Parlamentskorrespondenz Nr. 206 vom 24.02.2023

Russischer Angriffskrieg in der Ukraine: Nehammer will an Neutralität festhalten

NEOS pochen bei NR-Sondersitzung ein Jahr nach Kriegsbeginn auf neue Sicherheits- und Energiestrategie

Wien (PK) – Eine Schweigeminute im Gedenken an die Opfer des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine: Damit startete der Nationalrat heute seine Sondersitzung genau ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf sein Nachbarland. Außerdem gedachten die Abgeordneten in dieser Trauerminute den Opfern des jüngsten Erdbebens in der Türkei und Syrien. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka erinnerte eingangs, vor genau einem Jahr sei "das Undenkbare zur Realität geworden", nämlich dass "Frieden und Freiheit auf dem europäischen Kontinent nicht länger gegeben" sind. Er bezog sich dabei auf das Leiden der Ukrainer:innen, nachdem "Putins Panzer" ihren Angriff gestartet hatten. Die Ablehnung dieses "nicht rechtzufertigenden" Angriffskriegs müsse als "Grundverständnis" bei allen Fraktionen bestehen, appellierte Sobotka. Kaum fassbar nannte der Nationalratspräsident auch die Folgen der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien, mit Abertausenden Toten und Verwundeten. Verfolgt wurde die Sitzung im Plenum des Nationalrats auch von einer ukrainischen Parlamentarierdelegation sowie von den Botschaftern aus der Ukraine und der Türkei, die Sobotka herzlich begrüßte.

Die NEOS, auf deren Verlangen die Sondersitzung zurückging, richteten an Bundeskanzler Karl Nehammer die dringliche Anfrage, wie er Österreichs Freiheit und Sicherheit angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine gewährleisten wolle. Konkret fordert die jüngste Fraktion im Parlament, sowohl die sicherheitspolitische Ausrichtung Österreichs – Stichwort Neutralität – zu überdenken, als auch die Abhängigkeiten der Republik von Energieimporten massiv zu mindern. Laut NEOS hat Russland seine Gaslieferungen an Europa jahrzehntelang zur politischen Einflussnahme genutzt, ebenso wie "Desinformationskampagnen" und die "Unterstützung von links- und rechtsextremen Parteien."

Kanzler Nehammer bekannte sich wiederum zur militärischen Neutralität, weil Österreich dadurch als "Brückenbauer" für Gespräche wirken könne. Dennoch stehe das Land klar auf der Seite der Ukraine, verwies er auf die von Österreich mitgetragenen EU-Sanktionen gegen Russland sowie auf humanitäre Hilfsleistungen an das angegriffene Land. Eine Neuausrichtung der Energiepolitik, die Österreich unabhängig von russischem Gas macht, ist Nehammer zufolge nicht nur im Gange, ihr Erfolg habe sich bereits letzten Winter bewiesen, als die Gasspeicher trotz russischer Lieferminderungen zu einem hohen Grad gefüllt waren. Langfristig setze die Regierung auf den Ausbau erneuerbarer Energieträger.

Meinl-Reisinger: Österreich muss Neutralität überdenken

Österreichs Bekenntnis zur Neutralität ist angesichts des Angriffs Russlands auf sein Nachbarland in den Augen von NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger nicht mehr haltbar. Mit Putins Einfall in die Ukraine seien die Grundfesten der europäischen Friedensordnung - Rechtsstaatlichkeit und internationale Verträge - "obsolet" geworden. Diese "Zeitenwende" sieht die NEOS-Klubobfrau jedoch in Österreich bis dato nicht angekommen. Die heimische Sicherheitsstrategie sei veraltet und definiere Russland immer noch als Partnerstaat. "Nostalgie schützt uns nicht", forderte Meinl-Reisinger ein stärkeres Auftreten aller EU-Länder für eine souveräne Sicherheitspolitik in Partnerschaft mit der NATO.

Die Republik braucht aus Sicht der NEOS angesichts multipler Gefahren – von Cyberattacken über Terrorismus bis hin zum konventionellen Krieg – "eine gemeinsame Verteidigung mit unseren Wertepartnern". Dem Bundesheer mehr Budget zu geben, reiche nicht aus, wenn der Einsatz des Geldes nicht klar definiert werde. Meinl-Reisinger verwies auf die geänderte Sicherheitsstrategie der Baltischen Länder sowie der NATO-Beitrittskandidaten Finnland und Schweden, um auf die Dringlichkeit eines Umdenkens angesichts der massiven Zerstörungen in der Ukraine hinzuweisen. In Österreichs "ureigenstem Interesse" müsse "Putin in der Ukraine gestoppt werden". Sanktionen reichten dafür nicht aus, so die NEOS-Obfrau, die "mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer" würden zeigen, was es heißt, "mutig für ihre Freiheit zu kämpfen". Putin habe den Krieg bereits verloren.

