Parlamentskorrespondenz Nr. 1471 vom 15.12.2022

Nationalrat beschließt nach kontroverser Debatte Reform des Maßnahmenvollzugs

Corona-Maßnahmen im Justizbereich werden verlängert

Wien (PK) – Mit den Stimmen der beiden Koalitionsparteien ÖVP und Grüne passierte heute die Reform des Maßnahmenvollzugs den Nationalrat. Sie zielt mit straf(prozess)rechtlichen Änderungen auf eine menschenrechtskonforme Modernisierung der Unterbringung von psychisch kranken Rechtsbrecher:innen ab.

Der Maßnahmenvollzug werde nach 50 Jahren ins 21. Jahrhundert geholt, betonte Justizministerin Alma Zadić und sprach von einer gerechten, menschenrechtskonformen und treffsicheren Regelung. Das Gesetz stelle den ersten Teil der Reform dar, der jene Voraussetzungen schaffe, unter denen jemand in den Maßnahmenvollzug eingewiesen werden kann. In einem zweiten Teil, der sich derzeit in Ausarbeitung befinde, geht es dann um die Behandlung und Betreuung der betreffenden Personen. Die Oppositionsparteien sahen demgegenüber keinen großen Schritt. Vor allem bemängelten sie die Regelungen für verurteilte Terrorist:innen, da keine präventiven Maßnahmen ergriffen würden. Begrüßt wurden hingegen die eigenen Bestimmungen für jugendliche psychisch kranke Straftäter:innen.

In zwei weiteren Punkten des Justizblocks ging es um die internationale Zusammenarbeit bei Kindesentführungen und die Verlängerung von Corona-Maßnahmen.

Reform des Maßnahmenvollzugs zwischen Regierung und Opposition umstritten

Trotz Übereinstimmung, dass der Maßnahmenvollzug reformbedürftig ist, erhielt der Entwurf zum " Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 " nach getrennter Abstimmung nur die Stimmen von ÖVP und Grünen.

Der Gesetzesantrag sieht als erste Reformschritte Änderungen im Strafgesetzbuch (StGB), der Strafprozessordnung (StPO) und im Jugendgerichtsgesetz (JGG) vor. Neben der menschenrechtlichen wird eine "ressourcenbewusste" Modernisierung des Maßnahmenrechts angestrebt, geht aus den Erklärungen hervor. So werden im Rahmen der Möglichkeiten zur moderaten Entlastung des Strafbereichs zivilrechtliche Unterbringungen in Psychiatrien für weniger gefährliche psychisch kranke Rechtsbrecher:innen angedacht. Außerdem sollen die gesetzlichen Begrifflichkeiten neutraler werden, etwa durch die Formulierung "schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung" anstatt von "geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad".

Eine Einweisung in den Maßnahmenvollzug soll künftig erst bei Taten erfolgen, deren Strafdrohung drei Jahre – und nicht wie bislang ein Jahr - beträgt, sofern es sich dabei nicht um eine schwere Körperverletzung oder ein Sexualdelikt handelt. Jugendliche sollen erst nach einem Kapitalverbrechen – ab zehn Jahren Strafdrohung – in den Maßnahmenvollzug kommen, wobei der Gesetzesvorschlag auf die Beiziehung von jugendpsychiatrischen Sachverständigen bei der Diagnostik abstellt. Überprüft werden die Maßnahmen laut Novellenentwurf künftig jährlich. Für verurteilte Terrorist:innen sind Neuerungen vorgesehen, die an die Bestimmungen für gefährliche Rückfallstäter:innen angelehnt sind. Dazu wird §23 StGB ergänzt.

SPÖ: Gesetzentwurf geht nicht weit genug und verhindert keine terroristischen Anschläge

Für die SPÖ sind die Reformschritte, die nun im Maßnahmenvollzug gesetzt werden, zu gering. Wie Selma Yildirim (SPÖ) ausführte, begrüße man zwar, dass diskriminierende Begriffe geändert werden, aber es gehe auch um die Sicherheit der Bevölkerung, und diese werde durch den Gesetzentwurf nicht verbessert.

