Parlamentskorrespondenz Nr. 82 vom 30.01.2023

Sektenbericht: Corona-Mythen und die Rolle der sozialen Netzwerkplattformen bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien

Wien (PK) – Die religiöse und weltanschauliche Landschaft ist seit längerer Zeit einem raschen Wandel unterworfen und spaltet sich immer stärker in kleinere Gemeinschaften auf, ist dem aktuellen Sektenbericht für das Jahr 2021 zu entnehmen (III-821 d.B.). Stand vor einigen Jahren noch der Bereich der "Staatsverweigerer" oder der "staatsfeindlichen Verbindungen" im Fokus der Bundesstelle für Sektenfragen, so wurde dieser von dem Phänomen der Verschwörungstheorien abgelöst, die sich seit Beginn der Coronakrise in einem ungeahnten Ausmaß verbreitet haben. Eine besondere Rolle nahmen dabei die "sozialen Netzwerkplattformen" ein, wobei vor allem Telegram einen enormen Popularitätsschub erlebte. Um einen besseren Einblick in die konkrete Arbeit der Bundesstelle zu geben, werden im 184 Seiten umfassenden Bericht - unter strikter Wahrung des Datenschutzes – zahlreiche ausgewählte "Fallbeispiele" aus der Praxis präsentiert.

Zentrale Servicestelle bietet trotz angespannter Personalsituation umfangreiches Beratungs- und Hilfsangebot

Die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bundesstelle für Sektenfragen, an die sich im Jahr 2021 insgesamt 1.883 Personen gewandt haben, steht seit 1998 als zentrale Service- und Anlaufstelle allen Privatpersonen, Institutionen und staatlichen Einrichtungen zur Verfügung. Seit Beginn ihrer Tätigkeit wurden Informationen zu mehr als 2.900 unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, Organisationen oder Angeboten eingeholt. Trotz zahlreicher coronabedingter Einschränkungen kam es zu einem weiteren Anstieg an Kontakten. Nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesstelle fallen die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Neben möglichst objektiver und vertraulicher Information und Dokumentation bietet die Einrichtung individuelle psychosoziale Beratungen (583 Fälle im Jahr 2021), Präventionsarbeit sowie Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen an. Aufgrund des hohen Interesses an bestimmten Themen stiegen die Medienanfragen nochmals deutlich an und bildeten somit einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt. Neu war die enorme Nachfrage nach Teilnahme von Expert:innen der Bundesstelle bei Informationsveranstaltungen sowie bei Fort- und Weiterbildungsseminaren. Es zeigte sich, wie sehr die Bundesstelle als kompetente Ansprechpartnerin sowohl im Print-, Radio- als auch im TV-Bereich zu Recherche- und Interviewanfragen wahrgenommen wird.

Was den Personalstand angeht, so ist die Situation aufgrund der in den vergangenen Jahren erfolgten Kürzung des Gesamtbudgets um rund 20% weiter angespannt, heißt es im Bericht. Trotz einer kontinuierlich steigenden Anzahl an Beratungsfällen und neu hinzugekommenen Aufgaben besteht das multiprofessionelle Team ebenso wie in den Vorjahren aus fünf Mitarbeiter:innen, wobei nur zwei vollzeit- und drei teilzeitbeschäftigt sind.

Im Netz der Mythen

Generell sind die Mitarbeiter:innen mit einem breiten Spektrum an Themen und Bereichen konfrontiert, das von Weltanschauungsfragen, Esoterik, Okkultismus, Satanismus, Wunderheilungen, fundamentalistischen Strömungen, Angeboten zur Lebenshilfe bis hin zu religiösem Extremismus reicht. Im letzten Jahr standen aber erneut oft Anfragen im Zusammenhang mit der Coronakrise im Fokus der Beratungen. In einem eigenen Kapitel mit dem Titel "Im Netz der Mythen" wird daher das Geschehen rund um die sogenannten Maßnahmenkritiker:innen im Jahr 2021 dargestellt. Eine generelle Pejorisierung oder gar Kriminalisierung dieser Personen sei abzulehnen, betonen die Autor:innen. Nichtsdestotrotz sollen Gruppierungen, die als bedenklich eingestuft werden, auch genannt werden. Angesichts der Fülle an maßnahmenkritischen Narrativen konzentriert sich der Bericht auf die Analyse der wesentlichen Mythen, die von den Aktivist:innen bedient werden: Spaltung der Gesellschaft, Diskriminierung von Maßnahmengegnern und Ungeimpften, "The Great Reset" und der "Transhumanismus", die unwirksame oder schädliche Impfung sowie Alternativen zur Impfung bzw. zur Behandlung von COVID-19.

