Parlamentskorrespondenz Nr. 731 vom 26.06.2023
Landesverteidigungsbericht 2022: Ernüchternder Befund über die Verteidigungsfähigkeit Österreichs
Wien (PK) – Der 24. Februar 2022 markiere eine Zäsur in der europäischen Sicherheitspolitik, da neben hybriden subkonventionellen Bedrohungen nun auch wieder die konventionelle militärische Einsatzführung an Bedeutung gewinne. Das geht aus dem erstmals vorliegenden Landesverteidigungsbericht (LV-Bericht) für das Jahr 2022 hervor (III-924 d.B.), der gemäß Landesverteidigungs-Finanzierungsgesetz (LV-FinG), das im Nachgang des russischen Angriffs auf die Ukraine beschlossen wurde, dem Nationalrat jährlich rollierend vorgelegt werden soll.
Der LV-Bericht erläutert die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und beschreibt die darauf erforderliche Reaktion und Strategie des Bundesministeriums für Landesverteidigung (BMLV). Er dient der Information über Maßnahmen zur Wiederherstellung der Fähigkeiten des Bundesheeres zur Abwehr gegenwärtiger in der Zukunft erwartbarer Bedrohungen. Im Überblick dargestellt werden besonders die Beschaffungs-, Personal- und Investitionsplanungen sowie konkrete Beschaffungsvorhaben mit geplanter Laufzeit und erwartetem budgetärem Umfang. Der vorliegende Erstbericht enthält eine umfassende Darstellung, während sich die Folgeberichte auf die Umsetzung und eventuelle Veränderungen konzentrieren sollen. Der LV-Bericht soll es dem Gesetzgeber erlauben, die fähigkeitsbasierte Weiterentwicklung des Bundesheeres noch stärker mitzubestimmen, als dies bisher der Fall war, heißt es in den Vorbemerkungen.
Risikobild und Problemanalyse
Das im November 2020 erstellte Risikobild 2030 antizipierte bereits eine Verschlechterung der österreichischen Sicherheitslage in den nächsten zehn Jahren, was sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine bestätigt habe. Das aus dem Risikobild abgeleitete Streitkräfteprofil "Unser Heer" definiere hybride Bedrohungen ohne strategische Vorwarnzeiten und Angriffe auf einen EU-Mitgliedsstaat – woraus sich eine Beistandsverpflichtung für Österreich ergeben würde – als die relevantesten Risiken.
Die militärischen Kernfähigkeiten des Bundesheeres seien jedoch infolge jahrelanger budgetärer Unterdotierung drastisch eingeschränkt, wird im LV-Bericht bemängelt. Ab dem Jahr 1989 sei das Verteidigungsbudget von einem Ausgangswert von zumindest 1 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nahezu jährlich verringert worden und habe im Jahr 2015 mit 0,551 % des BIP seinen Tiefststand erreicht. Die Führung einer Schutzoperation gegen subkonventionelle Angriffe sei nur unter Inkaufnahme eines hohen Risikos möglich und das Bundesheer sei mit den aktuellen finanziellen und personellen Ressourcen nur zu einer ersten, aber nicht zu einer nachhaltigen Abwehr konventioneller Angriffe befähigt. Seit 2003 befinde man sich in einem ständigen Reform- bzw. Umgliederungsprozess ohne die notwendige Finanzierung, was eine ausreichende Ausstattung vor allem mit Ausrüstung und Infrastruktur verunmöglichte. Erschwerend komme die Reduktion des Personalstandes in den letzten 20 Jahren hinzu. Es sei absehbar, dass es in zukünftigen Konflikten gegen technologisch gleichwertige Gegner an Masse mangeln werde, was unter anderem durch die Nutzung unbemannter, automatisierter Systeme kompensiert werden müsse, um eine glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit sicherzustellen.
Besondere Bedrohungen ergäben sich durch den Einsatz von Drohnen bzw. durch von Künstlicher Intelligenz gelenkte Drohnenschwärme, die das Bundesheer weder mit den vorhandenen Mitteln der Fliegerabwehr noch mit der bodengebundenen Luftabwehr erfassen und bekämpfen könne. Außerdem wird im LV-Bericht auf die entscheidende Bedeutung von Cyber– und Informationskräften in zukünftigen Konflikten hingewiesen. Moderne Waffensysteme seien mit vernetzter Informationstechnologie ausgestattet, die im Einsatzfall auch beeinträchtigt oder ausgeschaltet werden könne. Die wesentlichen Merkmale des künftigen Gefechtsbildes seien Komplexität, Unsicherheit sowie eine hohe Agilität und Anpassungsfähigkeit der Akteure.