Die SPÖ stößt sich vor allem an den neuen Bestimmungen für verurteilte Terrorist:innen und die Ergänzung des §23 StGB. Dies werde Österreich nicht sicherer machen, weil das geplante Gesetz einen Terroranschlag nicht verhindere, da die neuen Bestimmungen erst dann greifen, nachdem eine terroristische Tat verübt wurde. Dies müsse anders geregelt werden, unterstrichen Selma Yildirim und Christian Drobits (SPÖ). Terroristische Taten müssen möglichst im Vorfeld verhindert werden, so die SPÖ-Abgeordneten, dies könne aber nur durch Professionalität in der Arbeit der Polizei und der

Nachrichtendienste erfolgen. Daher sollten zuallererst die Empfehlungen der Untersuchungskommission ("Zerbes-Kommission"), die nach dem Terroranschlag vom 2. November 2020 eingerichtet worden ist, umgesetzt werden. Ein entsprechend von Selma Yildirim eingebrachter Entschließungsantrag fand jedoch nicht die erforderliche Mehrheit. Die Sozialdemokrat:innen fordern darin, alle Empfehlungen der genannten Kommission vollinhaltlich umzusetzen und dem Nationalrat in geeigneter Weise zu berichten. Dabei wird betont, dass geheime Details im Ständigen Unterausschuss des Innenausschusses zur Überprüfung von Maßnahmen zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit zu berichten seien, der Rest in einem schriftlichen Bericht an den Nationalrat dargestellt werden sollte.

Auch Harald Troch (SPÖ) nannte die Vorlage "bescheiden" und meinte, es habe im Maßnahmenvollzug in den letzten Jahren keinen Stillstand gegeben. Er erinnerte an die zweimalige Verurteilung durch den Menschenrechtsgerichtshof und an einen Ministerialentwurf aus dem Jahr 2015, der seiner Auffassung nach viel weiter gegangen sei als der vorliegende Entwurf. Wie Yildirim forderte er mehr finanzielle und personelle Ressourcen, um die Inhaftierten besser therapieren und auf die Freiheit vorbereiten zu können. Troch verlangte auch Gespräche mit den Bundesländern, da Personen, die nicht in den Maßnahmenvollzug gehören, in Spitälern untergebracht werden, und diese fallen in die Zuständigkeit der Länder.

Grundsätzlich positiv bewerteten die Sozialdemokrat:innen aber die eigenen Regelungen für Jugendliche. Dies sei ein sensibler Bereich, sagte Sabine Schatz (SPÖ) und machte darauf aufmerksam, dass man für nicht Volljährige eigene Einrichtungen mit einer entsprechenden psychiatrischen Betreuung benötigen würde.

NEOS fordern bessere Qualität bei Gutachten

Ähnlich argumentierten die NEOS. Was beschlossen wird, sei die Sicherungshaft, die der ehemalige Bundeskanzler Sebastian Kurz vorgeschlagen hat, stellte Nikolaus Scherak (NEOS) fest. §23 StGB sei totes Recht, da nach diesem bisher nur eine Person verurteilt worden sei. Scherak hält es daher für unverständlich, dass man diese Bestimmung nun noch erweitert. Das sei fakten- und wissensfrei, so der NEOS-Mandatar, der auch von einer reinen Anlassgesetzgebung sprach. Den Anlass, nämlich das Terrorattentat vom 2.November 2020 in Wien, hätte man mit dieser Reform nicht verhindern können.

Sein Klubkollege Johannes Margreiter (NEOS) konzentrierte sich bei seiner Kritik auf die Anordnung zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug und ortete dabei einen dringenden Verbesserungsbedarf im Hinblick auf die Qualität der Gutachten. Denn es müsse die Zurechnungsfähigkeit und Gefährlichkeit geklärt werden, man müsse sozusagen einen Blick in die Zukunft machen, und das sei der Unterschied zum normalen Strafgericht. Margreiter wies darauf hin, dass sich die forensische Psychiatrie stark weiterentwickelt habe und nannte die Schweiz als Vorbild, wo es eine Begutachtung durch ein breiteres Expert:innengremium gibt. In seinen Augen macht aber die Regierung gerade das Gegenteil und schraube die Anforderungen an die Gutachten und Gutachter:innen herunter.

