Parlamentskorrespondenz Nr. 639 vom 07.06.2023

Kocher: EU will Wettbewerbsfähigkeit langfristig absichern und ihre Industriestrategie an Green Deal anpassen

EU-Unterausschuss debattiert über Mitteilungen der Europäischen Kommission zu Wettbewerb und Transformation der Industrie

Wien (PK) – Die Vorstellungen der Europäischen Kommission (EK) zu Absicherung der positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Europäischen Union auf längere Sicht waren heute Thema im EU-Unterausschuss des Nationalrats. Grundlage der Debatte der Abgeordneten mit Bundesminister Martin Kocher waren zwei Mitteilungen der EK, die wesentliche Zukunftsfragen der EU berühren.

Im März dieses Jahres hat die Kommission einen Entwurf zu einer gemeinsamen Strategie bzw. Roadmap zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der EU vorgelegt. Um künftiges Wirtschaftswachstum zu sichern, sollen den Unternehmen in der EU berechenbare und wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für ihre Investitionen geboten werden.

Die EK hat auch Vorschläge zu einem Industrieplan übermittelt, der den Green Deal der EU begleiten soll. Damit sollen die Führungsposition und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen im Bereich sauberer Schlüsseltechnologien gegenüber globalen Wettbewerbern ausgebaut und ein Beitrag für eine offene strategische Autonomie Europas geleistet werden.

EU will langfristige Wettbewerbsfähigkeit im neuen geopolitischen Umfeld sicherstellen

Die Europäische Kommission hat im März dieses Jahres eine Mitteilung über eine gemeinsame Strategie zur Sicherstellung und Stärkung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit der EU über 2030 hinaus vorgelegt. Wie Wirtschaftsminister Martin Kocher in einer einleitenden Stellungnahme sagte, sei die Mitteilung vor dem Hintergrund des dreißigjährigen Bestehens des EU-Binnenmarktes zu sehen. Der Binnenmarkt habe viel an zusätzlichem Wachstum gebracht, insbesondere Österreich habe davon profitiert. Angesichts des starken globalen Wettbewerbs und eines neuen geopolitischen Kontextes wolle die EK ein koordiniertes Monitoring zur Frage der EU-Wettbewerbsfähigkeit vornehmen, um eine langfristige Strategie erarbeiten zu können. Dabei gehe es darum, den Unternehmen berechenbare und wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für ihre Investitionen zu bieten, da dies darüber entscheiden werde, wo das künftige Wirtschaftswachstum stattfinden werde.

In diesem Sinne definiere die EU laut dem Wirtschaftsminister neun wesentliche Faktoren für die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit: Dazu zählten ein funktionierender Binnenmarkt, der Zugang zu privatem Kapital und privaten Investitionen, öffentliche Investitionen und Infrastruktur, Forschung und Innovation, Energie, Kreislaufwirtschaft, Digitalisierung, Ausbildung und Kompetenzen sowie Handel und strategische Autonomie. Kocher maß dabei vor allem Investitionen, der Verfügbarkeit von erneuerbarer Energie und der Entlastung von Unternehmen durch die Reduktion von überbordenden Regulierungen eine zentrale Bedeutung bei.

ÖVP-Abgeordnete Maria-Theresia Niss meinte, die Mitteilung der Kommission spreche das globale Umfeld an und verweise richtigerweise auf die Notwendigkeit von Deregulierungsschritten. Für Niss ist auch wichtig, dass die Frage der Aus- und Weiterbildung und der Kompetenzen angesprochen würden. Georg Strasser (ÖVP) erkundigte sich, inwieweit die Strategie neue Aspekte über die bisherigen Überlegungen zur Wettbewerbsfähigkeit der EU enthalte.

Aus Sicht von FPÖ-Abgeordnetem Axel Kassegger geht das Papier der EU-Kommission kaum über eine "Sammlung von Überschriften" hinaus. Den Fachkräftemangel wertete er als hausgemachtes Resultat einer verfehlten Bildungspolitik, die auf "Überakademisierung" setze und eine Abwertung von Lehrberufen mit sich gebracht habe. Kassegger wollte vom Wirtschaftsminister wissen, ob hier an eine Neuorientierung gedacht sei.