Ausstieg aus russischem Gas noch 2023

Meinl-Reisinger nahm in ihren Ausführungen zur dringlichen Anfrage nicht nur die amtierende Regierung aus ÖVP und Grünen in die Pflicht, die Gasimporte zu diversifizieren und mehr Tempo beim Ausbau erneuerbarer Energien in Österreich zu machen. Auch SPÖ und FPÖ hätten während ihrer Zeit in der Regierung dazu beigetragen, dass Österreich weiterhin zu "über 70 Prozent seines Gasbedarfs" aus Russland importiere und dadurch die russische Kriegsmaschinerie mitfinanziere. 7 Mrd. € hat Österreich laut Meinl-Reisinger im letzten Jahr für Gas an Russland gezahlt, aber nur 600 Mio. € Hilfsgelder an die Ukraine.

Sogar nach der russischen Besetzung von Teilen Georgiens und der Krim hätten österreichische Regierungsmitglieder und Vertreter:innen der Wirtschaftskammer den russischen Präsidenten Wladimir Putin "freundschaftlich" empfangen, zeigen die NEOS erbost auf. Dabei hätte spätestens die Annexion der Krim ein "Weckruf" sein müssen, sagte Meinl-Reisinger. Der vor einem Jahr gestartete Krieg Putins gegen die gesamte Ukraine sei "lange vorhergesagt worden". Nunmehr brauche es eine rasche Umsetzung etwa des Energieeffizienzgesetzes, um den Ausstieg aus russischem Gas "binnen sechs Monaten" zu ermöglichen.

In zahlreichen ihrer insgesamt 45 Fragen an Nehammer wollen die NEOS folglich Auskunft über einzelne Gesetzesvorhaben zur Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus. Überdies hinterfragen sie die Vorteile der Neutralität für die Sicherheit Österreichs. Immerhin habe die Republik sich bislang nicht als Vermittlerin zwischen den Kriegsparteien hervorgetan, anders als beispielsweise das NATO-Mitglied Türkei. Zudem könnte sich Österreich nach Ansicht der NEOS durchaus gemäß Bundesverfassung im Rahmen der europäischen Solidarität an gemeinsamen Militäraktionen mit anderen EU-Ländern beteiligen. "Friedenssicherung und Friedensschaffung" müsse für die Europäische Union Priorität haben, unterstrich Meinl-Reisinger. Vor diesem Hintergrund stehe auch einer Luftraumüberwachung und –verteidigung von österreichischem Hoheitsgebiet nichts im Weg. Ebenso zulässig sei die Ausbildung ukrainischer Soldaten am Kampfpanzer Leopard bzw. zur Minenräumung durch Österreich, was wiederum Kanzler Nehammer in Abrede stellte.

Nehammer: Neutralität hilft Brücken zu bauen

Bundeskanzler Nehammer unterstrich, die österreichische Neutralität "war, ist und bleibt" hilfreich und nützlich für das Land. Sie helfe in "vielen Bereichen", so seien 52 internationale Organisationen wie die UNO in Wien verortet, wodurch Gesprächskanäle offengehalten werden könnten, und zwar weltweit. Selbst "beim schlimmsten Konflikt" könnten dadurch die Konfliktparteien miteinander reden, verteidigte er die Einladung von russischen Teilnehmern an der heutigen OSZE-Tagung in Wien. Österreich trage mit seiner "wehrhaften" und "aktiven Neutralitätspolitik" dazu bei, "Frieden zu erhalten", verwies er auf zahlreiche Friedensmissionen des Bundesheeres. Dennoch benenne man Unrecht und helfe dort, wo Hilfe nötig ist, etwa bei der Beherbergung und Versorgung von Kriegsopfern oder beim Mittragen der EU-Sanktionspolitik gegen Russland sowie der Unterstützung der EU-Hilfen an die Ukraine im Umfang 52 Mrd. €. Waffenlieferungen an die Ukraine würden von Österreich nicht blockiert, das Land liefere aber selbst keine tödlich wirkende Ausrüstung. "Wir sind immer an der Seite der Ukraine, wenn es darum geht, zu helfen", verdeutlichte der Bundeskanzler, etwa durch direkte Hilfslieferungen aus Städten und Gemeinden.