FPÖ wirft Regierung Kostenersparnis anstelle des Schutzes der Gesellschaft vor

Ebenso wenig kann Harald Stefan seitens der Freiheitlich einen guten Ansatz erkennen. Ihm kommt es so vor, als ob die Kosten von der Justiz nun auf die Gesundheitssysteme verlagert werden sollen. Daher stehe bei diesem Gesetzentwurf die Kostenersparnis im Vordergrund und weniger der Schutz der Gesellschaft. Das notwendige Auffangnetz für jene, die nun nicht mehr in den Maßnahmenvollzug kommen, existiere nicht in ausreichendem Ausmaß, bemängelte er. Stefan befürchtet auch, dass nun das Gesundheitspersonal einer Gefahr ausgesetzt sein könne.

Wie Stefan kritisierte auch Philipp Schrangl (FPÖ), dass trotz jährlicher Überprüfung, Personen trotz Gefährlichkeit ohne Probezeit nach 15 Jahren entlassen werden können. Schrangl brachte auch die hohen Belegzahlen im Maßnahmenvollzug mit dem Strom an Flüchtlingen und Migrant:innen im Jahr 2015 in Zusammenhang. Er zeigte sich zudem skeptisch, was die sprachliche Anpassung betrifft, zumal es sich bei den Betreffenden um Straftäter:innen und nicht um Patient:innen handle, und verlangte mehr Personal in den Anstalten.

Sowohl Stefan als auch Schrangl begrüßten aber die strengeren Regelungen für terroristische Straftaten. Diesen Punkten stimmten die Freiheitlichen in Zweiter Lesung auch zu, auch wenn sie in Dritter Lesung den Gesetzesantrag ablehnten.

Zadić: Die Neuregelung des Maßnahmenvollzugs ist treffsicher und gerecht

Justizministerin Alma Zadić widersprach der oppositionellen Kritik heftig. Die Neuerungen seien treffsicher und gerecht, sagte sie. Personen, die eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen, würden selbstverständlich weiterhin im Maßnahmenvollzug bleiben, Personen aber, deren Fremdgefährdung besser nach dem Unterbringungsgesetz behandelt werden können, sollen nicht mehr im Maßnahmenvollzug untergebracht werden. Sie unterstrich zudem die eigenen Regelungen für Jugendliche und dass man vom Begriff "Anstalt" weggehe.

Zadić verteidigte auch die Bestimmungen für Terrorist:innen. Damit können verurteilte Personen unter klar geregelten, strengen Voraussetzungen, ähnlich wie gefährliche Rückfalltäter:innen, untergebracht werden, sagte sie und ergänzte, dass es sich dabei nicht um eine präventive Maßnahme handle. Die Voraussetzung dafür, dass jemand unter die Bestimmung fällt, ist, dass die Anlasstat ein schweres Terrordelikt ist, dass es eine schwere Vortat gab und dass zu befürchten ist, dass die betreffende Person weitere terroristische Straftaten begeht. Die Regelung sei MRK-konform, betonte die Ministerin, der §23 StGB sei kein totes Recht. Sie hob ferner hervor, dass unter ihrer Ressortleitung dem Maßnahmenvollzug mehr Geld zur Verfügung stehe und sie viel investiere, um eine bessere Betreuung sicherzustellen.

Grüne: Straftäter:innen dort unterbringen und behandeln, wo sie hingehören

Der Gesetzentwurf stellt einen wesentlichen Schritt dar, um den Maßnahmenvollzug in das 21. Jahrhundert zu holen, begrüßte auch Agnes Sirkka Prammer (Grüne) die Reform. Menschen dürften nicht dort, wo sie nicht hingehören, untergebracht werden. Der heutige Beschluss schaffe die Grundlage für den zweiten Reformschritt, nämlich die Maßnahmen und richtigen Methoden zu bieten, wie man mit den Betroffenen umgeht. Ziel sei die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, sofern das möglich ist.

In Richtung SPÖ und NEOS meinte Prammer, sie würden zur Terrorbekämpfung etwas verlangen, was nicht in den Justizbereich fällt, sondern in die Verantwortlichkeit des Innenministeriums.