Michel Reimon (Grüne) vermisste eine Strategie zu kritischen Rohstoffen, die auch eine Reduktion des Verbrauchs einschließt. Hier müssten Nachbesserungen erfolgen. Auch gebe es keine Klarheit darüber, wie viel an kritischen Rohstoffen, insbesondere seltenen Erden und Kobalt, in Europa überhaupt für einen potenziellen Abbau verfügbar seien.

Die Verfügbarkeit von Fachkräften, die es insbesondere auch für den digitalen und grünen Übergang brauche, sei ein zentraler Punkt für Wirtschaft und Industrie, stimmte Kocher Abgeordneter Niss zu. Die EU habe wenig Kompetenzen in Fragen der Qualifizierung, wisse aber um die Wichtigkeit des Themas. Daher gebe es Qualifizierungsanstrengungen in allen EU-Mitgliedsstaaten, da Arbeitskräftemangel nicht das Wachstum bremsen dürfe. Der Begriff der "Überakademisierung" treffe nicht zu, sagte Kocher in Richtung des Abgeordneten Kassegger. Vielmehr zeige sich, dass bei Akademiker:innen die geringste Arbeitslosenrate zu verzeichnen sei. Was die kritischen Rohstoffe betreffe, stimmte Kocher zu, dass es wichtig sei, den Verbrauch zu senken, zumal Europa selbst über sehr wenige davon verfüge. Hier seien strategische Partnerschaften mit anderen Ländern von Bedeutung. Als neuen Aspekt der Industriestrategie bewertete Kocher den Fokus auf strategische Autonomie bei wichtigen Industrieprodukten und auf die Erhaltung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit.

NEOS-Abgeordneter Gerald Loacker sagte, gerade der Freihandel sei ein wichtiger Faktor in der Sicherung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Er zeigte sich unzufrieden über die Haltung der österreichischen Bundesregierung zum MERCOSUR-Freihandelsabkommen. Die "dogmatische Blockadehaltung" Österreichs zur MERCOSUR sei nicht mehr angebracht und die Beschlüsse des Parlaments aus dem Jahr 2019 seien veraltet, da die damals vorgebrachten Begründungen sich erübrigt hätten. Loacker brachte einen Antrag auf Stellungnahme des Ausschusses ein, mit dem an die Mitglieder der Bundesregierung die Aufforderung ergehen sollte, "Verhandlungen zu internationalen Handelsabkommen nicht bereits vor deren Abschluss durch Vetodrohungen zu blockieren. Der Wirtschaftsminister solle daher die Möglichkeit erhalten, zusammen mit den europäischen Partnerstaaten die Verhandlungen in Richtung eines erfolgreichen Abschlusses des MERCOSUR-Freihandelsabkommens unterstützend begleiten zu können, um für alle Seiten zufriedenstellende Lösungen zu erarbeiten, sagte Loacker.

Der Antrag fand keine Unterstützung der anderen Fraktionen und wurde abgelehnt. SPÖ-Abgeordnete Melanie Erasim vertrat die Ansicht, dass die zu MERCOSUR gefassten Beschlüsse weiter gültig seien. Sie wollte vom Wirtschaftsminister wissen, ob es in Hinblick auf die bevorstehende Übernahme des EU-Ratsvorsitzes durch Spanien neue Entwicklungen bei den Verhandlungen gebe. Axel Kassegger (FPÖ) sah ebenfalls keine Notwendigkeit, die Beschlüsse zu Mercosur aufzuheben. Diese Ansicht vertrat auch Michel Reimon (Grüne), er meinte, es sei wichtig, den Verhandlungsdruck aufrechtzuerhalten.

Wirtschaftsminister Kocher betonte, die Beschlüsse des Parlaments würden nur bedeuten, dass Österreich dem Abkommen in der derzeitigen Form nicht zustimmen könne. Gespräche zu führen sei aber nicht verboten. Bisher hätten sich jedoch keine neuen Entwicklungen ergeben. Auch auf dem letzten Rat der EU-Handelsminister sei MERCOSUR nicht Thema gewesen und es gebe noch keine Aussagen, was von der spanischen Ratspräsidentschaft geplant sei.

