Parlamentskorrespondenz Nr. 119 vom 07.02.2023

EU will Krisen gestärkt begegnen

Wien (PK) - Das EU-Arbeitsprogramm 2023 stehe ganz im Zeichen der gegenwärtigen Krisen, betonen Bundeskanzler Karl Nehammer und die für Verfassung und Europa zuständige Bundesministerin Karoline Edtstadler in ihrem gemeinsamen Bericht (III-878 d.B. und III-814-BR/2023 d.B.) über die heurige Arbeitsagenda der Europäischen Union. Vor allem Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Energiekrise stelle die EU vor ungeahnte Herausforderungen, die sie geeint bewältigen müsse. Neben der Gewährleistung der Versorgungs- und Lebensmittelsicherheit für Bürger:innen habe daher die Aufrechterhaltung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit bei einer gleichzeitigen Stärkung der sozialen Marktwirtschaft oberste Priorität. Angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheiten plant die EU-Kommission laut Bundeskanzleramt in diesem Jahr erstmals eine Neubewertung ihres Arbeitsprogramms nach dem Winter, speziell hinsichtlich wettbewerbsrelevanter Aspekte. Eine Überprüfung der Funktionsweise des mehrjährigen Finanzrahmens fasst die Kommission ebenfalls ins Auge, möglicherweise einschließlich einer Überarbeitung der finanziellen Planung bis 2027.

Viel Gewicht wird in den Arbeitsprogrammen der EU-Kommission und des Rats überdies der Ökologisierung von Gesellschaft und Wirtschaft zur Bekämpfung des Klimawandels und sowie der Digitalisierung gegeben. So soll heuer mit der Entwicklung eines "digitalen Euro" im Sinne einer Stärkung der Gemeinschaftswährung begonnen werden. Den EU-Integrationsprozess am Westbalkan will Schweden als Ratsvorsitzland im ersten Halbjahr 2023 vorantreiben. Weiterverfolgt werden soll auch die im Vorjahr erfolgte Entscheidung des Europäischen Rates, der Ukraine und Moldau den Kandidatenstatus zu verleihen und Georgien eine europäische Perspektive zu geben.

Strategische Vorschau für mehr Resilienz in der EU

Ein wichtiges Instrument zur Förderung der Krisenfestigkeit und Governance in der EU nennt Europaministerin Edtstadler die "Strategische Vorausschau" der Europäischen Kommission. In dieser Steuerungsplanung aufgezeigte Zukunftsszenarien würden dazu beitragen, dass die EU resilienter und strategisch autonomer agiert, insbesondere in Hinblick auf "für sie ungünstige Abhängigkeitsverhältnisse". Österreich sieht im aktuellen Kommissionsbericht zur Strategischen Vorausschau seine Prioritäten für Gesetzgebungsvorschläge berücksichtigt, beispielsweise die Reform des EU-Wettbewerbsrahmens, die Reform der Beihilfevorschriften sowie Stresstests für wesentliche Lieferketten, etwa bei kritischen Rohstoffen.

Bis Ende Juni 2023 soll der Abschlussbericht zur strategischen Planung vorliegen, unter Berücksichtigung der vier Themenschwerpunkte Energie, Lebensmittel, Gesundheit und digitale Technologie. Diskutiert werden die darin skizzierten Vorschläge dann in den zuständigen Ratsarbeitsgruppen.

Aktive Subsidiarität in der EU-Gesetzgebung

Im Rat der Europäischen Union wollen die EU-Mitgliedsländer außerdem gestützt auf Erkenntnisse der Bürger:innenkonferenz zur Zukunft Europas die Prinzipien Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit in der Gesetzgebung effektiver zur Anwendung bringen. Unter anderem wurde von der Zukunftskonferenz, die ein Jahr lang bis Mai 2022 stattfand, die stärkere Einbeziehung von nationalen Parlamenten, Zivilgesellschaft und Sozialpartnern in den Gesetzgebungsprozess auf EU-Ebene gefordert. Österreich unterstütze das Grundprinzip der Subsidiarität im Sinne einer effizienten Aufgabenverteilung zwischen EU-Mitgliedstaaten und der EU, geht aus dem Bericht des Bundeskanzleramts hervor. Allerdings wird darin auch angemerkt, ein Teil der genannten Maßnahmen würde EU-Vertragsänderungen erfordern. Vor diesem Hintergrund seien die meisten Mitgliedstaaten der Meinung, der Fokus solle derzeit auf der Umsetzung der ohne Vertragsänderung möglichen Vorschläge der Zukunftskonferenz liegen.

