für die flüchtenden Menschen aus der Ukraine. So sei Österreich, was die Unterbringung, den Zugang zu Grundversorgung und zum Gesundheitssystem sowie die Registrierung betreffe nur mangelhaft vorbereitet.

ÖVP: Der Krieg ist von Russland ausgelöst worden, und das darf man nicht relativieren

Österreich war neutral, ist neutral und wird auch neutral bleiben, stellte Gabriela Schwarz seitens der ÖVP klar. Die Frage stelle sich nicht. Wie ihre Klubkollegin Bettina Rausch hob sie vor allem die große Hilfsbereitschaft für die Leidtragenden in der Ukraine hervor.

Reinhold Lopatka machte Russland für den Krieg in der Ukraine verantwortlich. Der Krieg ist nur von einer Diktatur und von russischer Seite ausgelöst worden, und das dürfe man nicht relativieren, meinte er vor allem in Richtung FPÖ. Er zeigte auch kein Verständnis für die Kritik der FPÖ an der NATO. Wollen Sie einen Westen, der nicht von der NATO geschützt wird, fragte er.

Der 24. Februar 2022 habe jedenfalls eine Epoche beendet. Positiv hob Lopatka hervor, dass sich die EU schon lange nicht so geeint und gefestigt gezeigt habe und zollte vor allem auch Polen, Ungarn, der Slowakei und Rumänien für deren Hilfe Respekt. Das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine nannte der ÖVP-Mandatar Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das müsse ein Nachspiel haben, fügte er hinzu und erinnerte auch an die menschenverachtende Politik Putins bisher, wie die Auftragsmorde, Vergiftungen und die Besetzung der Krim deutlich machten. Russland sei aber isoliert, nur 4 (Nordkorea, Weißrussland, Eritrea und Syrien) von 193 Länder hätten in der UNO-Vollversammlung gegen die Resolution gestimmt.

Elisabeth Pfurtscheller (ÖVP) brachte einen 4-Parteien-Antrag von ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS ein, worin gefordert wird, sich besonders für Frauen und Kinder als speziell Leidtragende des Krieges in der Ukraine einzusetzen. Der Antrag wurde einstimmig angenommen. Mehrheitliche Zustimmung fand ein von Carmen Jeitler-Cincelli (ÖVP) eingebrachter Antrag von ÖVP, Grünen und NEOS, der auf weitere politische und humanitäre Unterstützung für die Ukraine sowie auf den Einsatz für eine Einstellung der russischen Angriffe abzielt.

Grüne: Überfall auf europäische Werte

Auch die Grünen sehen in Putin den  Alleinverantwortlichen. Er habe das Völkerrecht gebrochen, betonte Sigrid Maurer. Der Krieg gegen die Ukraine sei ein Überfall auf europäische Werte. Auch die EU leiste Widerstand, um Putins Regime in die Schranken zu weisen. Die österreichische Regierung unternehme alles, um den Menschen in der Ukraine zu helfen. Dem diene auch der Antrag zur Unterstützung geflüchteter Frauen und Kinder, ergänzte Meri Disoski.

Ewa Ernst-Dziedzic brachte ihrerseits den geopolitischen Kontext der Ukraine-Krise zur Sprache und meinte, man dürfe keineswegs übersehen, dass Putin auch Rückendeckung habe. Das sei China, das einen Völkermord innerhalb seiner eigenen Grenzen begehe. Außerdem seien Putins Raketen auch in Syrien. Nicht aus den Augen verlieren dürfe man den Westbalkan, wo es enge Verbindungen zu Russland gebe.

Michel Reimon (Grüne) richtete sich gegen die "taktische Spielerei" der SPÖ, die eine künstliche Neutralitätsdebatte angezettelt hätte. Fest stehe, dass man nicht mehr zu einer Neutralität der 1980er Jahre zurück könne, wo Österreich lediglich ein Instrument der Großmächte gewesen sei. Heute müsse man sich aktiv für Demokratiebewegungen und MenschenrechtsaktivistInnen international einsetzen. Die FPÖ bezeichnete er als "verlängerten Arm Putins". (Schluss Nationalrat) wit/jan

HINWEIS: Sitzungen des Nationalrats und des Bundesrats können auch via Livestream mitverfolgt werden und sind als Video-on-Demand in der Mediathek des Parlaments verfügbar.