ÖVP: Die Reform ist fachgerecht und menschenrechtskonform

Auch Michaela Steinacker (ÖVP) unterstützte die Reform. Es sei eine fachgerechte und menschenrechtskonforme Behandlung sichergestellt, auch stehe ein wesentlich besserer Expert:innenpool zur Verfügung. Man erhöhe die Zahl der Gutachter:innen und nun würden auch klinische Psycholog:innen hereingeholt. Steinacker gab zu bedenken, dass es sich bei dieser Materie um ein schwieriges und verantwortungsvolles Thema handle, zumal es um die Beurteilung durch Psycholog:innen und Psychiater:innen gehe, auf deren Grundlage Menschen lebenslang eingewiesen werden. Es gehe aber auch um die Anhaltung und Behandlung der Straftäter:innen, um diesen  eine Perspektive geben zu können. Wie die Grünen bekräftigte auch die Justizsprecherin der ÖVP, dass man weiterhin intensiv weiterverhandle, um den zweiten Teil der Reform bald vorlegen zu können. Man schaue genau hin, wenn es um die Anordnung freiheitentziehender Maßnahmen gehe, verteidigte auch Johanna Jachs (ÖVP) die Reform und betonte, dass der Maßnahmenvollzug effektiver gestaltet werde.

Bei den Terrorismusregeln habe man die Rahmenbedingungen genau überlegt, entgegnete Steinacker der SPÖ und den NEOS. Sie und Jachs begrüßten ferner die eigenen Regelungen für Jugendliche.

Internationale Zusammenarbeit gegen Kindesentführung

Ein einstimmiges Votum gab es für eine Erklärung der Republik Österreich zur Annahme der Beitritte Boliviens und Jamaikas zum Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung. Das multinationale Abkommen hat eine Erleichterung der Zusammenarbeit in Fällen internationaler Kindesentführungen zum Ziel.

Debatte um Verlängerung der Corona-Maßnahmen: Einige Maßnahmen könnten ins Dauerrecht übernommen werden

Bis zum 30. Juni 2023 werden ein weiteres Mal die Sonderbestimmungen im Justizbereich zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie verlängert. Das betrifft unter anderem das Abhalten von Gerichtsverhandlungen über Videokonferenzen. Die Gebührenfreiheit der Unterhaltsvorschussgewährung wird es laut Vorlage im kommenden halben Jahr ebenfalls geben. Dem entsprechenden Gesetzesantrag stimmte neben den Koalitionsparteien auch die SPÖ zu. FPÖ und NEOS warnten in der Debatte vor pauschalen Verlängerungen von in einer Notsituation entstandenen Bestimmungen auf Kosten rechtsstaatlicher Standards.

So meinte etwa Harald Stefan (FPÖ), die Regierung tue so, als hätten wir noch immer die Pandemie. Die Notmaßnahmen einfach zu verlängern, sei der falsche Weg. Dem schloss sich auch Johannes Margreiter (NEOS) an, der darauf hinwies, dass bereits in vielen Bereichen die 3-G-Regel gefallen sei. Ruth Becher (SPÖ) unterstrich die Sensibilität der Verlängerung, weil es hier um Grundrechte gehe, und kündigte an, dass die SPÖ kein weiteres Mal einer Verlängerung der Maßnahmen zustimmen werde.

Von den drei Oppositionsparteien kam aber auch das Signal, dass sie durchaus offen seien, so manche Corona-Regelungen im Justizbereich in dauerhaftes Recht zu übernehmen, sollten sich diese als sinnvoll erwiesen haben. Diesbezügliche Gespräche wurden dann auch von Agnes Sirkka Prammer (Grüne) und Karl Schmidhofer (ÖVP) bestätigt. Prammer gab aber zu bedenken, dass die Pandemie noch keineswegs vorüber sei und man nicht wisse, was die nächsten Wochen und Monate bringen werden. Justizministerin Alma Zadić stellte in Aussicht, dass man den Zeitraum für die Verlängerung nicht ausschöpfen werde und berichtete, dass mit Expert:innen geprüft werde, welche Maßnahmen man ins Dauerrecht übernehmen könnte.

Geändert werden das 1. COVID-19-Justiz-Begleitgesetz, das 2. COVID-19-Justiz-Begleitgesetz, das Gesellschaftsrechtliche COVID-19-Gesetz, die Rechtsanwaltsordnung und das Disziplinarstatut für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter.

Der von den NEOS vorgelegte Entschließungsantrag zur besseren Bezahlung der Rechtsanwält:innen fand nicht die erforderliche Mehrheit. Johannes Margreiter (NEOS) argumentierte, dass die Verlängerung der Maßnahmen der COVID-19-Justiz-Begleitgesetze für Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen weiterhin eine Herausforderung darstellen. (Fortsetzung Nationalrat) jan

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