Die Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie hatten von Beginn an zu aktionistischen und medial breit aufgegriffenen Formen des Widerstands geführt. Die im Frühjahr 2021 einsetzende Impfkampagne sowie die Diskussion um eine in Österreich letztlich im Februar 2022 in Kraft getretene Impfpflicht haben diese Proteste offenkundig noch stark befeuert. Neben Demonstrationen im öffentlichen Raum ("Spaziergänge", Autokorsos, etc.) spielten vor allem Aktivitäten im Internet eine große Rolle. Sogenannte "alternative Medien" erhoben einen Anspruch auf "Wahrheit", den die als "System-" oder "Mainstreammedien" bezeichneten etablierten und herkömmlichen Medien angeblich nicht leisten können.

Die Bedeutung sozialer Netzwerkplattformen für das verschwörungstheoretische Milieu

Eine große Bedeutung hatte das Teilen bedenklicher Inhalte durch Sympathisant:innen der Maßnahmenkritiker in den sozialen Medien. Dazu zählen neben den "klassischen" sozialen Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram, YouTube usw. auch eher unbekannte Angebote wie 4chan, 8chan oder Reddit sowie Messengerdienste. Vor allem die aus Russland stammende Plattform Telegram erlebte mit dem Einsetzen der COVID-19-Pandemie und dem Aufkommen der sogenannten "Querdenker"- bzw. "Fair-Denker"-Bewegung im deutschsprachigen Raum einen regelrechten Boom. Sie fungierte als zentrale Drehscheibe sowohl in organisatorischer als auch in ideologischer Hinsicht.

Der größte Vorteil dieses Messengerdienstes aus Sicht der Benutzer:innen liegt wohl darin, dass auf Telegram weder Falsch- und Desinformationen (beispielsweise zu Impfungen, der Schutzwirkung von FFP2-Masken oder Verschwörungstheorien) entsprechend ausgewiesen, noch beleidigende, verhetzende oder potenziell strafrechtlich relevante Inhalte gesperrt werden. Außerdem bietet Telegram vielfältige Möglichkeiten des Austausches sowie einen einfachen und niederschwelligen Zugang, zumal für die Anmeldung lediglich die Eingabe der eigenen Telefonnummer ausreicht. Verschiedene Szene-Größen und relevante Personen der Querdenker-Bewegung, der Maßnahmenkritiker:innen und des verschwörungstheoretischen Milieus sind auf Telegram ebenso vertreten wie maßgebliche rechtsextreme Influencer:innen.

In einem weiteren Schritt kommt vor allem den Multiplikator:innen eine wichtige Bedeutung zu. Prominente, wie etwa bekannte Schauspieler:innen, Künstler:innen und Politiker:innen, greifen einzelne Verschwörungstheorien auf, verbreiten diese dank ihrer großen Reichweite weiter und legitimieren sie auf diese Weise. Beispiele für derartige Mechanismen der Verbreitung von Verschwörungstheorien durch Prominente während der COVID-19-Pandemie waren etwa der bekannte Koch Attila Hildmann oder der Sänger Xavier Naidoo.

OSINT-Untersuchungen (Open Source Intelligence) des deutschen Instituts CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie) haben gezeigt, dass in den einschlägigen Gruppen auch rechtsextreme Medienberichte aus Österreich, konkret aus Oberösterreich, zu den am häufigsten geteilten Inhalten zählen. Eine hohe Reichweite hat etwa der verschwörungstheoretische, rechte Internet-Sender "AUF1", der einem ehemaligen Mitglied des neonazistischen "Bund Freier Jugend" zuzurechnen ist. Dieses rechte Medien-Cluster wird ergänzt durch die erst seit 2021 aktive Online-Plattform "Report24" sowie die Zeitschrift "Wochenblick". Über beträchtlichen Einfluss auf Telegram verfügt auch der "Sprecher" der neurechten Gruppierung "Identitäre Bewegung Österreich" (IBÖ) bzw. assoziierter Organisationen und Zusammenschlüsse.

Sektenstelle sieht Politik gefordert, gegen verschwörungstheoretische Inhalte, Personen und Gruppen auf Telegram vorzugehen

Zentral für das Verständnis des Radikalisierungspotenzials in einschlägigen Telegram-Gruppen ist, dass Anhänger:innen von Verschwörungstheorien und sogenannte Querdenker:innen dort nicht nur entsprechende Inhalte und ideologische Bestätigung, sondern ebenso soziale Interaktion suchen. Nicht selten führt das, vor allem was den "harten Kern" von Maßnahmenkritiker:innen betrifft, zu einer fast exklusiven Verlagerung des sozialen Lebens in den digitalen Raum. Typisch seien  auch eine "Verzahnung" einzelner Gruppen und Kanäle durch gegenseitige Verweise, eine starke internationale Vernetzung, eine Radikalisierungstendenz sowie eine "Blasen-Bildung", da sich der Austausch nur mehr auf Gleichgesinnte beschränkt.