Aus aktuellem Anlass frage SPÖ-Abgeordnete Erasim nach den Konsequenzen, die der Wirtschaftsminister aus der Schließung zahlreicher Kika/Leiner-Filialen ziehe. Hier handle es sich um einen "Skandal der Sonderklasse", dass zahlreiche Arbeitsplätze den Profitinteressen einiger weniger geopfert würden. Auch FPÖ-Abgeordneter Kassegger sah die Vorgänge um die Möbelkette kritisch und wollte wissen, ob der Wirtschaftsminister hier aufklärungsbedürftige Vorgänge sehe oder alles als "Business as usual" beurteile.

Wirtschaftsminister Martin Kocher betonte, dass er sofort nach Bekanntwerden der neuen Entwicklungen mit dem AMS Kontakt aufgenommen habe. Wichtig sei es, das Frühwarnsystem zu aktivieren und alles zu tun, damit Betroffene rasch wieder in Beschäftigung gebracht werden können.

Industrieplan soll Umsetzung des Grünen Deals der EU unterstützen

Vor dem Hintergrund der bevorstehenden Transformation der europäischen Industrie hat die Europäische Kommission den "Industrieplan zum Grünen Deal für das klimaneutrale Zeitalter" präsentiert und dazu eine Mitteilung vorgelegt. Die Green-Deal-Industriestrategie soll laut dem Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft die Produktion und Weiterentwicklung von grünen Technologien durch einen Mix aus Diversifizierungsmaßnahmen und Eigenproduktion vorantreiben. Seine Eckpunkte sind ein innovatives und vereinfachtes Regelungsumfeld für die Industrie, der schnellere Zugang zu ausreichender Finanzierung, die Förderung von Qualifikationen und offener Handel für widerstandsfähige Lieferketten.

Geplant ist, dass 40 Prozent des jährlichen EU-Bedarfs an grünen Technologien bis 2030 in Europa produziert werden sollen. Dazu setze die Kommission auf strategische Schlüsseltechnologien, teilt das Wirtschaftsressort mit. Genannt würden dabei Photovoltaik und Solarthermie, On- und Offshore-Windanlagen, Batterietechnologien, Wärmepumpen sowie die Geothermie. Auch grüner Wasserstoff, Biomethan und CO2-Abscheidung sowie Speicherung würden explizit angeführt. Atomenergie scheine nicht in der Liste der strategischen Technologien auf, werde aber als "Net-Zero-Industry" oder Nullemissions-Technologien gewertet. Diese Schlüsseltechnologien sollen entsprechend schnell ausgebaut werden können und dazu einen vorrangigen Projektstatus erhalten und von stark reduzierten Genehmigungsverfahren profitieren.

Wirtschaftsminister Kocher erläuterte, dass die Europäische Kommission den Industrieplan der EU an den Green Deal anpassen wolle. Zur legislativen Umsetzung dieses Green-Deal-Industrieplans habe sie bereits ein ambitioniertes Gesetzeswerk, den Net Zero Industry Act (NZIA-Verordnung) vorgestellt. Die Verordnung gelte als Antwort auf den Inflation Reduction Act (IRA) der USA und solle die europäische Industrie beim Umstieg auf saubere Energietechnologien stärken.

ÖVP-Abgeordnete Niss sah auch hier die Deregulierung als zentrales Thema der Umsetzung und wollte wissen, wie der Wirtschaftsminister die Ziele des NZIA insgesamt bewerte.

Katharina Kucharowits (SPÖ) meinte, eine klimaneutrale Industrie sei natürlich zu unterstützen. Allerdings erfordere der Umbau der Industrie auch neue Qualifikationen. Handlungsbedarf sah sie vor allem auf dem Energiemarkt, da die EU weiterhin nicht vom Merit-Order-System abgehe. Sie wertete es als unsinnig, an einem System festzuhalten, dass für Endverbraucher:innen hohe Energiekosten bedeute.

FPÖ-Abgeordneter Axel Kassegger wertete die Ziele des NZIA als "völlig überzogen". Kritisch sah Kassegger auch die Politik der EU und insbesondere der Europäischen Zentralbank (EZB) in Hinblick auf die Schuldenpolitik und Geldwertstabilität. Zur Finanzierung der Vorhaben werde weiter in Richtung einer Schuldenunion gegangen, meinte er. Er stellte daher einen Antrag auf Stellungnahme, der allerdings keine Unterstützung seitens der anderen Fraktionen fand.

