Parlamentskorrespondenz Nr. 1483 vom 20.12.2022

Zwist über Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens auch im Bundesrat

EU-Ausschuss der Länderkammer debattiert kontrovers Österreichs Veto-Haltung; außerdem Thema: Arbeitsrechte in der Gig-Economy

Wien (PK) – Österreichs derzeitiges Veto gegen einen Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien sorgte heute im EU-Ausschuss des Bundesrats, an dem neben dem Innenministerium auch die Wirtschaftskammer teilnahm, für eine heftige Auseinandersetzung. Während die FPÖ eindringlich davor warnte, den Schengenraum ohne effektive Sicherung der EU-Außengrenzen auszuweiten, zeigten sich SPÖ und NEOS bestürzt über die Blockadehaltung der Regierung, die nicht nur dem reibungslosen Personenverkehr – Stichwort Pflegekräfte – schade, sondern auch der Wirtschaft. Die Grünen äußerten ebenfalls kein Verständnis für das Veto und unterstrichen, Rumänien und Bulgarien erfüllten laut Überprüfungen der EU die Kriterien zur Schengen-Aufnahme schon seit 2011. Seitens der ÖVP wurde die Bedeutung des Schengenraums für den Binnenmarkt hervorgehoben, allerdings auch auf die Verstärkung des Außengrenzschutzes gepocht, ehe eine Erweiterung der Freizügigkeit ohne Grenzkontrollen vorgenommen werden kann.

Das Innenministerium argumentierte das Vorgehen der Regierung mit Zahlen: Demnach seien 2022 in Österreich bis Ende Oktober bereits 100.000 Migrant:innen aufgegriffen worden, 75.000 davon unregistriert wegen mangelnder Kontrolle an der Außengrenze. Vielfach kämen die illegalen Migrant:innen über Schlepperrouten durch den Westbalkan, so ein BMI-Experte im Ausschuss. Die Wirtschaftskammer hielt dem die Anzahl aktiver österreichischer Firmen in Rumänien und Bulgarien entgegen, nämlich insgesamt 1.850, sowie die 15,1 Mrd. € an Direktinvestitionen aus Österreich und jährliche Exportumsätze von 3,8 Mrd. €. Folglich gelte es, die "exzellenten Wirtschaftsbeziehungen" zu erhalten. Diskussionsgrundlage bot eine Mitteilung der EU-Kommission zur Stärkung des Schengenraums.

Weniger Meinungsverschiedenheiten gab es in der Debatte rund um einen Kommissionsvorstoß zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in der Plattformwirtschaft (Gig-Economy), wie der Verkauf von Produkten und Dienstleistungen – etwa Lieferungen - über Foren im Internet genannt wird. Aus dem Wirtschaftsministerium heißt es dazu, man bekenne sich zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ausbeutung und zur Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Plattformunternehmen. Um dabei die verschiedenen Arbeitsmarktmodelle der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, werde auf EU-Ebene nun eine Kompromisslösung für einen gemeinsamen Rechtsrahmen angestrebt.

EU-Kommission drängt auf Schengen-Erweiterung

In ihrer Mitteilung zur nächsten anvisierten Schengen-Erweiterung hält die EU-Kommission fest, Bulgarien, Kroatien und Rumänien befänden sich in einer wichtigen geografischen Lage, besonders in Hinblick auf die Außengrenzsicherung der Union. Aus Sicht der Kommission sind in diesen Ländern jedoch alle Voraussetzungen erfüllt, um nicht nur den außengrenzüberschreitenden Personen- und Warenverkehr, sondern auch Sicherheitsbedrohungen an diesen Grenzen effizient zu bewältigen. Zudem biete der kürzlich eingeführte "Schengen-Steuerungszyklus" den nötigen gemeinsamen politischen Rahmen, um Herausforderungen wie illegalen Migrationsströmen beizukommen. Laut Kommission unterstützen dabei der "Schengen-Rat" und das "Schengen-Forum" einen transparenten und konstruktiven Dialog zwischen den EU-Organen und den Mitgliedstaaten, nicht zuletzt beim koordinierten Vorgehen gegen grenzüberschreitende Kriminalität. Dank des neuen und verstärkten Schengen-Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus, dem Bulgarien, Kroatien und Rumänien mit einem Schengen-Beitritt unterliegen würden, könnten etwaige Mängel und Abhilfemaßnahmen rechtzeitig festgestellt werden. Deutlich hält die Kommission fest, diese achte Erweiterung des Schengen-Raums würde nicht nur das gegenseitige Vertrauen und die Einheit zwischen den Mitgliedstaaten bestätigen und stärken. Das 1985 zwischen fünf Mitgliedstaaten begonnene Projekt der zwischenstaatlichen Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen würde dadurch auch "als integraler Bestandteil des EU-Rechts" in seiner Weiterentwicklung unterstützt. Marco Schreuder (Grüne/W) appellierte angesichts dessen, Rumänien und Bulgarien "als Partner zu begreifen, nicht als Gegner". Am Beispiel von rumänischen Arbeitskräften in der heimischen 24-Stunden-Pflege warnte er, Österreichs Veto-Haltung könne als "Geringschätzung" der Betroffenen gewertet werden.