Die "Fit for Future Plattform" der Europäischen Kommission ist aus Sicht des Bundeskanzleramts ein wichtiges Instrument im Bemühen um mehr Effizienz, Leistungsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit der EU-Rechtsetzung. Österreich lege dabei viel Wert auf die lebensnahe Gestaltung von Rechtsnormen, deren Auswirkungen auf kleine und mittlere Unternehmen sowie die Wahrung der Subsidiarität.

Zur Ermöglichung vermehrter Bürger:innenbeteiligung an der EU-Gesetzgebung wird auf Kommissionsebene ein neues interaktives online-Werkzeug geschaffen, in dem als "one-stop-shop" das bestehende "Have your say"-Portal und die Webseite der "Europäischen Bürgerinitiative" zusammengefasst werden sollen. Zudem hält die Europäische Kommission erstmals Bürgerforen ab, bei denen im Vorfeld Empfehlungen für wichtige Legislativvorhaben abgegeben werden. Das erste Forum wurde Mitte Dezember 2022 zum Thema "Lebensmittelverschwendung" gestartet. Im Jahr 2023 sind Bürgerforen zu den Themen "Lernmobilität" und "Virtuelle Welten" geplant.

Österreich skeptisch zu neuen EU-Eigenmitteln

Die aktuelle Trio-Präsidentschaft des Rats aus Schweden und dessen Vorgängern Tschechien und Frankreich hat vor, die Implementierung des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2021 – 2027 der EU besonders hinsichtlich der Umsetzung des COVID-19-bedingten Aufbauinstruments "NextGeneration EU" (NGEU) und der Finanzhilfen für die Ukraine zu beleuchten. Erörtert werden soll, ob der EU-Haushalt in der derzeitigen Ausgestaltung über ausreichend Mittel für gemeinsame Herausforderungen verfügt. Die EU-Kommission will in diesem Zusammenhang 2023 einen neuen Vorschlag für weitere Eigenmittel unterbreiten, nachdem ihr diesbezüglicher Entwurf Ende 2022 keine ausreichende Mehrheit unter den Mitgliedstaaten gefunden hat. Angedacht gewesen war, dass Brüssel direkt Gelder aus Quellen wie dem Emissionshandelssystem oder der Besteuerung von multinationalen Unternehmen abrufen kann. Das Bundeskanzleramt hält dazu fest, Österreich stehe zwar den Verhandlungen zu neuen Eigenmitteln offen gegenüber, spreche sich aber gegen eine Revision des MFR zum aktuellen Zeitpunkt aus. Generell sollten die 2021 eingeführten neuen Eigenmittelquellen für die vorzeitige Rückzahlung der NGEU-Anleihen und nicht für neue Ausgaben verwendet werden. Die von der EU-Kommission durchgeführte Schuldenaufnahme zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie habe dabei einmalig zu bleiben, sonst könnten EU-Institutionen und Mitgliedsländer eine Vielzahl neuer Forderungen stellen.