Dass derartige Phänomene hinsichtlich des Gewaltpotenzials sehr ernst genommen werden müssen, zeigten Medienberichte, wonach Mitglieder einer Telegram-Gruppe Krankenhäuser in oberösterreichischen Städten "infiltrieren" wollten. Die Anhänger:innen aus dem verschwörungstheoretischen Milieu planten demnach, mit Kameras und falschen Presseausweisen ausgestattet, die angebliche "Lüge von den vielen Toten" in den Spitälern "aufzudecken". Im Zusammenhang mit Gewaltaufrufen gegen Gesundheitspersonal auf Telegram steht auch ein im Dezember 2021 erfolgter tätlicher Angriff gegen eine im Gesundheitsbereich tätige Person in Braunau am Inn. Ein besonders drastischer Fall wurde im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz aufgedeckt: Eine Gruppe plante über Telegram, den deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen und seinen Personenschutz zu "beseitigen". Sie wollte zudem mit Sprengstoffanschlägen auf Kraft- und Umspannwerke bürgerkriegsähnliche Zustände herbeiführen.

Die Sektenstelle weist darauf hin, dass es im Berichtszeitraum zwar Ankündigungen von Seiten der Bundesregierung gegeben hat, gegen verschwörungstheoretische Inhalte, Personen und Gruppen auf Telegram vorgehen zu wollen, konkrete Ergebnisse und Vorhaben allerdings noch fehlen würden.

Fallbeispiele insbesondere im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie

Der Bericht enthält eine Reihe von ausgewählten Fallbeispielen, die dazu beitragen sollen, die tägliche Arbeit der Bundesstelle für Sektenfragen besser zu veranschaulichen. So wandte sich etwa ein Arzt an die Sektenstelle, dessen Eltern seine medizinische Expertise stark bezweifelten und ihn als "Marionette der Pharmaindustrie" bezeichneten. Selbst als der Großvater an den Folgen einer COVID-19-Infektion verstarb, wurde diese Diagnose von den Eltern nicht akzeptiert. Zusätzlich vertraten sie diverse Verschwörungstheorien, die darin gipfelten, dass sie sich mit verfolgten Jüdinnen und Juden des Holocaust verglichen. Der Vater des Arztes meinte sogar, er würde sich lieber umbringen als einer Impfpflicht nachzukommen.

In einem konträren Fall machte ein Hausarzt einer kleineren Gemeinde Stimmung gegen die Impfung. In seiner Praxis hing ein Zettel, dass man keine Masken tragen sollte, da diese schädlich seien. Bei diversen Erkrankungen behauptete er, die Ursache wäre die Impfung, egal, ob es Hautausschläge, depressive Verstimmungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren, berichtete ein Bewohner der Gemeinde. Er zögerte jedoch, sich an die Ärztekammer zu wenden, da der Mediziner sehr beliebt war und es zuvor schon schwierig gewesen sei, seine Stelle zu besetzen.

Die Leiterin eines esoterischen Zentrums wiederum war überzeugt davon, dass geimpfte Personen gefährliche Strahlen verbreiten würden und Teil eines Plans wären, sieben Milliarden Menschen zu töten. Man könnte es zudem an der Aura sehen, ob eine Person geimpft sei. Wenn man mit geimpften Personen zusammentreffe, würden sich diverse Gesundheitsprobleme einstellen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Ausschläge etc. Zudem würden Geimpfte stinken und als "Superspreader" erst recht COVID-19 übertragen.

Besonders betroffen von den Einstellungen und Entscheidungen der Eltern waren oft auch die Kinder, wie ein weiterer Fall zeigte.

Eine Familie war etwa überzeugt davon, dass die Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie nur dazu dienten, der Bevölkerung Computerchips zu implantieren, sie zu versklaven oder gleich zu töten. Da in Kürze eine Militärdiktatur entstehen würde, wollte die Familie samt den drei Kindern auswandern, wie eine besorgte Angehörige der Sektenstelle berichtete. Ziel sollte eine Kommune Gleichgesinnter in Südamerika sein, wo "weder Chemtrails versprüht", noch "5G-Masten zur Gedankenkontrolle" eingesetzt würden.

Auch kam es vor, dass Kinder aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht mehr in die Schule gehen durften. Ein Mann berichtete, dass seine ehemalige Lebensgefährtin berichtete, dass sie die Verwendung von Masken und Tests grundsätzlich ablehnte. Sie befürchtete nämlich, dass damit Roboter ins Gehirn eingesetzt würden. Bei Demonstrationen kam die Kindesmutter mit einer christlich-konservativen Gemeinschaft in Kontakt, die ebenfalls Impfungen kategorisch ablehnte und die Pandemie als das Wirken Satans interpretierte. Die Frau wollte Mitglied dieser Gruppe werden, die sehr abgeschieden lebte, und verwehrte in der Folge dem Vater den Kontakt zur Tochter. (Schluss) sue