BMI weist auf "Asylbelastung" hin

In seiner Stellungnahme zur Kommissionsmitteilung hält das BMI fest, 2022 seien bis Ende Oktober 89.867 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich gestellt worden, um 30,55 % mehr als im Vergleichszeitraum zum "Krisenjahr" 2015 mit 68.837 Anträgen. In der pro Kopf Belastung liege Österreich bei den Asylanträgen auf Platz zwei und in absoluten Zahlen auf Platz vier, hinter Deutschland, Frankreich und Spanien. Die Migrationssituation zeige, dass die Registrierung und der Außengrenzschutz an der Grenze zur Türkei nicht angemessen funktioniere. Den Schengen-Beitritt von Kroatien unterstütze man hingegen, weil das Migrationsgeschehen an der kroatisch-bosnischen und kroatisch-serbischen Grenze stabil auf einem niedrigen Niveau sei. Der Vertreter des Innenministeriums versicherte im Ausschuss aber, gemeinsam mit den europäischen Partnern an Lösungen zu arbeiten, die eine Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in den Schengenraum in absehbarer Zeit ermöglichen würden, wobei der Experte das zweite Halbjahr 2023 vor Augen hatte. Grundlage dafür biete ein "5-Punkte-Plan" des Innenressorts, der unter anderem auf finanzielle EU-Unterstützung des Außengrenzschutzes und beschleunigte Asylverfahren an den Außengrenzen sowie die Möglichkeit der Grenzsicherung durch Zäune abstelle.

Veto: Unterstützung bei FPÖ und ÖVP, Ablehnung bei SPÖ, NEOS und Grünen

Von der FPÖ wurde ein Antrag auf Stellungnahme eingebracht, in dem die Ablehnung jeder Schengen-Erweiterung "ohne effektiven Grenzschutz" festgehalten wird. Außerdem sollten die EU-Mitgliedstaaten nach Ansicht der Freiheitlichen unbefristet die Möglichkeit erhalten, ihre Grenzen kontrollieren zu dürfen, wie Polen dies mit seinen Grenzbarrieren zu Weißrussland vorgezeigt habe. Keinesfalls solle Innenminister Gerhard Karner seinen harten Kurs gegen eine Ausweitung des Schengenraums nach der kommenden Landtagswahl in Niederösterreichs ändern, mahnte Johannes Hübner (FPÖ/W), der die Kommissionsmitteilung zur Schengen-Erweiterung als realitätsfern bezeichnete. Sein Antrag fand bei den anderen Fraktionen im Ausschuss zwar keine Zustimmung, die niederösterreichische Landtagswahl sahen aber auch Stefan Schennach (SPÖ/W) und Karl-Arthur Arlamovsky (NEOS/W) als "motivationsentscheidend" für die Bundesregierung an. Immerhin hätten die ÖVP-Mandatar:innen im Europaparlament sich für den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien ausgesprochen. Schennach erinnerte zudem, dass keines der beiden Länder direkt an Österreich grenzt, vielmehr liege in Ungarn bei der Kontrolltätigkeit einiges im Argen. Arlamovsky verwehrte sich dagegen, das "dysfunktionale Asylsystem in Europa" mit Schengen zu vermischen.

Der Experte des Innenressorts sah wiederum keine "Wahlkampftaktik" im Zusammenhang mit der Veto-Entscheidung. Vielmehr arbeite man daran, nach erfolgtem Veto nun in Abstimmung mit den anderen EU-Ländern die Außengrenzkontrollen zu verbessern, um die Bekämpfung von illegaler Migration und Schlepperkriminalität voranzutreiben. Für die ÖVP unterstützte neben Ferdinand Tiefnig (ÖVP/OÖ), der außerdem eine bessere Verteilung der Migrant:innen in der EU einforderte, auch Ausschussobmann Christian Buchmann (ÖVP/St) die derzeitige Position von Bundeskanzler und Innenminister. Ein "Maximum an Freiheiten im Binnenmarkt" kann es nach Buchmanns Auffassung nur mit effektivem Außengrenzschutz geben.