Militärische Ableitungen
Die im Verfassungsrang stehende Umfassende Landesverteidigung müsse als staatliche Kernaufgabe wieder an Bedeutung gewinnen und künftig glaubhaft und effizient umgesetzt werden, heißt es im LV-Bericht. Dazu gehörten die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung. Eine zunehmend konfrontative geopolitische Lage, ein vermehrtes Auftreten von transnationalem Extremismus bzw. Terrorismus sowie resilienzgefährdender Extremereignisse, eine disruptive Technologienentwicklung und Cyber-Angriffe machten eine Erhöhung der Resilienz des Staates unbedingt notwendig. Das Bundesheer habe im Sinne einer strategischen Reserve einen entscheidenden Beitrag dazu zu leisten, wozu auch die Teilnahme an internationalen Einsätzen etwa im Rahmen von EU und Vereinten Nationen zählten.
Um das Bundesheer dahingehend auf die Zukunft vorzubereiten und den Investitionsrückstand der letzten Jahrzehnte abzubauen, ist laut Bericht eine Anhebung des Verteidigungsbudgets auf 1 % bis 1,5 % des BIP erforderlich. Grundbefähigungen der Land- und Luftstreitkräfte sowie der Cyber- und Informationskräfte müssten sichergestellt werden. Ein Verzicht auf Teilstreitkräfte oder Waffengattungen wäre lediglich in einem Militärbündnis möglich, in dem gegenseitig Fähigkeiten verlässlich zur Verfügung gestellt werden. Zudem sei die Übungstätigkeit mit besonderem Augenmerk auf die Miliz zu intensivieren.
Aufgrund der geostrategischen Lage Österreichs stelle die Abwehr bewaffneter, vorwiegend subkonventionell bzw. hybrid agierender Kräfte, die prioritäre Aufgabe des Bundesheeres im Inland dar. Zusätzlich sei ein starkes Eskalationspotential religiös und politisch motivierter Terrororganisationen nicht auszuschließen. Das Bundesheer müsse daher schnell, flexibel und robust einsetzbar sein. Den Kern der Reaktionskräfte bildeten durchsetzungsfähige infanteristische Kampftruppen, Aufklärungskräfte und Spezialeinsatzkräfte sowie bei Bedarf mechanisierte Kräfte. Diese würden durch Luft-, Cyber- und Informationskräfte unterstützt. Zur Erhöhung der unmittelbaren Reaktionsfähigkeit seien auch Milizelemente mit höherem Bereitschaftsgrad in die Reaktionskräfte zu integrieren.
Strategische Perspektive und Aufbauplan
Der Wiederaufbau der Fähigkeiten des Bundesheeres erfolgt laut Bericht in Vierjahresschritten bis in das Jahr 2032 und darüber hinaus. Der Aufbauplan werde laufend evaluiert und im Rahmen des jährlich vorzulegenden LV-Berichts erforderlichenfalls angepasst. Die wesentlichsten Zielsetzungen umfassen unter anderem die Befüllung der gesamten Einsatzorganisation mit ausgebildetem Personal, die Ausrüstung mit modernem Gerät, rasch einsetzbare Reaktionskräfte, die technische Sicherstellung permanenter Führungsfähigkeit und die Verfügbarkeit eines permanenten Lagebilds. Die Herstellung der Nachtkampffähigkeit, die Gewährleistung einer militäreigenen sanitätsdienstlichen Versorgung und die Sicherstellung der Versorgungsselbstständigkeit von mindestens 14 Tagen zählen ebenfalls dazu. Die Investitionen im Aufbauplan des Bundesheeres bis 2032 sollen in drei Kernbereichen erfolgen: Verbesserung der Mobilität der Einsatzkräfte, Erhöhung des Schutzes und der Wirkung der Soldat:innen sowie Autarkie und Nachhaltigkeit zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft.
Hinsichtlich des Budgets erreicht der Anteil für die Landesverteidigung im Jahr 2023 1 % des BIP und soll bis 2028 schrittweise auf 1,5 % erhöht werden (unter Einberechnung der Pensionszahlungen). In den nächsten zehn Jahren sei mit dem Finanzministerium insgesamt ein Budgetmehrbedarf von 20,8 Mrd. € als Planungshorizont festgehalten worden. (Schluss) wit