EU-Mittel an Rechtsstaatlichkeit geknüpft

Auf Grundlage der 2020 eingeführten "Konditionalitäten-Verordnung" zum Schutz des EU-Haushalts setzte der Rat im Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn am 15. Dezember 2022 rund 6,3 Mrd. € an EU-Mitteln für die Kohäsionspolitik in Ungarn aus. Sobald Ungarn die erforderlichen Abhilfemaßnahmen korrekt umgesetzt hat, soll die Mittelsperre aufgehoben werden. Österreich trägt dem Bundeskanzleramt zufolge diesen Beschluss mit, zumal damit sichergestellt werde, dass EU-Gelder ordnungsgemäß unter Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien in der Union Verwendung finden. Im Rahmen des unionsweiten Mechanismus zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in der EU tagt am 25. April 2023 der Rat Allgemeine Angelegenheiten zur länderspezifischen Diskussion über fünf protokollarisch ausgewählte Mitgliedsstaaten.

Brexit prägt weiterhin Beziehung zum Vereinigten Königreich

Die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit 2020 müssen verbessert werde, stimmt das Bundeskanzleramt mit Brüssel überein. Nachdem die EU-Kommission bereits Vorschläge zur Erleichterung der Umsetzung des Nordirland-Protokolls gemacht hat, liege es nun an London, diese Bemühungen zu erwidern, um ein erneutes Aufflammen der Gewalt an der inneririschen Grenze – die seit dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU zur Außengrenze der Union geworden ist – zu vermeiden. Denn gänzlich fehlende Warenkontrollen in den Häfen der Irischen See zwischen Großbritannien und Nordirland würden die Integrität des EU-Binnenmarktes gefährden. Gleichzeitig appelliert Wien an die Kommission, den Gesprächsverlauf mit dem Vereinigten Königreich transparent zu halten. Die Weiterentwicklung der Beziehungen zur Schweiz hat sich die EU ebenfalls auf ihre diesjährige Agenda geschrieben, wobei Österreich auf eine möglichst enge Partnerschaft mit dem Nachbarland drängt.

Nachhaltige Entwicklung über Europa hinaus

Von Klimaschutz bis Armutsbekämpfung erfordern viele Herausforderungen ein globales Vorgehen. Dementsprechend zielt die UNO-Agenda 2030 auf verstärkte multilaterale Kooperation für nachhaltige Entwicklung ab. Das Programm der Trio-Präsidentschaft verweist im Hinblick auf die Förderung der Interessen und Werte Europas in der Welt darauf, dass der nachhaltigen Entwicklung eine Priorität in internationalen Verhandlungen und Foren eingeräumt werden wird, mit besonderem Gewicht auf Klimadiplomatie gemäß der Vorgaben des Europäischen Grünen Deals. In Bezug auf Entwicklung und humanitäre Hilfe wird auf eine Forcierung der Umsetzung der Agenda 2030 und der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) gesetzt und der Fokus auf Entwicklungszusammenarbeit und Stabilisierung gelegt. Österreich hat laut Bundeskanzleramt bereits 2020 freiwillig einen nationalen Bericht zur SDG-Umsetzung vorgelegt. Heuer wird ein zweiter derartiger Bericht ausgearbeitet, der 2024 erscheinen soll.

Kampf gegen Antisemitismus

Der EU-Strategie zur Verhütung und Bekämpfung von Antisemitismus misst Österreich einen hohen Stellenwert zu. Immerhin sei unter dem österreichischen Ratsvorsitz 2018 die Entscheidung gefallen, in allen EU-Mitgliedstaaten ganzheitliche nationale Strategien gegen Antisemitismus zu erarbeiten. Außerdem sollen diese Konzepte dem Schutz und der Förderung jüdischen Lebens in der EU dienen und Aufklärung, Forschung und Gedenken an den Holocaust unterstützen. Österreich war dem Bericht zufolge 2021 eines der ersten EU-Länder, das eine derartige Strategie ausgearbeitet hatte und zur Umsetzung brachte, etwa durch aktive Mitarbeit an der EU-weiten Datenlage zu antisemitischen Hassverbrechen. Um internationale Kooperationen in diesem Bereich zu verstärken, veranstaltete das Bundeskanzleramt gemeinsam mit der EU-Grundrechteagentur im Mai 2022 die "European Conference on Antisemitism" (ECA) in Wien. Eine Folgekonferenz ist für April 2023 geplant. (Schluss) rei