Die Freiheitlichen wollen die Bundesregierung auffordern, sich auf europäischer Ebene "von ideologiegetriebenen Klimaverboten zu distanzieren". Stattdessen müsse eine "technologieneutrale Politik" zum Wohle der Interessen der österreichischen Bürger:innen und der Wirtschaft und Industrie verfolgt werden. Österreich solle zudem eine erneute gemeinsame Schuldenaufnahme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen des sogenannten Europäischen Souveränitätsfonds konsequent ablehnen. Außerdem solle sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für eine Beendigung des nach Meinung der FPÖ für die Wirtschaft schädlichen EU-Sanktionsregimes gegen Russland einsetzen.

Gerald Loacker (NEOS) sagte, er teile die Ansicht, dass es zu keiner Schuldenaufnahme der EU für die Umsetzung der Ziele des NZIA geben dürfe. Vom Wirtschaftsminister wollte er wissen, wie er den Förderwettbewerb zwischen den USA und der EU sowie der Mitgliedsstaaten untereinander bewerte.

Michel Reimon (Grüne) wies darauf hin, dass auch Atomkraft und CO2-Speicherung als Netto-Null-Technologien angeführt seien. Da es eine Reihe von Mitgliedsstaaten gebe, die diese wie Österreich ablehnen würden, sei es wichtig, mit diesen Bündnisse einzugehen.

Bundesminister Kocher sagte, dass es sich zweifellos um ein sehr ambitioniertes Gesetzgebungsvorhaben der EU handle, das Chancen, aber auch gewisse Gefahren enthalte. Unabweisbar sei aber, dass Österreich sich zu CO2-Zielen verpflichtet habe und diese umsetzen müsse. Daher begrüße man den Vorschlag für einen geeigneten Rechtsrahmen, um ein gutes Investitionsklima zu gewährleisten. Kocher wies darauf hin, dass Österreich bereits ein umfangreiches Förderinstrumentarium zur Transformation der Industrie geschaffen habe, das bereits erste Projekte fördere.

Wichtig sei es allerdings, einen schädlichen, nicht zielgerichteten Subventionswettlauf zu verhindern, stimmte Kocher Abgeordnetem Loacker zu. In der Frage der Finanzierung des NZIA sehe Österreich aktuell keinen Bedarf nach einer Erhöhung bestehender oder der Errichtung neuer bzw. zusätzlicher Finanzierungsinstrumente und lehne die Neuaufnahme gemeinsamer Schulden ab. Prioritär sollen unausgeschöpfte Budgetmittel aus bestehenden Finanzierungsinstrumenten umgewidmet werden. Allerdings sei es in der derzeitigen Phase wichtig, dass auch die öffentliche Hand investiere. Voraussetzung dafür sei aber, dass das zielgerichtet, befristet und in einem fairen Rahmen passiere, betonte der Wirtschaftsminister, damit im Sinne einer sparsamen Mittelverwendung keine Projekte gefördert, die gar nicht auf Subventionen angewiesen sind.

Sein Ressort begrüße Maßnahmen im Bereich der Unterstützung von Qualifikationen, die für den grünen Übergang zukünftig essentiell sein werden, versicherte Kocher Abgeordneter Kucharowits. Was den Strommarkt betreffe, so liege dieser nicht in seiner Zuständigkeit. Die Bunderegierung habe sich auf EU-Ebene intensiv, wenn auch letztlich erfolglos, um eine Entkoppelung von Gas- und Strompreis bemüht. Er sei der Auffassung, dass es auf Dauer nicht angehe, dass Erdgas den Strompreis bestimmt, und werde sich auf EU-Ebene weiterhin für eine Lösung einsetzen.

Zu den Anmerkungen von Abgeordnetem Reimon sagte Kocher, Österreich betrachte ausschließlich die erneuerbaren Energien als strategische Nullemissions-Technologien. Die Einbeziehung der Atomkraft sei aus österreichischer Sicht daher klar abzulehnen. (Schluss EU-Unterausschuss) sox