Lieferdienste & CO: EU-Kommission will bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte

Bei den Rechten von Arbeitnehmer:innen gibt es EU-weite Mindeststandards. Im Rahmen der immer größer werdenden "Plattformarbeit" (Gig-Economy) greift der arbeits- und sozialrechtliche Besitzstand der EU jedoch nicht. Bei Unternehmen wie Lieferdiensten tätige Personen seien allzu häufig Scheinselbständige, heißt es im Richtlinienvorschlag, der nun auch für online-Anbieter von Waren und Leistungen Mindestkriterien zum Schutz der Beschäftigten vorsieht. So sollen Plattformanbieter anhand vorgegebener Kriterien den tatsächlichen Beschäftigungsstatus der bei ihnen Tätigen anführen, was aus Sicht des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft (BMAW) einer "Beweislastumkehr" zu Lasten der Plattformbetreiber entspricht. Dadurch würden beispielsweise vermeintlich Selbständige im Dienst einer Lieferfirma den Zugang zu Arbeitnehmerrechten wie Mindestlohn, Tarifverhandlungen, geregelten Arbeitszeiten, Gesundheitsschutz oder bezahltem Urlaub erhalten, aber auch zu Sozialschutz bei Arbeitsunfällen, Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter. Ein Experte aus der Arbeiterkammer (AK) wies auf den wachsenden Umfang der Plattformarbeit in Europa hin. Ihm zufolge arbeiten derzeit EU-weit rund 28 Millionen Menschen für gut 500 Plattformen – etwa Uber und Lieferando – bis 2025 sollen es 43 Millionen werden. Dem vor diesem Hintergrund formulierten Lob der AK für die Anstrengungen der Kommission, einen rechtlichen Rahmen für die Plattformwirtschaft zu schaffen, schloss sich die Wirtschaftskammer (WKO) jedoch nicht an. Deren Experte im Ausschuss meinte, erhöhter rechtlicher Druck auf diesen Wirtschaftszweig könne die Abwanderung derartiger Firmen in Drittstaaten befeuern. Zwar bekannte sich der WKO-Experte zu fairen Beschäftigungsbedingungen und verwies dabei auf Bestimmungen in Österreich wie die auch für Selbstständige geltende Pflichtversicherung. Doch gab er zu bedenken, für Menschen mit Hindernissen beim Arbeitsmarktzugang biete die Gig-Economy echte Chancen. 

Algorithmen-Entscheidungen anfechtbar machen

Weiters sieht der Entwurf mehr Informationspflichten in Bezug auf die automatisierte Überwachung und Auswertung der Arbeitsleistung – das "algorithmische Management" - im Rahmen der Plattformwirtschaft vor, sodass auf Algorithmen basierende Entscheidungen inklusive deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen auch von Menschen überprüft bzw. angefochten werden können. Außerdem will die Kommission die Betreiber verpflichten, ihre Tätigkeit samt Beschäftigten in jenem Land anzumelden, in dem sie erbracht wird. Zum Schutz von "Personen, die Plattformarbeit leisten" – so der Wortlaut im Richtlinienentwurf-, schlägt die Kommission auch mehrere Rechtsbehelfe und Mittel zur Rechtsdurchsetzung vor. Unter anderem soll es einen Zugang zu wirkungsvoller und unparteiischer Streitbeilegung geben, inklusive Schadenersatz, erläutert das BMAW. Die Sinnhaftigkeit von EU-Regelungen in diesem Bereich, die Johannes Hübner (FPÖ/W) in Hinblick auf geltendes Arbeitsrecht hinterfragte, sei bei der Plattformwirtschaft jedenfalls gegeben, meinte eine Fachexpertin aus dem Wirtschaftsministerium. Das heimische Arbeitsrecht sei zwar ein "gutes, bewegliches System", behandle allerdings "grenzüberschreitende Phänomene" nicht ausreichend.

Die SPÖ ist besorgt, dass die Zielsetzungen der Kommission für verbesserte Arbeitsbedingungen und zur Bekämpfung von jeglicher Scheinselbstständigkeit in der Plattformarbeit bei den Ratsverhandlungen "verwässert" werden, wie Schennach (SPÖ/W) anhand eines Antrags auf Stellungnahme seiner Fraktion formulierte. Seine steirische Fraktionskollegin Elisabeth Grossmann erklärte, häufig seien die Plattformen "übernational organisiert", weswegen es unbedingt einen EU-Rechtsrahmen dafür brauche. Mit dem Antrag wollten die Sozialdemokrat:innen erreichen, dass von österreichischer Seite daran gearbeitet wird, ehestmöglich einen Kompromiss zur Zielerreichung mit den anderen EU-Mitgliedstaaten zu finden. Sie stimmten aber als einzige für die Initiative. Österreich trage das Kommissionsvorhaben mit, informierte die Ministeriumsvertreterin den Ausschuss. Nachdem einige EU-Länder Bedenken angemeldet hätten, habe man sich bei der letzten Ratsarbeitssitzung auch für das Kompromisspapier ausgesprochen, das jedoch unzureichend Zustimmung unter den EU-Mitgliedern erhielt. Die heimische Unterstützung der laufenden Arbeiten zur Umsetzung des Richtlinienvorschlags führte Andrea Eder-Gitschthaler (ÖVP/S) als Grund an, weswegen die Volkspartei den SPÖ-Antrag ablehnte, obwohl sie sich den Argumenten anschloss, die für klarere gesetzliche Regelungen in der Plattformwirtschaft sprechen. (Fortsetzung EU-Ausschuss Bundesrat) rei


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