Nehammer versteht sich unter dem Schirm der Neutralität als Brückenbauer, wie er anhand seiner Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten und mit Russlands Machthaber darstellte. Seitens der EU-Partner gebe es überdies "keinerlei" Hinweise darauf, eine historisch bedingte Neutralität wie die österreichische, die von einer großen Mehrheit der Österreicher:innen begrüßt werde, in Frage zu stellen. Eine "wesentliche Rolle" spiele das neutrale Österreich nicht zuletzt bei den Ländern den Westbalkans, appellierte Nehammer, dortige Konflikte trotz des blutigen Angriffskriegs auf die Ukraine nicht zu vergessen.

Recht gab Nehammer den NEOS ungeachtet dessen, "die Sicherheitsdoktrin gehört überarbeitet". Doch habe die militärische Landesverteidigung im letzten Budget mit "mehr als 5,2 Mrd. €" die höchste Mittelsteigerung ihrer Geschichte erhalten, was ihr bereits einen neuen Stellenwert verleihe. Österreich beteilige sich außerdem zu einem "überproportionalen Teil" an EU-Friedensmissionen. Ausbildungstätigkeiten für ausländische Kämpfer:innen schloss Nehammer in diesem Zusammenhang aber aus. Viel zu tun gebe es auch im Kampf gegen "Desinformation", die auf die Beeinflussung von Entscheidungsprozessen abzielen, mahnte er. Die Politik müsse daher ihre "klare Haltung" gegen den Krieg verdeutlichen, den "Aggressor" Russland benennen und dürfe nicht die Sanktionen als Ursache für die aufgrund des Kriegs befeuerte Teuerung darstellen.

Energieabhängigkeit wird laufend reduziert

"Österreich frei, sicher und unabhängig zu machen" sei oberstes Ziel der Bundesregierung, sagte Nehammer, wobei er für das bestehende Wirtschaftswachstum und die "Rekordbeschäftigung" ebenso wie für die Aufnahme ukrainischer Vertriebener im Land der Bevölkerung Respekt zollte. Die "außergewöhnlich langfristigen" Verträge der OMV mit Russland würden derzeit genau geprüft.

Der derzeit noch bestehenden Energieabhängigkeit Österreichs von Russland stellte der Bundeskanzler den hohen Auslastungsgrad heimischer Gasspeicher gegenüber, der trotz einer Reduktion der russischen Gaslieferungen in den letzten Monaten erreicht worden sei. "Putins Versuche", Europa und Österreich durch eine Minderung der Lieferungen zu "erpressen", seien misslungen. Vielmehr habe man die Energiesicherheit im Land mit strategischen Reserven ersetzt, so Nehammer, ressortübergreifende Krisenstäbe würden auf den Erhalt der Versorgungssicherheit achten. Langfristig müsse jedenfalls der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben werden, räumte Nehammer ein, wobei er auf durchgeführte Gesetzesänderungen verwies. Um den Fachkräftemangel bei "klimarelevanten Berufen" ehestmöglich zu beheben seien ebenfalls bereits Erleichterungen bei der Einwanderung ausländischer Fachkräfte in Kraft. Gleiches gelte für die Erfüllung der NEOS-Forderung, die Übergewinne der großteils öffentlichen Energieversorger der österreichischen Bevölkerung und Wirtschaft zugutekommen zu lassen. Die Transformation der Wirtschaft im Rahmen der Energiewende werde mit über 5 Mrd. € unterstützt.

Den Vorwurf der NEOS, Wien habe den Ruf einer "Spionagehochburg", da hierzulande ausgeübte Spionage gegen Drittstaaten nicht kriminalisiert werde, konterte Nehammer mit dem laufenden Ausbau des heimischen Nachrichtendienstes. Dessen Informationen würden dabei helfen, "rote Linien" festzustellen, die eine Ausweisung von Diplomat:innen bedingen. (Fortsetzung NR-Sondersitzung) rei

HINWEIS: Sitzungen des Nationalrats und des Bundesrats können auch via Livestream mitverfolgt werden und sind als Video-on-Demand in der Mediathek des Parlaments verfügbar.